Wilhelm Tell, die Digitalisierung und die Schweiz von heute

Bern, 31.07.2017 - Bundesfeier in Eschenz, Kanton Thurgau - Ansprache von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF

Der 1. August hat zwei Seiten: Er bringt Feststimmung ins Land, ist aber auch ein Tag voller Ansprachen darüber, wo wir herkommen, wo wir stehen und wie die Reise weitergeht. Meistens sind solche Reden viel zu lang, die Bänke viel zu hart und der Bratwurstduft viel zu verlockend.

Das vergessen die Redner leicht, wenn sie ins Feuer kommen. Aber keine Angst, ich werde Mass halten. Gerade wir Bundesräte sollten wissen, dass in der Schweiz das Volk das letzte Wort hat und nicht der da vorne.

Am Nationalfeiertag sind Ernst und Freude also nahe beisammen. Der guteidgenössische Kompromiss will, dass zuerst die Ansprachen kommen, dann das Feuerwerk. Und Kompromisse gehören zu unserer politischen Kultur.

Nur: Was genau ist denn diese „politische Kultur“? Was ist überhaupt Kultur? Spontan würde man wohl sagen, Kultur sei das, was natürlich wachse – das, was wie von selber zu einem gehöre – also das, was von tief innen komme.

Aber das ist zu einfach. Denn Kultur ist nichts Natürliches. Kultur ist das, was eben gerade nicht aus sich heraus gewachsen ist. Kultur ist das, was man zuerst erringen muss, bevor es zur Geltung kommen kann. Kultivieren heisst mehr als einfach nur abwarten.

Die Agri-Kultur zum Beispiel hat damit angefangen, dass man dem Wildland den Acker abgerungen hat. All die Felder sind nicht einfach von selber entstanden. Das ist harte Arbeit. Nicht das Sumpfgebiet oder die Geröllhalde sind Kultur, sondern das, was unsere Vorfahren daraus gemacht haben! 

Und die Politik-Kultur der Schweiz ist letztlich nichts anderes als der gemeinsame Wille, unser Land trotz seinen Unterschieden zusammen zu halten und erfolgreich zu entwickeln. Ein Land, das keine natürlichen Grenzen hat, keine gemeinsame Sprache oder Religion, aber gerade deswegen eine faszinierende Vielfalt.

Es lohnt sich, einen Moment lang darüber nachzudenken, weshalb eigentlich Walliser und Oberaargauer, Thurgauer und Ticinesi zusammengehören wollen und sich als Schweizerinnen und Schweizer verstehen, obwohl Alpenketten dazwischen liegen. Denn unser Land ist ja nicht aus einem Guss entstanden, sondern nach und nach gewachsen.

Es gibt die Schweiz nicht wegen einer besonderen inneren Nähe. Sondern, weil die heutigen Kantone nicht zu Savoyen gehören wollten oder nicht zur Lombardei, nicht zu Bayern - schon gar nicht zu den Habsburgern. Die Schweiz hat sich gefunden, weil die Kantone nicht zu einem grossen Reich gehören, sondern frei sein wollten.1291 war nur der Anfang, Bern zum Beispiel ist 1353 dazu gekommen, das Tessin, Ihr Kanton Thurgau und die Waadt 1803, Sankt Gallen ebenfalls, Wallis und Genf erst 1815. 

Die Schweiz hat sich also weg von den grossen Machtzentren entwickelt. Und so ist auch Teil unserer Kultur, dass 15 Kantone Grenzkantone sind.

Das erklärt auch, weshalb die Schweizerinnen und Schweizer so skeptisch gegenüber Macht in einer Hand sind. Sie wollen keine Könige und keine allmächtigen Herrscher. Das war schon 1291 so, als sich Gessler als Chef im Land aufspielen wollte. Das ging den Urschweizern dann doch zu weit, deshalb hat ihn der Wilhelm Tell in der hohlen Gasse erschossen und so sind vor 726 Jahren aus ein paar Abtrünnigen die ersten Eidgenossen geworden. Sagt man. Und deshalb ist der 1. August bis heute eng mit Wilhelm Tell verknüpft.

