«Ein Land, das stolz auf seine Traditionen ist und seine Mythen achtet»

Bern, 01.08.2017 - Ansprache von Bundesrat Guy Parmelin Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) anlässlich des Nationalfeiertags 2017.

Sehr geehrte Eidgenossen
Meine Damen und Herren

Für uns ist der 1. August mehr als ein Nationalfeiertag: Es ist ein besonderes Ereignis von uns heiliger Dimension. In der Schweiz nutzen wir diesen Tag, um für die Zeit einer Festansprache zusammenzukommen und über die historischen Fundamente unseres Landes nachzudenken.

Ich mache da keine Ausnahme. Ich werde jedoch diese Fundamente nicht nur unter dem Aspekt der Erneuerung des Beistandsgelübdes betrachten, das zwischen den Kantonen Uri, Schwyz und Unterwalden vor langer Zeit besiegelt wurde.

Wir kommen oft auf dieses Bündnis und die Rütliwiese zurück, deren Abbildung sogar die Wand des Nationalratssaales schmückt. Aber die Schweiz ist nicht nur durch einen Schwur entstanden, so feierlich und ehrlich er auch gewesen sein mag. Die Schweiz wurde mit Geduld geschmiedet, Schritt für Schritt geprägt durch Ereignisse – konfliktgeladene und friedliche –, die nach und nach aus unserer Eidgenossenschaft das machten, was sie heute ist. Erst kürzlich hat uns die Wahl der Gemeinde Moutier, zum Kanton Jura zu wechseln, daran erinnert, dass trotz den Empfindlichkeiten, welche diese Abstimmung ausgelöst hat, nicht unsere ganze gemeinsame Geschichte in dieser Nacht der Nächte geschrieben wurde. Der Kanton Jura beispielsweise erlangte erst vor knapp 40 Jahren seine Souveränität.

Jenseits der herzlich patriotischen und friedlichen Vorkehrungen, die traditionell unseren Nationalfeiertag prägen, ist er zunächst eine Gelegenheit, um Klischees zu widerlegen sowie politische Auseinandersetzungen und Einflussnahmen zu verhindern. Der 1. August ist ein Moment, der von Feierlichkeiten und Romantik, von Einfachheit und Emotionen geprägt ist.

Es handelt sich um einen besonderen Moment, wie ich bereits hervorgehoben habe, währendem wir die grossen Mythen unserer Geschichte beschwören, um die Natur des Geistes, der unser Land festigt und uns ihm näher bringt, zu verstehen versuchen.

Alte und moderne Mythen verleihen diesem Geist Stolz (zum Beispiel durch das Bild von Wilhelm Tell), Mut (Winkelried), Menschlichkeit (Henry Dunant), Kampfgeist (Roger Federer) und Geduld. Eine Fähigkeit, die unseren Mitbürgerinnen und -bürgern Beharrlichkeit, Ausdauer und Beständigkeit bringt.

Diese Tugenden kann ich keinem besser zuschreiben als Niklaus von Flüe, dessen 600. Geburtstag wir dieses Jahr feiern. Befassen wir uns aber noch mit dem Leben und dem Werk von Niklaus von Flüe, einer herausragenden Schweizer Persönlichkeit, die in der Eingangshalle des Bundeshauses einen Platz erhielt? Wer war dieser Mann, der als unser Nationalheiliger gilt?

Bauer, liebender Ehemann und Vater zahlreicher Nachkommen, Soldat, Beamter und Pilger, der aufgrund einer mystischen Vision zum Einsiedler wurde. «Bruder Klaus», wie er liebevoll genannt wird, wird als der Retter der nationalen Einheit betrachtet. Was brachte ihm diesen Status ein? Als die Kantone Freiburg und Solothurn zur Eidgenossenschaft stiessen und die Schweizerische Eidgenossenschaft vervollständigten, gab es starke Spannungen zwischen städtischen und ländlichen Kantonen. Auch wenn die Geschichte im Laufe der Zeit sicher ausgeschmückt wurde, schreibt man Niklaus von Flüe zu, die Situation beruhigt, die Eidgenossenschaft geeint und ihr einen Bürgerkrieg erspart und so das Heimatland gerettet zu haben.

Doch über welche Anerkennung verfügte der Vermittler, um ein solches Ansehen bei seinen Zeitgenossen, insbesondere offiziellen Besuchern, die ihn um Rat fragten, zu geniessen? Niklaus von Flüe pries den Bund, welchen er durch den Parteigeist, die Verlockung des Geldes und die Kriegstreiberei bedroht sah. Waffen, vertrat er die Meinung, sollten nur zum Gegenangriff und zur Verteidigung der Freiheit eingesetzt werden.

Bruder Klaus bringt eine Tugend zum Ausdruck, die für unsere Zeitgenossen schwer verständlich ist: Denn der Weise misstraut von Natur aus der Anwendung von Gewalt, dem Streben nach Macht und dem Durst nach Gold. Ohne diese Tugend wäre er kein Weiser. Hüten wir uns davor, seiner Botschaft mit Ironie zu begegnen. Denn in unserer aktuellen Welt findet sie kristallklare Resonanz: Eine wettbewerbsfähige und daher individualistischere Welt, die sich schwer tut, nicht nur nach dem äusseren Schein zu beurteilen und sich abseits der gängigen Pfade zu bewegen. Eine Welt, die Gewalt und brutalen Machtverhältnissen ausgesetzt ist und sich der Verantwortung entzieht. Auf solchem Boden trägt das Wort von Niklaus von Flüe die besten Früchte.

