Freiheit als Vermächtnis

Bern, 31.07.2017 - Rede von Bundesrat Ueli Maurer zum 1. August 2017, gehalten in Gluringen (VS), in Seegräben (ZH), Weiningen (TG), Elgg (ZH) und Regensdorf (ZH). Unter dem Titel „Freiheit als Vermächtnis“ geht es um den Geburtstag der Schweiz. Geburtstage sind einerseits ein Anlass für ein fröhliches Fest. Andererseits sind sie auch eine Gelegenheit, über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken.

Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger


Überall Spuren der Freiheit

Wir feiern heute den Geburtstag der Schweiz. Geburtstage sind einerseits ein Anlass für ein fröhliches Fest. Andererseits sind sie auch eine Gelegenheit, über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken.

Das ist nicht anders, wenn ein Land Geburtstag hat. Der 1. August soll darum auch ein Anstoss zum Nachdenken sein.

Manchmal ist es ja so, dass man gerade das Wichtigste im Alltag übersieht – weil wir glauben, es sei selbstverständlich. Ich habe immer wieder den Eindruck, in der Schweiz gehe es uns auch so, dass wir das Wichtigste übersehen, was dieses Land ausmacht: Die Freiheit.

Dabei haben die Freiheit und der Kampf für die Freiheit bei uns eine lange Geschichte. Ich denke dabei jetzt nicht nur an die Schlachten der alten Eidgenossen. Ich denke an alte Rechtsschriften, sogenannte Freiheitsbriefe. Darin hielten Dörfer, Städte und Talschaften gegenüber der Obrigkeit ihre Rechte minutiös fest. Oder ich denke an den Bundesbrief. Ein hochinteressantes Dokument, das nicht nur eine Beistandspflicht dokumentiert, sondern auch fremde Richter ausschliesst. Das heisst nichts anderes, als dass man sich ein eigenes Recht geben und dieses auch selbst durchsetzen will. Denn man wusste schon 1291: Wer Recht auslegen, sprechen und durchsetzen kann, der hat letztlich die Macht im Land. 

Seither geht es in der Geschichte unseres Landes immer um Freiheit. Unsere Vorfahren nahmen es ernst mit der Freiheit, sogar wenn es um Symbole ging. Dort wo ich jeden Tag zur Arbeit gehe, im Bernerhof, hat es über dem Eingang eine steinerne Krone. Das kam so:

Als ein deutscher Investor im 19. Jahrhundert neben dem Bundeshaus ein neues Hotel baute, wollte er es „Zur Krone“ nennen. Da gab man ihm zu verstehen, dieser Name komme hierzulande nicht so gut an, schon gar nicht neben dem Bundeshaus, in Nachbarschaft der Volksvertretung, dem Parlament. Der Investor änderte den Namen zum behäbigen „Bernerhof“. Aber der Steinmetz hatte seine Arbeit schon gemacht und die Krone in Stein gemeisselt.

Macht und Machtsymbole machen misstrauisch. Das zeigen auch das Zwanzgerli, das Zehnerli und das Foiferli: Dort trägt zwar eine junge hübsche Frau eine Krone. Aber in ihrem Diadem steht: Libertas. Die Botschaft ist klar: Bei uns trägt die Freiheit die Krone! Hier herrscht Freiheit!

Die Bedeutung der Freiheit

Wie wichtig die Freiheit bei uns ist, fällt ganz deutlich auf, wenn wir unser Staatssystem mit dem anderer Länder vergleichen.

