Vom Unterschied zwischen «anders sein» und «anders machen»

Rütli, 01.08.2017 - 1. August-Ansprache von Bundeskanzler Walter Thurnherr auf dem Rütli; 1. August 2017 Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Damen und Herren, 1. August-Reden sind schwierige Ansprachen. Denn es geht nicht um ein konkretes Problem, das einer Lösung harrt: Wie ein Tunnel finanziert werden kann. Wann eine AHV reformiert werden soll. Oder ob eine Ex-Miss Schweiz die Arena moderieren darf. Noch geht es um eine Analyse, bei der man die Zuhörer mit Statistiken, Kennziffern und Powerpoint-Präsentationen erschlagen kann. Es geht nicht um eine Abstimmung, die ansteht. Und es geht auch nicht um eine globale Herausforderung, über die sich trefflich unverbindlich philosophieren lässt. Es geht um uns selbst. Und wer redet schon gern über sich selbst!

Ich persönlich - das möchte ich entschuldigend gleich zu Beginn einschieben - war in meiner Jugend einer Überdosis 1. August-Ansprachen ausgesetzt. Im Nachhinein frage ich mich, ob das Fest bei uns im Dorf jährlich zwei oder drei Mal gefeiert worden ist. Es waren auch gute Reden darunter. Andere aber waren derart missraten, dass man unweigerlich in Gedanken zur Bratwurst abschweifte, welche die wartende Menge für das geduldige Zuhören belohnen sollte. Viele Jahre später las ich bei Upton Sinclair den Satz: "I aimed at the public's heart, and by accident I hit it in the stomach" (Ich zielte auf das Herz des Publikums - aber aus Versehen schlug ich ihm auf den Magen). Und ich war mir sicher, der war an denselben Reden dabei wie ich.

Hier auf dem Rütli wurde schon viel Brillantes verlesen. Von Guisan und von von Matt und ab und zu von einem Bundesrat. Aber was haben wir am 1. August auf unseren Gemeinde-, Schul- und Kirchenplätzen jeweils für schwerstsentimentales Einst-Weh anhören müssen. Welch stereotypen, zur Schau gestellten Schweiz-Schmerz ausgehalten. Was haben wir uns aufgeregt über selbstgefällige Verkürzungen, die mit Patriotismus verwechselt werden, und gelangweilt über Reden gerammelt voller Füllsätze. Ein einmaliges Schauspiel, oft rührig, feierlich, manchmal klug und manchmal peinlich. Und immer wieder um die Frage kreisend: „Wer sind wir? Und warum genau sind wir anders als die andern? Und wer redet schon gern und gut und ehrlich über sich selber? Und genau deshalb sind 1. August-Reden schwierige Ansprachen.

Wenn es um uns selbst geht, glauben wir lieber anderen: Es braucht nur das WEF oder eine internationale Organisation eine Rangliste zu veröffentlichen, auf der die Schweiz zuoberst steht, und schon geht es uns merklich besser. Und sobald ein ausländischer Politiker oder Beamter eine schweizkritische Bemerkung macht, selbst wenn sie nur mittelmässig gescheit daherkommt, so findet sich bestimmt eine Schweizer Zeitung, die daraus einen Titel mit Ausrufezeichen zimmert, damit wir kollektiv und reuig Busse tun.

Wenn es um uns selbst geht, sind wir auch nicht mehr so sicher: Parallel zum Börsenkurs und BIP-Wachstum scheint unser Selbstbewusstsein Höhen und Tiefen zu durchlaufen, ohne dass wir uns selbst verändert hätten. Bleiben die Wachstumszahlen unten, so beichten wir uns gegenseitig wie in einer nationalen Therapiegruppe unsere angeblichen Fehler. Ist die Konjunktur oben, so fühlen wir uns beinahe genetisch besser als alle andern, nichts scheint unser Glück und unseren Wohlstand gefährden zu können. Und fast tröstend ist der Umstand, dass Herbert Lüthy, der Historiker, bereits 1961 die Beobachtung machte:

„Die Zeit liegt nicht allzu weit zurück, in der die Schweizer es liebten, der Welt ihre Einrichtungen und Traditionen mit jenem Brustton der Überzeugung zu erklären, als müssten wir den anderen die rechte Lebensart beibringen: wenn sie nur auf uns hören würden, es stünde besser um die Welt! Seit anderthalb Jahrzehnten war daraus ein bald demütiges, bald querulantes Bedürfnis geworden, uns der Welt nicht etwa als Vorbild, sondern als «Sonderfall» zu erklären, als hätten wir für unser Festhalten an unserer Lebensweise, die nichts weiter als die unsere ist, um Verständnis zu bitten." Zitat Ende.

An diesem unberechenbaren Hin und Her der Selbsteinschätzung scheint sich nicht so viel geändert zu haben. Dabei hätten wir allen Grund, gelassen selbstbewusst zu sein. Nicht, weil wir ausersehen sind, besonders schaffig oder überaus scharfsinnig. So verschieden sind wir nicht von den Franzosen und den Vorarlbergern. Nein, nicht weil wir anders sind, sondern weil wir gewisse Dinge anders machen: Wir regieren uns anders, wir organisieren uns anders, und wir entwickeln uns anders.

