Der Standort Schweiz im Wandel: Arbeitsplätze und Wohlstand im Digitalen Zeitalter

Bern, 27.01.2017 - Rede von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF Rheinthaler Wirtschaftsforum

Es gilt das gesprochene Wort!

Geschätzte Unternehmerinnen und Unternehmer
Meine Damen und Herren


Herzlichen Dank für Ihre Einladung zum Rheintaler Wirtschaftsforum. Ich bin heute Nachmittag sehr gerne bei Ihnen. Ich bin gerne hier am WIFO, weil ich in dieser wichtigen Industrieregion, inmitten von Unternehmerinnen und Unternehmern, auf gut Berndeutsch sagen kann:
I feel at home! Winston Churchill lästerte einst, Prognosen seien schwierig – besonders wenn sie die Zukunft betreffen…

Er muss dabei den amerikanischen Politikwisseschafter Francis Fukuyama vorausgeahnt haben. In seinem berühmten Essay „Das Ende der Geschichte“ schrieb Fukuyama nämlich 1989, ich zitiere:

„What we may be witnessing is the end of history as such: that is, the end point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.”

Nun, etwas weniger elegant als Winston Churchill sagen wir Schweizer: „Hingerhär isch mär immär gschiider.“ Natürlich ist es nicht so gekommen, wie Fukuyama hoffnungsvoll voraussagte. Im Gegenteil: Im Jahr 2017 herrschen Unversöhnlichkeit, Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit. Weltweit. 
 
Die Welt ist im beschleunigten Wandel. Davon zeugte auch das World Economic Forum in Davos von letzter Woche. Es ist schon aussergewöhnlich, wenn der Präsident der kommunistischen Volksrepublik China, Xi Jinping, dem Westen ein Plädoyer für die Globalisierung hält. Das war eine Rede, die symbolisch für den Umbruch steht, den wir derzeit in vielerlei Hinsicht erleben:

Erstens natürlich technologisch: Die digitale Transformation mischt Wissen, Produkte, Dienstleistungen, Wertschöpfungsketten, Jobs und Branchen auf.

Zweitens wirtschaftlich: Offene Märkte geraten noch mehr unter Druck. Die Kritik an der Globalisierung scheint immer höhere Wellen zu werfen. Ich brauche hier im Rheintal nicht zu betonen, dass offene Märkte für unsere exportorientierte Wirtschaft absolut zentrale Bedeutung haben. Das gilt für Ihre Region besonders.

Die Signale aus Washington sind nicht positiv – aber wir müssen abwarten, wie die Positionen aus dem Wahlkampf tatsächlich umgesetzt werden. Von TPP will Donald Trump wie angekündigt nichts mehr wissen. Aber NAFTA will er neu verhandeln – nicht beerdigen. Und meine Gespräche mit unzähligen Handels- und Wirtschaftsministern in Davos bestätigen, dass es zu den protektionistischen Kräften auch durchaus Gegenbewegungen gibt.

Das eröffnet der Schweiz Chancen. So forcieren wir die Freihandels-Verhandlungen mit Indien, Malaysia, Indonesien, Philippinen und Vietnam. Und je nachdem, wie die Amerikaner mit dem angedachten transatlantischen Abkommen TTIP umgehen, kommt auch bei uns das Thema eines Freihandelsabkommens mit den USA wieder auf den Tisch. Apropos USA: Mir lagen am Vorabend der Wahl-Entscheidung am 8. November 2016 als Bundespräsident zwei Entwürfe von Gratulationsschreiben vor – einer für jeden Kandidaten. Den einen Brief unterschrieb ich vorsorglich. Am Vormittag des 9. November unterschrieb ich dann den anderen…).

Seien Sie jedenfalls versichert, dass ich persönlich und der Bundesrat weiterhin mit voller Kraft für offene Märkte einstehen. Mir ist bewusst, dass sie für Ihre Unternehmen unentbehrlich sind. Ich komme darauf zurück. Drittens schliesslich beobachten wir auch politischen und gesellschaftlichen Wandel: Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit sind vielerorts in Frage gestellt. Nationalistische, protektionistische und pessimistische Parteien haben Aufwand. Von Armut, Kriegen und Terror ganz zu schweigen.