Bei uns heisst es in der Verfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone … geben sich folgende Verfassung: …“

Lesen Sie einmal den Beginn des wichtigsten Vertragswerkes der EU, des Vertrages von Lissabon. Da tönt es ganz anderes, die Präambel lautet: „Seine Majestät der König der Belgier, der Präsident der Republik Bulgarien, der Präsident der Tschechischen Republik, Ihre Majestät die Königin von Dänemark …“

Und das Allerwichtigste: Unsere Verfassung haben wir uns selbst gegeben, wir, die Bürgerinnen und Bürger. Über den Vertrag von Lissabon stimmten in den meisten Ländern nur die Parlamente ab, nicht das Volk. Dafür mussten die Iren gleich zweimal abstimmen, weil ihr erstes Ergebnis den Regierenden nicht passte …

Oder nehmen wir den Brexit. Das war seit 1975 erst das dritte Mal, dass in Grossbritannien das Volk über eine Sachfrage abgestimmt hat. Ich habe nicht nachgezählt, wie viele Abstimmungen wir in dieser Zeit hatten. Allerdings muss man den Briten zugestehen: Sie setzen den Volksentscheid um, obschon die Regierung auf ein anderes Ergebnis hoffte. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber wenn ich sehe, wie eine Mehrheit in Bern mit dem Volkswillen umgeht, dann würde uns etwas mehr britisches Demokratieverständnis wohl gut tun …

Die Freiheit durchdringt unsere ganze Ordnung, seit jeher: Wenn möglich, verhindern wir Machtballungen und Zentralisierungen. Deshalb haben wir unseren bewährten Föderalismus. Wir wollen die Macht beim Volk behalten, deshalb haben wir die direkte Demokratie. Wir wollen einen möglichst schlanken Staat mit viel gesundem Menschenverstand, deshalb haben wir das Milizsystem von der Schulpflege bis zur Armee.

Das Produkt dieser Freiheit ist der Erfolg der Schweiz. Und da dürfen wir bei aller Bescheidenheit sagen: Was diese kleine Schweiz, ohne Bodenschätze, ohne Meerzugang, dafür mit schwieriger Topographie, alles leistet, das ist schon eindrücklich. Wir gehören fast überall zur Spitze. Wir gehören zu den reichsten Ländern der Welt, Schweizer Qualität ist weltberühmt, wir sind in vielen Bereichen bahnbrechend hinsichtlich Innovation und Forschung, Schweizer Unternehmen gehören in vielen Branchen zu den Besten. In vielen Ratings und Ranglisten liegt die Schweiz weit vorne. Zum Beispiel liegt gemäss aktuellstem Bericht der Weltorganisation für geistiges Eigentum die Schweiz bei den geschützten Patenten auf Platz 10.[1] Und die Rangliste erfolgt nach absoluten Zahlen, nicht relativ zur Bevölkerung! 

Die Freiheit als Erbe

Unsere Freiheit ist ein Vermächtnis, ein Erbe. Frühere Generationen haben sie uns weitergegeben. Oft unter grössten Anstrengungen und unter Gefahren.

Nun kann man mit einem Erbe dreierlei tun: Man kann es verprassen, man kann es verwalten und man kann es allenfalls sogar mehren. Diese Frage stellt sich uns ganz konkret: Was tun wir mit unserem Erbe? Was geben wir den nächsten Generationen weiter?

Es ist unser Glück, dass bisher keine der Generationen vor uns das Erbe der Freiheit verprasst hat. Viele Generationen haben es sogar gemehrt, etwa mit der Bundesverfassung von 1848 oder mit der Einführung des fakultativen Referendums in der Bundesverfassung von 1874.

Dahinter stehen Mut und grosse Opfer unserer Vorfahren. Denn Freiheit ist nie eine Selbstverständlichkeit. Sie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Immer wieder wird sie in Frage gestellt und bedroht, von aussen wie von innen.

Wenn wir kurz zurückblicken: Vor gut 200 Jahren konnten wir uns mit einigem Geschick und auch recht viel Glück gerade noch rechtzeitig aus der Konkursmasse des napoleonischen Reiches befreien. Dann drohte mit dem Sonderbundskrieg 1847 die Selbstzerfleischung und der Einmarsch Österreich-Ungarns. 1856/57 drohte ein Konflikt mit Preussen wegen Neuenburg. Nach der Gründung des Königreiches Italiens 1861 und des Deutschen Reiches 1871 sah Europa ganz anders aus: Bis dahin war die Schweiz ein Kleinstaat, wie es viele gab in Europa. Als dann die italienischen und deutschen Kleinstaaten verschwanden und wir im Norden und im Süden plötzlich neue Grossmächte als Nachbarn hatten, zweifelten viele an der Überlebensfähigkeit der Schweiz. Während des Ersten Weltkrieges war dann diese Frage nochmals besonders aktuell.