Nicht schon seit ewig und auch nicht seit 1291. Wenn wir es genau nehmen: Es ist noch gar nicht lange her. Nehmen Sie die Schweiz vor zwei hundert Jahren: Die Kantone waren untereinander zerstritten. Einzelne wollten aus der Schweiz austreten. Andere wollten ihre Nachbarkantone fressen. Nur die Siegermächte des Krieges gegen Napoleon verhinderten den Bürgerkrieg. Wir hatten weder eine Hauptstadt noch eine Regierung. Dafür Typhus und Malaria. Und grosse, heute unvorstellbare Armut: Die Hungersnot von 1816, dem Jahr ohne Sommer, verursachte in kaum einem Land Europas so viel Leid. Jedes Jahr haben Tausende die Schweiz verlassen. Wir hatten keine Industrie, ausser der Textilindustrie, die aber in der Krise war. Keine Banken, keine Eisenbahnen, keinen Tourismus, keine Schokolade und auch kein Fondue. Kurz, es wäre ein armseliger, trauriger Anblick gewesen, hätte man über die schroffen Felsen hinter uns zu dem frommen Völklein runter schauen können. Romantisch höchstens für jene, die sich den romantischen Blick auch leisten konnten.

Aber dann, nur 70 Jahre später, was für ein anderes Bild:

1882 eröffnete die Schweiz den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Durch den Gotthard. Kurz darauf bauen sie eine Eisenbahn bis hinauf aufs Jungfraujoch. Obwohl erst 1847 die ersten Meter Schienen zwischen Baden und Zürich verlegt worden waren, war die Schweiz am Ende des Jahrhunderts das Land mit dem dichtesten Eisenbahnnetz der Welt. Und ist es bis heute geblieben. Ende des 19. Jahrhunderts verfügte das  Land über eine überaus erfolgreiche Industrie. Brown Boveri. Sulzer und Escher-Wyss. Nestlé. Sandoz und Ciba. Hotelpaläste schossen wie Pilze aus dem Boden. Überall sah man Engländer, die an unseren Gipfeln herumpickelten. Banken wurden gegründet. Die ETH und mehrere Universitäten. Es wurden zahllose Wohnungen, Spitäler und Schulen gebaut. Ein sehr modernes Fabrikgesetz eingeführt, welches die Arbeiter schützte und die Kinderarbeit verbot. Innerhalb von nur wenigen Jahren ist die Schweiz zu einem der fortschrittlichsten und wohlhabendsten Länder Europas geworden. Warum eigentlich? Was war passiert, damit eine solche Entwicklung möglich war? Von einem Land, das humanitäre Spenden vom russischen Zaren erhielt, bis zu einem Land, das weitherum als reich und glücklich galt?

Im Wesentlichen sind zwei Dinge passiert: Erstens die Schweiz schuf 1848, was die EU 140 Jahre später anstrebte: Den Binnenmarkt: Freier Warenverkehr, die Abschaffung von über 400 Binnenzöllen. Freier Personenverkehr, alles andere als unumstritten. Und freier Kapitalverkehr. Zweitens, die Schweiz schuf 1848 und 1874 eine der modernsten Verfassungen Europas. Nicht nur in ihrer Form und wegen den neuen Grundrechten. Das Revolutionäre daran, gerade auch im Unterschied zur amerikanischen Verfassung, an der sie sich orientiert hatte, ist folgender Punkt: Die Verfassung enthielt im Kern auch die Anleitung, wie die Verfassung selbst sich ändern soll. Heute würden wir sagen, sie war und ist ein verdammt raffinierter Algorithmus.

Denn mit wenigen, einfachen Instrumenten der direkten Demokratie wird sie immer wieder angepasst, an die Umstände und an den Willen jener, die sie respektieren und leben müssen. Andere Länder behalten ihre Verfassung und ändern ständig ihre Regierung. Wir halten an der Regierung fest und ändern laufend die Verfassung. Das ist ein wesentlicher Unterschied!

Er bedingt zum Beispiel, dass wir uns alle drei Monate national abgleichen, das heisst zuerst überall konsultieren, dann eine oder mehrere Vorlagen diskutieren und darüber streiten, und schliesslich die Mehrheit über die Minderheit entscheiden lassen, um allsogleich aber die Minderheit wieder ins Boot zu holen. Und gleichzeitig schaffen wir damit Gegendruck zur Neigung, sich nur noch mit seinesgleichen zu treffen und sich dort gegenseitig zu versichern, dass alle andern - ausserhalb der eigenen Blase - begriffsstutzige und bornierte und schwachköpfige  und absonderlich irrgeleitete Menschen sind. Der Austausch gerade auch mit Leuten, die eine andere Meinung haben, wird für unsere Gesellschaft wichtiger denn je. Unsere Verfassung schafft dafür wichtige Plattformen.