Dieser durch den Nationalfeiertag gegebene Exkurs ist daher willkommen, um eine Pause zu machen und über unser gemeinsames Schicksal nachzudenken: Wie haben wir Schweizer als bescheidenes Volk zwischen Alpen und Rhein es geschafft – und dies gemäss einer kürzlich durchgeführten amerikanischen Umfrage bei 20'000 Personen in 36 Ländern – , aus unserem Land eines der attraktivsten der Welt zu machen? Gemäss der Weltorganisation für geistiges Eigentum sind wir zudem das innovativste Land. Ein sicheres Land, dessen Wirtschaft floriert, dessen Institutionen stabil sind, dessen öffentliche Hand effizient und dessen Infrastruktur zuverlässig ist. Ein Land, in welchem es keine Korruption gibt, das Gesundheitssystem – obwohl kostspielig – erstklassig ist. Ein Land, in welchem es gut leben lässt, auch wenn es stets möglich und erstrebenswert ist, sich zu verbessern.

Dies festzustellen, die Persönlichkeiten unseres Landes stets vor Augen, zeigt, dass die Schweiz den Weg in die Moderne gefunden hat und gleichzeitig ihren Wurzeln treu geblieben ist. Wir klammern uns jedoch nicht an unsere Geschichte: Wir leben in einem Land, das stolz auf seine Traditionen ist, seine Mythen achtet, und an Idealen festhält, die als Garant für diesen Bund gelten, der unserem Nationalheiligen wichtig war.

Auch wenn uns das Beispiel von Niklaus von Flüe heute nicht nur veraltet, sondern in vieler Hinsicht sagenumwoben scheint – zu schön, um wahr zu sein, würden wir sagen – müssen wir unsere Skepsis überwinden. Sei es Erfindung oder Geschichte, eine grosse Persönlichkeit muss vor allem aufgrund ihrer inspirierenden Rolle gefeiert werden. Im Übrigen stützen sich alle Länder auf ihre Gründerväter: Politische, kulturelle, militärstrategische, humanistische Persönlichkeiten und Wohltäter sind da, um uns in unserem Handeln den richtigen Weg zu weisen.

Entscheidend ist offensichtlich nicht nur der Mythos, denn wir kennen alle Spannungsverhältnisse. Die Schweiz ist das Ergebnis von verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen, sozialen Herkünften, beruflichen Kompetenzen, Familienverhältnissen, politischen Meinungen und Wohnverhältnissen. Um sich davon zu überzeugen, reicht es, den Auftakt zur Wahl des zukünftigen Bundesrats zu verfolgen... Auch unser Land birgt vieles was uns auseinanderdividieren könnte, und doch bleiben wir vereint. Trotz des seinerzeit erfolgreichen Slogans eines Künstlers: Die Schweiz gibt es tatsächlich!

Ich will darin nicht das Ergebnis eines Wunders sehen. Der Zusammenhalt unseres Landes ist vielmehr das Ergebnis eines gemeinsamen Strebens und einer Konsens fördernden Organisationsform. Denn der Konsens, anhand der direkten Demokratie, ist der wahre Hüter des Gleichgewichts. Er mildert Frustration und Groll, welche eine absolute Mehrheit verursachen kann. Durch die Errichtung eines partizipativen und ausgehandelten Entscheidungsprozesses in der Politik wird vermieden, dass der Sieger keinen allzu stolzen Sieg feiert und der Verlierer keine allzu kränkende Niederlage erfährt. Dieses System kann von ausländischen Betrachtern als schwerfällig erachtet werden. Dennoch ermöglicht es genau dieses System, viele politische und soziale Konflikte zu entschärfen, die mehrere unserer Nachbarstaaten kennen.

Die Schweiz, wie es im Vorwort ihrer Bundesverfassung steht, ist ein Bündnis eingegangen, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken.

In einem Land zu leben, das diese Werte nicht nur zelebriert, sondern auch respektiert, ist ein grosses Glück. Wir werden uns dessen bei unseren alltäglichen Tätigkeiten und anhand dem, was in der Welt geschieht, bewusst. Im Grunde hat die Erinnerung an Niklaus von Flüe und andere historische Persönlichkeiten zum Ziel, uns wieder unsere Verantwortlichkeiten als Bürgerinnen und Bürger vor Augen zu führen: Für andere da zu sein, Vorbild zu sein, offen zu sein, frei zu entscheiden, neugierig auf alles zu sein, entsprechend dem Vorbild von Bruder Klaus.

Diese Eigenschaften sind besonders wichtig, wenn uns die Umstände zweifeln und resignieren lassen oder wir es mit der Angst zu tun bekommen. Von den grössten Unglücken unserer Zeit verschont und manchmal vom Rückzug in Versuchung geführt, hat sich die Schweiz jedoch nie abgeschottet. Zwar geschützt, muss sie doch weltoffen bleiben, wie es unser bescheidener Einsiedler und Nationalheiliger war.

Meine Damen und Herren, ich bin froh, Sie an ein Vorbild von Weisheit und Engagement, von Überzeugung und Vertrauen erinnert zu haben. Es sind diese Eigenschaften, die es ermöglichen, mit Weitsicht, Gelassenheit und Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Das ist alles, was ich mir für die Schweiz und die Menschen, die sie ausmachen, wünsche.

Es lebe die Schweiz!


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