Seither ist viel passiert, hier im Land und rundherum. Also habe ich mich gefragt, ob der Tell auf seiner Wolke oben mitbekommen hat, wie es heute bei uns unten so aussieht. Ich fand, es interessiere ihn vielleicht, aus erster Hand vom Bundesrat darüber informiert zu werden.

Also habe ich ihm eine E-Mail geschickt. An willhelm.tell@swisscloud.he – „he“ für Heaven. Ich habe ihm geschrieben, wie sein Geist immer noch lebt. Wie die Schweiz die Staatsmacht ganz in seinem Sinn raffiniert aufgeteilt und den Föderalismus erfunden hat. Dass wir keinen Gessler haben, sondern sieben Mitglieder eines Rates, die bei jedem Entscheid eine tragfähige Lösung finden müssen. Dass es die direkte Demokratie uns Bundesräten bewusst nicht leicht macht. Denn selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht übermütig werden. Das würde ihm gefallen.

Von der Erfolgsstory der Schweiz habe ich ihm natürlich geschrieben, von der rekordtiefen Arbeitslosigkeit, vom vergleichsweise einzigartigen Wohlstand und dass wir Güter in alle Welt exportieren. Und wie gefährlich es ist, wenn man sich ans Gutgehen gewöhnt und meint, es sei auf ewig in Stein gemeisselt.

Wie viel passiert ist, und wie schnell es immer weitergeht. Von der Erfindung der Maschinen, der Fliessbänder und des Computers bis zur Digitalisierung, in der wir schon mit einem Bein mittendrin stehen, während das andere Bein noch Halt sucht. 

Kurz: Ich habe ihm geschrieben, was Bundesräte zum 1. August sonst halt so sagen...

Es wurde eine lange Mail. Doch kaum hatte ich auf „Senden“ gedrückt, kam die Fehlermeldung. Empfänger unbekannt, falsche Cloud. Der Tell wird also nicht erfahren, wie hervorragend die Schweiz trotz aller Schwierigkeiten dasteht und dass die Habsburger heute eine Vignette ans Visier kleben müssen, wenn sie durch die hohle Gasse wollen. Dass die Eidgenossenschaft mittlerweile 8 Millionen Menschen zählt und dass wir nicht nur wach sein, sondern auch wachsen müssen, damit alle einen Job haben.

Und natürlich auch, dass wir mit den Nachbarn in Frieden leben. Dass wir mit der EU einen ganzen Kranz von Verträgen abgeschlossen haben, die für unseren Wohlstand entscheidend sind. Dass wir diesen Weg dezidiert weitergehen wollen, denn es ist der unabhängige und souveräne Weg, der uns mit unserem wichtigsten Handelspartner auf Augenhöhe verbindet. 

Sogar von meiner Reise nach Russland, Indonesien, Saudi-Arabien und der USA hätte ich ihm erzählt. Das war im Juli, mit dem Ziel, unser internationales Handlungsnetz noch enger zu knüpfen. Wie jede Reise hat mir auch diese vor Augen geführt, wie viel Elend auf der Welt herrscht – und wie glücklich wir uns schätzen müssen, dass es uns derart gut geht. Das alles habe ich geschrieben. Nur wird mir Tell leider nicht antworten können, weil er meine E-Mail ja nicht bekommen hat. Es gibt also keine Tipps von oben. Wir müssen ohne seinen Rat zu Gange kommen.

Und so will ich heute drei Punkte unterstreichen, die auch im Mail an Tell vorgekommen wären. Nehmen Sie sie mit und denken Sie kurz darüber nach, bevor Sie nach der Bratwurst und dem Feuerwerk heute Abend das Nachttischlämpchen ausknipsen. Es ist die Mühe wert.