Dann kamen die dunklen Dreissigerjahre: Ich erinnere mich gut an die Anlässe, an welchen ich als VBS-Chef Soldaten der Aktivdienstgeneration geehrt habe.

Aber auch in unserer Zeit stellt sich immer wieder die Frage: Haben wir die Kraft, unser Erbe zu erhalten? Ich denke zum Beispiel an die Abstimmung über den EWR von 1992 und die EU-Diskussion, die seither nie mehr abgerissen ist.

Oder ich denke an die Landesverteidigung und die Sicherheit. Heute vergessen wir manchmal, dass wir die Staatsmaxime der bewaffneten Neutralität haben. Nicht zuletzt dank ihr sind wir heil durch schwierige Zeiten gekommen. In den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer ist das alles etwas in Vergessenheit geraten und die Armee wurde vernachlässigt. Auch der wichtigste Pfeiler unserer Selbstverteidigung, das Milizprinzip, wurde immer mehr ausgehöhlt.

Wenn ich mir heute die Welt ansehe, die immer unberechenbarer wird, bin ich froh, dass wir immer noch unsere bewaffnete Neutralität haben. Aber ich bin etwas beunruhigt, ob wir der Armee auch die Mittel geben, um sich auf die neuen Bedrohungen vorbereiten zu können.

Wie geht es weiter?

Unsere Freiheit ist ein grosses Privileg. Aber ich meine, sie ist auch eine Verpflichtung. Wir können doch nicht die Früchte der Freiheit geniessen – die Lebensqualität, den Wohlstand – und der nächsten Generation dieses wertvolle Erbe nicht weitergeben. Könnten wir noch in den Spiegel schauen, wenn wir das Erbe der Vorfahren verprassen und die Letzten sind, die die Freiheit geniessen?

Leider ist die Antwort nicht so klar, wie man vielleicht denken könnte oder hoffen würde. Die Schweiz hat nicht nur eine alte Tradition, die Freiheit zu verteidigen. Es gibt in der Schweiz auch eine Tradition der Bequemlichkeit.

Freiheit beruht auf Selbstverantwortung. Und Selbstverantwortung ist anstrengend. Da kommt man immer wieder in Versuchung, auf etwas Freiheit zu verzichten und dafür eine scheinbare Sicherheit zu erhalten, „jetzt schaut ja jemand für mich“. So geben wir Bürger immer wieder Freiheit an den Staat ab. Oder die Gemeinden geben Kompetenzen an den Kanton ab und der Kanton an den Bund. Und der Bund unterschreibt internationale Verträge. Denn wenn etwas international geregelt ist, dann meint man, nicht mehr selbst die ganze Verantwortung zu tragen.

Es ist aber nicht nur Bequemlichkeit, die die Freiheit gefährdet. Es gibt in unserem Lande auch eine Tradition der eigenen Geringschätzung, man könnte auch etwas plakativer von Minderwertigkeitskomplex sprechen. Diesen Hang zur Selbstaufgabe finden wir oft bei Intellektuellen, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben. Oder auch bei Politikern.

Sie leiden an unserem Kleinstaatendasein. Denn wir Schweizer glauben nicht an eine weltgeschichtliche Mission. Wir sind neutral und betreiben keine Machtpolitik. Nationaler Glanz, nationale Grösse, überhöhter Pathos fehlen uns. Der eine oder andere leidet darunter, „nicht dazuzugehören“, „nicht dabei zu sein“, in der grossen Welt keine wichtige Rolle zu spielen.