Vielleicht fragen Sie sich: Was geht die grosse Weltpolitik das Rheintaler Wirtschaftsforum an? Eine ganze Menge! Zugegeben: Washington, Peking, Widnau – das sind unterschiedliche Paar Schuhe. Aber: Es ist eine Binsenwahrheit, dass in der heutigen Welt zunehmend auch lokale Gegebenheiten von globalen Kräften geprägt werden, auf die wir als kleines Land kaum Einfluss nehmen können.

Ich gehöre dennoch nicht zu jenen, die fatalistisch argumentieren, wir seien dem Unbill der Welt ausgeliefert. Und ich glaube auch nicht, dass wir mit Pessimismus in die Zukunft blicken müssen. Im Gegenteil: Im Wandel liegen für die Schweiz grosse Chancen. Das will ich in den kommenden Minuten mit Fokus auf die technologischen Veränderungen, also die Digitalisierung, erläutern.

Der beste Beweis für die Chancen ist die Entwicklung Ihres Rheintals. Wo heute nämlich Weltmarktführer zuhause sind, herrschte lange bittere Armut. Die sumpfigen Böden liessen lediglich eine kleinstrukturierte, ertragsschwache Landwirtschaft zu. Viele Bauernfamilien waren gezwungen, über den Sommer ihre Kinder in die Fremde zu schicken – ausgerechnet nach Oberschwaben! Auf sogenannten „Kindermärkten“ wurden fünf-, acht-, zehnjährige Buben und Mädchen als Arbeitskräfte vermittelt.

Die Textilindustrie ermöglichte den Bauernfamilien einen Zusatzverdienst in der Heimarbeit. Später boten industrielle Textilbetriebe den Bauern Arbeit. Zwar legten bald erste Zulieferer für diese Textilunternehmen den Grundstein für die ostschweizerische Maschinenindustrie. Doch die faktische textile Monokultur machte die Region wirtschaftlich anfällig. Wir alle wissen, wie das ausging: mit dem Zusammenbruch der ehemals stolzen und prägenden Textilindustrie.

Das Ende eines Industriezweiges schob aber neue Entwicklungen an. Die Region packte die Chancen des technologischen Wandels. Dank unternehmerischer Initiative und Innovationsfreudigkeit, dank guter Rahmenbedingungen. Alte Arbeitsplätze verschwanden. Aber neue entstanden.

Den besten Beleg sah ich eben mit eigenen Augen. Ich habe heute Nachmittag die Firma Rauch mit der Produktion von RedBull besucht. Zwei super gute Firmen. Die moderne Fabrik steht hier in Widnau – erbaut auf einer Industriebrache der ehemaligen Viscosuisse bzw. der Setila AG. Von der Textil- in die Getränkebranche wird hier eine neue Erfolgsstory geschrieben. Das beeindruckt mich. Egal welche Branche: die Unternehmen und ihre Mitarbeitenden hatten unter höchstem internationalen Konkurrenzdruck zu bestehen..

Das gilt für vergangene Jahrzehnte, das gilt erst recht heute in der globalisierten Wirtschaft. Vergessen wir nicht, dass Sie dies nach wie vor mit einem überbewerteten Schweizer Franken tun müssen. Ich spreche Ihnen allen meinen höchsten Respekt dafür aus! Heute agieren hier vom Rheintal aus renommierteste Unternehmen etwa in der Präzisionsindustrie und Nanotechnologie. Heute entstehen hier Produkte im Maschinenbau, in der Autozulieferindustrie oder in den optischen Technologien, die in die ganze Welt geliefert werden.

Ihre Region ist im Kanton diejenige mit der höchsten Bedeutung des Aussenhandels – Faktor 2,5 zur nächstplatzierten. Das St. Galler Rheintal ist die technologieintensivste Gegend des Kantons mit 16% der Beschäftigten in entsprechenden Industrien. Das sind doppelt so viele wie im Schweizer Durchschnitt. Und Ihre Region wies mit einer Zunahme von beinahe 30% von 1990 bis 2013 das höchste Plus der Erwerbstätigen im Kanton auf.