Wenn wir deshalb auf etwas besonders stolz sein können, dann ist es auf diese Software, die vor unserer Zeit erkämpft, erprobt und weiterentwickelt worden war. Wenn wir am 1. August ohne selbstgefälligen Dünkel zufrieden sein können, dann weil wir einige Dinge anders  machen. Beziehungsweise präziser: Weil wir bis anhin einige Dinge anders machen konnten, Dinge welche uns Frieden und Wohlstand gebracht haben. Diese Präzisierung ist aus zwei Gründen notwendig:

Erstens, wir konnten einige Dinge anders machen, weil wir auch Gelegenheit dazu hatten. Weil wir viel Glück hatten, und manchmal eine gehörige Portion Dusel. Wir wurden von einigen Kriegen verschont, die auf diesem Kontinent wüteten. Selbst Bürgerkriege haben wir einigermassen gut verdaut. Ich erachte es immer noch als eine der grössten und am meisten unterschätzten Leistungen der letzten hundert Jahre, dass wir das Zerwürfnis, die Zwietracht, den Zank und Zoff zwischen Protestanten und Katholiken, welche noch bis vor 50 Jahren in der Schweiz ganze Dörfer spaltete, getrennte Schulen und abendliche Schlägereien bedeuteten, heute weitgehend überwunden haben. Es ist den wenigsten bewusst, dass eine der blutigsten Schlachten auf Schweizer Boden in Villmergen stattfand, als wir uns selbst die Köpfe einschlugen. Am Morgarten, als es gegen die Habsburger ging, haben wir ein eindrückliches Schlachtdenkmal errichtet, in Sempach eine schöne Schlachtkapelle. Aber in Villmergen, wo an einem einzigen Tag Tausende, zu Teil flüchtende, im Morast stecken gebliebene Schweizer von Schweizern niedergemetzelt wurden, weil sie den anderen, den sogenannt falschen Glauben hatten (auch wenn es nicht nur um den Glauben ging) - so viele, dass man die Leichen auf dem Feld zurückliess - dort steht heute ein bescheidenes Brünnlein. Und auch das erst seit einigen Jahren. Wir haben dies gut überstanden, weil einige kluge Köpfe unserer Geschichte die Gemeinsamkeiten immer mehr gewichteten und öfter unterstrichen als die Unterschiede. Und weil wir in unserer Verfassung Platz für den Föderalismus schufen und Geduld bewiesen, wenn es einmal ein Kanton hat anders halten wollen als der Rest der Schweiz.

Zweitens, wir können stolz sein, dass wir bis anhin einige Dinge anders, und alles in allem nicht so schlecht gemacht haben. Aber was in der Vergangenheit so war, muss nicht zwingend für die Zukunft gelten. Wo steht geschrieben, dass wir - einfach so - in Zukunft alles richtig machen? Dass uns - wie Jacob Burckhardt schrieb - das Schicksal immerfort besondere Küchlein backen wird? Die Schweiz ändert sich. Sie ist nicht mehr dieselbe, wie vor 100 und vor 50 Jahren. Das Umfeld in Europa ändert sich. An seinen Rändern häufen sich die Krisen, und schnell sind die Krisen auch bei uns. Das globale Klima - das politische und das eigentliche Klima - ändern sich. Und man hat nicht immer das Gefühl zum Guten. Und wir alle wissen: Viele dieser Risiken und Probleme können wir nur zusammen mit andern lösen. Wir werden in unserer eigenen Verfassung keine Lösung für das globale Flüchtlingsproblem finden. Keine Initiative wird garantieren, dass uns die Gletscher nicht wegschmelzen. Kein Referendum wird uns davor schützen, wenn die Wirtschaft flächendeckend einen Taucher macht. Die Dinge sind nicht einfacher sondern komplexer geworden.

Und manchmal muss man sich über eine Sache beugen und dazulernen. Georg Lichtenberg schrieb einmal, wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstossen, und es klingt hohl, dann muss es nicht unbedingt am Buch liegen. Direkte Demokratie verpflichtet. Nicht nur zur Nutzung des persönlichen Stimmrechts, sondern auch zum Gebrauch der eigenen Hinterstube.

Meine Damen und Herren, 1. August-Ansprachen sind keine einfachen Reden. Wer spricht schon gerne über sich selber? Und dann noch ehrlich und vor allem, wenn er weiss, dass es nicht genügt, historische Bilanz zu ziehen. Zufrieden, und mit eitlem Stolz über die Grenzen zu schauen, wie ein Drittklässler, der seinem Sitznachbarn das für einmal gelungene Zeugnis unter die Nase hält. Der 1. August ist auch Gelegenheit, sich bewusst zu machen, dass neue Probleme bestehen, dass neue Denkarbeit notwendig ist und dass wahrscheinlich auch neue Antworten gefunden werden müssen. Wir haben gute Voraussetzungen in unserem Land. Aber wir sollten auch etwas daraus machen.

So, jetzt habe ich Sie aber genügend lange warten lassen. Würde ich hier am Grill arbeiten, hätte ich längst eine Bratwurst nach vorne geschossen.


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