Karl Schmid, ein legendärer Schweizer Literaturforscher und Professor an der ETH Zürich, hat diese Haltung bei verschiedenen Schriftstellern bis zurück ins 19. Jahrhundert in einem berühmten Buch zusammengestellt. Der Titel des Buches wurde zum geflügelten Wort: Unbehagen im Kleinstaat.

Dieses Unbehagen im Kleinstaat treffen wir immer wieder an: In der Politik, in der Diplomatie, in der Verwaltung, wenn die Medien über die Schweiz berichten und unsere Fehler grossschreiben, unsere vielen Stärken kleinschreiben und unsere Besonderheiten als altmodisch bezeichnen.

Die Schweiz schwankt also immer zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Zum Glück hat sich bis jetzt immer der Wille zur Selbstbehauptung durchgesetzt. Sonst könnten wir heute nicht hier in Freiheit den Geburtstag der Schweiz feiern.

Aber letztlich steht jede Generation immer vor der gleichen Schicksalsfrage: Haben wir die Kraft und den Willen, unsere Freiheit denen weiterzugeben, die nach uns kommen?

Das heisst, dass wir kritisch sein müssen, wenn man unsere bewährte Staatsordnung, unsere Freiheit belächelt oder als altmodisch und überholt erklärt. Sind wir vorsichtig, wenn man uns eine schöne, neue Welt verkaufen will; ein neues Zeitalter, in der die Zeit für Kleinstaaten wie die Schweiz abgelaufen sei, weil jetzt alles viel besser auf überstaatlicher Ebene organisiert werde.

In diesem Zusammenhang denke ich an ein Märchen. Das Märchen vom Kaiser und den neuen Kleidern. Sie kennen das sicher alle: Scharlatane verkaufen einem modesüchtigen Kaiser gegen teures Geld Kleider, von denen sie behaupten, die edlen Stoffe seien so leicht, dass man sie beim Tragen gar nicht spüre. Und das ganz Besondere sei: Nur kluge Leute können diese wunderbaren Stoffe überhaupt sehen, die Dummen dagegen nicht. Nun tun die Scharlatane so, als schneiderten sie dem Kaiser eine ganze neue Garderobe. Der Kaiser schickt zuerst einmal einen Minister vorbei; der sieht natürlich nichts, aber weil er nicht als dumm dastehen möchte, geht er zurück und berichtet von prächtigen Kleidern, die da gewoben und genäht würden. So führen die Scharlatane dann den Kaiser zur Anprobe, sie helfen ihm in Mäntel und Roben – angeblich. In Wahrheit bringen sie ihm nichts und streichen einfach das Geld ein. Aber weil alle klug sein wollen, loben alle die grossartige Schneiderarbeit. Der Kaiser lobt. Seine Berater loben. Der Hofstaat lobt. Alle überbieten sich mit Lob. Natürlich sieht niemand etwas, es ist ja nichts da, es ist alles nur Schwindel. Aber das getraut sich niemand zu sagen, weder der Kaiser selbst noch seine Entourage. Und auch als der Kaiser durch die Strassen der Stadt promeniert, klatschen alle vornehmen Bürger Beifall. Denn eben: Niemand möchte als dumm gelten. Bis ein kleines Kind ruft: Der Kaiser ist ja nackt!

Jemand muss den Mut haben, auf die Wahrheit hinzuweisen, auf die nackten Tatsachen. Auch auf die Gefahr hin, dass er als dumm gelten wird, als ungebildet, als hinterwäldlerisch, als populistisch … In unserem Land kann nur jemand diese wichtige Rolle spielen, die das Kind im Märchen spielt: Das Volk. Also Sie alle! Rufen Sie also ab und zu kritisch dazwischen, wenn alles zu schön tönt, um wahr zu sein.

[1] http://www.handelszeitung.ch/invest/chrangliste-der-eingetragenen-patente-schweiz-auf-rang-10


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