Mittlerweile gibt es im Rheintal keine Webstühle in heimischen Stuben mehr. Und viel weniger Bauern als noch vor hundert Jahren. Auch die Fabrikarbeiter am Fliessband sind spärlicher geworden. Das ist das Ergebnis dreier industrieller Revolutionen. Es waren radikale Umbrüche, die den Menschen Angst gemacht haben. Technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche „Revolutionen“, die der Bevölkerung enorme Anstrengungen abverlangten, um Schritt zu halten mit dem Gang der Welt.

Gebracht hat dieser Wandel unter dem Strich jedoch Fortschritt in materieller und sozialer Hinsicht, Bildung und Chancen für alle. Unsere Arbeitslosigkeit ist heute tief. Unser Jungen haben Perspektiven. Unser Wohlstand ist höher denn je. Deshalb kann man mit Fug sagen: Das Rheintal – und die Schweiz generell – ist ein erfolgreiches Labor des Wandels.

Wir haben den konstanten Strukturwandel eindrucksvoll gemeistert. Deshalb rufe ich Ihnen heute zu: Ja, wir haben die Kraft für Veränderung! Aber selbstverständlich sind wir dabei enorm gefordert. Sie in der Wirtschaft und Wissenschaft – wir in der Politik. Mir kommt dazu ein Satz in den Sinn, der Albert Einstein zugeschrieben wird: „Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.“

Zitat Ende.

Das gilt im rasenden Tempo der Digitalisierung mehr denn je. Für viele von Ihnen, meine Damen und Herren, ist das längst Alltag: Sie sind gezwungen, die Prozess- und Produktinnovationen, welche die digitale Transformation ermöglicht, nach Kräften voranzutreiben. Lieber Hans Hess, ich mache hier eine Klammer auf: Es hat mich beeindruckt, wie die Swissmem in der besonders schwierigen Zeit nach der Aufhebung des Mindestkurses nach einigen Monaten verkündet hat: Jetzt sprechen wir nicht mehr über den starken Franken. Jetzt schieben wir die Industrie 4.0 voran! Das ist die Aufbruchsstimmung, die wir in unserem Land wollen!

Wie kann die Politik die Wirtschaft in der digitalen Transformation unterstützen? Naturgemäss hinken wir in Bern hinterher. Aber auch in Kantonen und Gemeinden. Die Entwicklung verläuft rasant und unberechenbar. Plötzlich stehen neue Akteure, ja neue Geschäftsmodelle wie Uber und Airbnb vor der Tür und bedrängen alteingesessene Branchen. Was tun? Verbieten? Überhastet regulieren? Sicher nicht! Sondern erstens Freiraum bieten, damit neue Ideen sich überhaupt entwickeln können. Und zweitens sorgfältig prüfen, ob allenfalls Regeln überdacht werden müssen. Das soll auch durchaus heissen, Regulierung ganz abzuschaffen.

Der Bundesrat hat diesen Auftrag vor zwei Wochen erteilt. Eine von mehreren Prüfaufträgen, um das Phänomen Digitalisierung besser zu verstehen und wo nötig Massnahmen zu ergreifen, um die Chancen zu nutzen. Wichtige Felder sind dabei Bildung und Forschung. Wenn Sensorik und Robotik, Big Data und Artificial Intelligence unvorstellbare Möglichkeiten eröffnen, dann verändern sich Berufsfelder und Tätigkeiten.

Bisherige werden wegfallen – neue werden entstehen. Damit muss unser Bildungssystem Schritt halten können. Weiterbildung ist ein zentrales Stichwort. Mein Staatssekretariat SBFI, die Kantone, die Bildungsinstitutionen und Sozialpartner arbeiten bereits an dieser Frage. Dem Bundesrat werden wir im Juni aufzeigen, ob und wenn ja welche Massnahmen notwendig sind. Das gilt nicht nur für die Bildung, sondern auch für die Forschung – unser Standort muss auch im digitalen Zeitalter Spitzenklasse bleiben.