1. Erfolg ist ein fragiles Gut.

Es geht uns gut. Es geht uns gut, weil wir es gewohnt sind, die Hausaufgaben selber zu machen. Denn niemand macht sie für uns, weil alle anderen selber noch grössere eigene Probleme zu bewältigen haben oder uns als Konkurrenten auf dem Weltmarkt überholen wollen. Die Schweiz ist nun einmal ein David und die Grossmächte der Goliath. Das beginnt schon im Kleinen: Niemand lernt unsere Dialekte, nur um mit uns geschäften zu können. Niemand zahlt mehr, nur weil der Franken so solid ist. Wir müssen uns also anpassen und uns mit der Realität auseinandersetzen.

So weiss ich, dass hier in der Region viele unter dem Einkaufstourismus und dem Onlinehandel leiden und dass das einen beträchtlichen Teil des Detailhandels auffrisst. Dass man hofft, der Bundesrat bereite dem bald ein Ende. Und Sie wissen wahrscheinlich, dass der Bundesrat nur beschränkte Mittel hat, um hier einzugreifen: wir können den Menschen nicht vorschreiben, wo sie einkaufen. Aber was wir tun können, machen wir auch: Zölle für den Versandhandel, Erleichterungen bei den Parallelimporten und möglichst viel Freiraum für Unternehmen und Konsumenten. Und gegen die Anpassung der Ladenöffnungszeiten protestieren ja nicht unsere Nachbarn, sondern politische Kräfte im Inland. 

Umso höher achte ich, wie sich die Schweizer Grenzkantone gegen die Widrigkeiten behaupten. Dass sie nicht über Nachteile klagen, sondern dort wachsen, wo wir führend sind. Kurz: wir müssen immer besser sein, wachsamer und flexibler. Die gute Nachricht ist: Wir können es, wir beweisen es jeden Tag und wir sind gut gerüstet.

2. Demokratie heisst Mitverantwortung aller für das Ganze.

Mitverantwortung für das Ganze heisst mehr, als nur von Zeit zu Zeit abstimmen zu gehen.
Es heisst auch, sich zu engagieren. Viele wichtige Leistungen werden in der Schweiz ehrenamtlich erbracht. Der Milizgedanke ist die Frischluftzufuhr für unser System. Wenn alle überall mitmachen, entsteht Nähe und gegenseitiges Verständnis. Demokratie ist nicht Mathematik. Eine Niederlage heisst nicht, dass Minderheiten überrollt werden. Nein, Demokratie bedeutet auch, dass stets alle integriert bleiben und vollwertig zu ihrem Recht kommen. So gut die Schweiz das auch macht, wir dürfen nie nachlassen, es noch besser zu machen. Kurz: Verantwortung ist kein Wanderpokal.

3. Die Schweiz war schon immer offen für Neues.

Der Erfolg der Schweiz war stets an ihre Fähigkeit geknüpft, grosse Veränderungen früh zu erkennen, sie zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Sonst wären wir nicht Innovationsweltmeister. Brown oder Boveri, Maggi, Nestlé oder Hayek sind nicht Urschweizer - Shaqiri, Podladtchikov oder Wawrinka auch nicht. Aber sie haben uns weiter gebracht.

Wir haben bisher alle industriellen Umbrüche gemeistert und wir werden auch die nächste meistern, also die Digitalisierung. Natürlich wird sie viele Berufsbilder verändern. Aber sie ist auch voller Chancen. Und darauf konzentriert sich der Bundesrat und erleichtert den Ein- und Umstieg möglichst vieler in die neue Welt.

Und wer weiss, vielleicht verbindet uns die Digitalisierung eines Tages doch noch mit der Cloud, von der Wilhelm Tell auf uns herabblickt. Dann werde ich ihm schreiben und berichten, wie wir den Rank geschafft haben. Und natürlich bin ich gespannt auf seine Antwort. Aber lesen Sie sie dann gleich selber. Ich werde Sie alle in den Mailwechsel einkopieren.

Danke.


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