Bern, 26.04.2017 - Ansprache von Bundeskanzler Walter Thurnherr anlässlich der Preisverleihung der Swiss Press Awards

Selbst ist ein gutes Kraut,
wächst aber nicht in allen Gärten

deutsches Sprichwort


Jene unter Ihnen, die kleine Kinder hatten oder solche haben, wissen, wie halsstarrig, verstockt und trotzig sich der Nachwuchs anstellen kann, wenn Eltern mit den besten Absichten ihm etwas beizubringen oder vorzuzeigen versuchen. Schon der Zweijährige lässt sich kein Spielzeug mehr vorführen. Im Gegenteil, er hält es fest umklammert und argumentiert - zwar kaum der Sprache mächtig, doch mit grosser Ernsthaftigkeit und nur mit einem einzigen Wort: „Sälber". Bzw. Sälber mit Ausrufezeichen.

Sollten Sie eines oder mehrere solcher Kinder haben: Beglückwünschen Sie sich, und lassen Sie es im Interesse des Landes gewähren. Das nämlich gibt sehr gute Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Selber machen. Selber denken. Selber überprüfen. Selber Verantwortung übernehmen. Selber bestimmen und auswählen. Das sind Dinge, die viele von uns für selbstverständlich halten, die es aber gar nicht sind. Selber entscheiden, was man schreibt, worüber und wie man schreibt, im Übrigen auch nicht.

Sie wissen - in den letzten Monaten wurde einiges darüber geschrieben -, es gab eine Zeit, da stand der Name Trump in der Schweiz für etwas anderes als heute. Das war im Sommer 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg. Trump (englische Aussprache), oder wie man damals sagte „Trump" (deutsche Aussprache) war Presseattaché an der Deutschen Botschaft und - in diesem Charakterzug offenbar vergleichbar mit dem Trump von heute - ziemlich ungehalten, wenn die Presse schrieb, was ihm nicht passte. Der Trump von damals verlangte in Einzelvorstössen bei schweizerischen Zeitungsbesitzern und Verwaltungsratspräsidenten die Absetzung unliebsamer, oder wie er meinte, renitenter Journalisten, insbesondere des Chefredaktors der Zeitung „der Bund".

Als die Forderung sogar an Bundesrat Pilet-Golaz herangetragen wurde, löste die sogenannte „Aktion Trump" ziemlich grosse Wellen und schliesslich genau das Gegenteil aus: Der Chefredaktor des „Bund" blieb noch länger im Amt als ursprünglich vorgesehen. Der Reflex der grossen Mehrheit, selber zu entscheiden, was geschrieben werden soll, war deutlich stärker als die Haltung jener, die mit Blick auf die internationalen Kräfteverhältnisse diplomatische Rücksicht nehmen wollten.

Die Trump-Episode wäre inzwischen wohl längst vergessen, hätte nicht der Historiker Herbert Lüthy viele Jahre später einen Essay darüber geschrieben. Ein unerhört feinsinniges Portrait der Schweiz dieser schwülen Hochsommermonate 1940, zwischen dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs und dem Rütlirapport, in dem er unter anderem von einem dichten Netz von selber denkenden, auf keine rettende Autorität wartenden und selber handelnden Gemeinschaften schreibt - Kantone, Gemeinden, Verbände, Gewerkschaften, Kirchen und Vereine. Ein weitgehend fast störrischselbstständig funktionierendes Gewebe, auf dem das innere Gleichgewicht der Schweiz beruhte und das sich erfolgreich jeder Konzentration in einer starken Spitze widersetzte, von der aus dieses Gleichgewicht hätte aus den Angeln gehoben werden können. „Führerlosigkeit", so schreibt er, „ist der politische Normalzustand der Eidgenossenschaft, und es bedurfte einer äussersten Krisensituation, ihn als Anomalie empfinden zu lassen". Zitatende.

Und tatsächlich verstehen wir „Führung" hierzulande ganz anders als etwa in den USA oder in Frankreich. Weil wir uns eben gewohnt sind, viel mehr selber zu bestimmen und erwarten, dass sich unsere politische Führung dessen auch bewusst ist. In der Schweiz wird mehr von allen Seiten geführt, als von oben nach unten. Eher wie in einem unübersichtlichen Bienenstock, einfach ohne Königin und ohne Pheromone. Mehr aufgrund einer historischen Praxis als aufgrund einer strengen Geometrie. Nicht gerade anarchisch, aber auch alles andere als hierarchisch. Sie erkennen das im Übrigen schon daran, dass man ganz anders formuliert, wenn man einem Politiker ein Kompliment macht: In Washington sagen Sie feierlich: „He proves great leadership". In Bern nicken Sie zustimmend: „Er isch pragmatisch".

Selber bestimmen, selber prüfen und selber denken ist heute wichtiger denn je. Und selber denken und dabei nicht vergessen, dass man sich auch irren könnte, noch wichtiger. Und man sich deshalb nichts vergibt, dem Zweifel Platz zu lassen und bei anderen nachzufragen, nur folgerichtig. Nicht wahr, und das gilt wohl in Politik und Journalismus: Man kann auch zu früh aufhören, über etwas nachzugrübeln.

Und alles „selber denken" nützt wenig, wenn man nicht den Mut aufbringt, das zu sagen und zu schreiben, was man wirklich glaubt, statt abzuwarten, bis es alle andern auch denken. Vielleicht ist es Ihnen anders ergangen, aber ich finde es schon etwas erstaunlich, wie viele Redner und Autoren heute mahnen und die Gründe nennen, welche zum Brexit oder zur Wahl von Donald Trump geführt haben. Und wie viele davon in den Jahren zuvor kein Wort darüber verloren hatten.

Ich gehöre nicht zu jenen, welche sich über die Qualität der Schweizer Medienarbeit beschweren oder welche gramgebeugt darüber lamentieren, die Presse führe den Leser vielleicht nicht in die Irre, aber bestimmt ins Irrelevante. Ganz im Gegenteil. Aber ich bin überzeugt, dass die vielbeschworene und für unsere Demokratie tatsächlich sehr wichtige Medienvielfalt und damit Meinungsfreiheit sich nur erhalten lässt, wenn „selber denken und schreiben" - gewissenhaft, unvoreingenommen, ehrlich, aber vor allem aufgrund eigener Recherche und damit selbst gewonnener Überzeugung - eine journalistische Tugend bleibt. Und wenn die Verleger dieses Landes den Journalisten allenfalls die Verantwortung des Berufsstands, aber nicht bei jeder grösseren Recherche die eigene politische Überzeugung in Erinnerung rufen oder rufen lassen. „Have your mind on it, but keep your hands off" war bei der Washington Post die wichtigste Verleger-Tugend, und sie sollte es bei uns auch sein.

Meine Damen und Herren. Selber hinterfragen und selber aufstehen, wenn man nicht einverstanden ist, ist leichter gefordert als getan. Wer es nicht glaubt, muss immer weniger weit ins Ausland reisen, um sich zu überzeugen. Die Vergangenheit lehrt uns, dass kein Wohlstand und keine politischen Rechte selbstverständlich sind. Jede Scheusslichkeit der Geschichte kann sich wiederholen. Und deshalb lohnt es sich zu recherchieren. Zu schreiben, was passiert. Zu fotografieren, was vor sich geht. Zu berichten, wie und warum es vor sich geht. Es einzuordnen, und darüber nachzudenken, wie es weitergeht oder weitergehen könnte. Bei uns und anderswo. Kritisch und eben, wie bei Ihren Kindern, sälber!


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