Dabei können auch die Forschungs- und Innovationszentren im Rheintal wie RhySearch und NTB in Buchs, das CSEM in Landquart und die Institutionen in St. Gallen – Universität, Fachhochschule sowie EMPA – eine wichtige Rolle spielen! Ich habe schon von den Ängsten gesprochen, die jeder Wandel auslöst. Die Digitalisierung macht vielen Menschen Sorgen. Diese Ängste müssen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ernst nehmen – denn nur mit dem Vertrauen der Bevölkerung können wir der Wissenschaft und Wirtschaft die Freiräume sichern, die sie brauchen.

Vertrauen bauen wir auf, indem wir weiterhin stark in Bildung investieren – das schafft Chancen und Perspektiven. Indem wir die Umwälzungen im Arbeitsmarkt so begleiten, dass möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern neue Chancen eröffnet werden. Und indem wir den Menschen Mut machen. Beispielsweise mit Erfolgsgeschichten wie der Ihrigen im Rheintal.

Vor lauter Digitalisierung sollten wir die klassischen Faktoren für unseren starken Standort Schweiz nicht aus den Augen verlieren. Ich spreche immer vom Erfolgsdreieck liberaler Arbeitsmarkt, intakte Sozialpartnerschaft und duales Bildungssystem. In Hinblick auf den 12. Februar müssen wir aber von einem Viereck sprechen:

Denn zentral ist auch, dass die Schweiz ein attraktives, verlässliches und ergiebiges steuerliches Umfeld bieten kann. Ich spreche natürlich von der Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform 3.

Ich mache mir Sorgen: Die Diskussion wird derzeit teilweise polemisch, unsorgfältig und leichtfertig geführt. Vieles stimmt schlicht nicht. Es bringt nichts, diese Reform mit der heutigen Situation zu vergleichen. Denn den Status quo wird es nicht mehr geben. Er ist international nicht geächtet. Mit der Reform halten wir die Schweiz im internationalen Wettbewerb um Firmensitze konkurrenzfähig. Ohne Reform sitzen wir am kürzeren Hebel. Und wir verpassen den Anschluss.

Bei einem Nein frohlocken nämlich all jene Standorte, die der Schweiz Unternehmen und Arbeitsplätze abjagen wollen. Die ausländische Konkurrenz reibt sich die Hände, wenn sich die Schweiz selber einen Rückstand einbrockt. Auch ist es nicht so, dass Steuergeschenke gemacht werden, die dann der Mittelstand ausgleichen muss. Gerade die grossen Konzerne werden nach der Reform eher mehr und sicher nicht weniger Steuern zahlen. Aber die Differenz ist erträglich, so dass sie in der Schweiz bleiben.

Vergessen wir nicht: Die Steuerreform betrifft Firmen, die 50% der direkten Bundessteuern zahlen. Das sind jährlich 5,4 Milliarden. Jedes Jahr werden es mehr. Diese Firmen beschäftigen 150'000 Menschen direkt und tragen so zu 400'000 Arbeitsplätze im ganzen Land bei. Darauf sind wir angewiesen.

Schneiden wir uns also nicht ins eigene Fleisch, sondern stärken wir unseren Standort mit einem Ja zu dieser ausgewogenen Reform. Ihr stimmen Bundesrat, Parlament, alle Kantone ausser Neuenburg und fast alle Parteien und Verbände zu. Verpasste Reformen sind verpasste Chancen. Ich bitte Sie alle, sich in den letzten Tagen vor der Abstimmung mit Herzblut für ein Ja zu engagieren!

Ich komme zum Schluss.

Die Schweiz ist ein Hort der Stabilität – aber nur, weil sie die Chancen des Wandels immer genutzt hat. Sein wir auch in Zukunft nicht selbstgefällig. Bringen wir weiterhin die Kraft für Veränderung auf. So bleiben wir Weltklasse. So sichern wir Jobs und Wohlstand. Und damit Perspektiven für die heutige und die kommenden Generationen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


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