Dank an die Glückskette - Dank für die enorme Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung

Bern, 27.09.2016 - Ansprache von Bundeskanzler Walter Thurnherr am Anlass "70 Jahre Glückskette". Bern, 26. September 2016

Oft - und oft zu Recht - rühmt sich die Schweiz für das inzwischen jahrhundertelange weitgehend friedliche Zusammenleben hier. Massgeblich zu verdanken sei dies – so sagt man -, neben etwas Glück, grossem Fleiss und viel Arbeit und vor allem unserer Demokratie. Wir sind zwar noch gar nicht lange eine Demokratie – mindestens nicht im Sinne des heutigen Verständnisses, wonach jeder Bürger und eben auch jede Bürgerin wählen und gewählt werden können soll. Aber es ist wahr, und wir dürfen ohne weiteres mit Stolz feststellen, dass unser politisches System zum stabilen und friedlichen Zusammenleben beigetragen hat. Unsere politischen Volksrechte. Die Gewaltenteilung. Die Rechtsstaatlichkeit. Auch unser Verständnis, dass die Minderheit die Mehrheit anerkennt, dass sie dies aber nicht zuletzt deshalb kann, weil die Mehrheit gleichzeitig Rücksicht auf die Minderheit nimmt – „The winner doesn’t take it all“. Weiter unser Föderalismus und unsere politische Kompromisskultur. Das alles sind grossartige Dinge.

Und doch, dieses geschickte Bündeln von Rechten und Pflichten, dieses Austarieren und Gleichgewichten, dieses Zusammenfügen von Kompetenzen und Kontrollen – so   massvoll und so raffiniert sie auch in Verfassung sowie Gesetz verankert sein mögen – sie genügen bei Weitem nicht, um das erwähnte friedliche Zusammenleben zu garantieren. Und selbst wenn man Glück und Fleiss dazu tut, es ist noch nicht genug. Mehr und öfter dürfte es auch auf Dinge ankommen, für die es weder eine rechtliche Pflicht noch eine lukrative Entschädigung gibt: Soziales Engagement. Nachbarhilfe. Beistand zugunsten von Freunden und Familie. Teilnahme und Mitarbeit am kulturellen und sozialen Leben. Solidarität. Es sind wunderbare Werte, die jedem mehr oder weniger eigen sind und mit denen er sich gegen die Unberechenbarkeit des Lebens wehrt.

Denn es ist ja nicht „nur“ Mitleid und Anteilnahme, welche bewegen zu helfen. Es ist mitunter das vor allem durch die Berichte über das Leid ausgelöste und dann beim Darüber-nachdenken hervorgegrübelte Erkennen, dass viele Katastrophen vielleicht nicht ohne Grund, aber in der Regel ohne Schuld der Opfer geschehen. Dass das Unglück aus heiterem Himmel zuschlagen und jeden treffen kann. Und dass solche Schicksalsschläge etwas Zufälliges, Ungerechtes und damit etwas Böses haben, gegen das man sich doch wehren sollte.

Heute haben wir dafür Versicherungen. Und wie Sie wissen, ist kaum ein Volk gegen so viele Dinge so gut versichert wie wir. Und, wir haben die Glückskette, die Chaîne du Bonheur oder, wie sie auf Italienisch leicht anders und zutreffender heisst: die Catena della solidarietà. Aber wie war es vorher? Wie war es beim Bergsturz von Goldau vor 110 Jahren? Wie war es 1861, als ein Föhnsturm und ein Brand in Glarus 600 Häuser zerstörten und 3000 Menschen um ihr Obdach brachten? Wie war es bei den Bränden von Altdorf, 1799? Sargans, 1811? Herisau, 1812? Schüpfheim, 1829? Luzern, 1833? Thusis, 1845? Beim Brand von Buttisholz 1861, als das ganze Dorf abbrannte? Beim Brand von Meiringen, 1891? Und so weiter?

Es war immer dasselbe: Man half spontan, und teilte und spendete. Über alle Grenzen hinweg. Weil man eben ähnliches Leid und ähnliche Unterstützung schon selbst erfahren hatte, oder sich leicht ausrechnete, dass einem Ähnliches selbst widerfahren könnte. Wissen Sie, dieses Datum heute ist nicht schlecht gewählt. Denn fast auf den Tag genau vor 148 Jahren, am 27. und 28. September 1868 führten heftigste Gewitter, welche vom Wallis über das Tessin nach Graubünden zogen, zur grössten Naturkatastrophe der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, sowohl gemessen an der Zahl der Opfer als auch am Ausmass der Schäden. Ganze Dörfer in Graubünden wurden durch Murgänge weggetragen, überall standen Häuser im und unter Wasser, der Spiegel des Lago Maggiore war sechseinhalb Meter angestiegen. Und die Luzerner Zeitung schrieb: „…und man könnte weinen über das Unglück so vieler armer Familien und Gemeinden, die ihrer Wohnung, ihrer Habe, ihrer Wiesen und Äcker beraubt nun dastehen mit dem nackten Leben vor der Thüre des frostigen Winters, kein anderes Gut mehr besitzend als die Hoffnung auf Gott und die wirksame Liebe ihrer Mitbrüder“.

Aber kaum war das Unwetter vorbei, wurden im ganzen Land Konzerte, Bazare und Versteigerungen organisiert. Vereine, Gesellschaften, die Presse und die Kirche mobilisierten mit viel Phantasie Kleider, Decken, Matratzen, Kartoffeln, Dörrobst, Wein und Spendengelder. Der Bundesrat erklärte das Unwetter zu einem „Landesunglück“, eine Konferenz mit allen Kantonen wurde einberufen, von überall flossen Spenden. Am meisten übrigens von BS und ZH, aus GE und NE, welche vom Unwetter nur aus den Zeitungen erfahren hatten und trotzdem grössten Anteil nahmen. Am Zweitmeisten (gemessen in Franken/Einwohner) kam aus dem Kanton Glarus, der kurz zuvor, beim Wiederaufbau seiner Hauptstadt, selbst von den Spenden der andern profitiert hatte. „Die Not ist gross – grösser ist die Bruderliebe“, hiess es etwas pathetisch. „Alte Leidenschaften“, so schrieb man in Anspielung auf den Sonderbundskrieg, dürften keine Rolle mehr spielen. Und tatsächlich macht es den Eindruck, dass die Solidarität unter den verschiedenen Regionen, Kantonen und Landesteilen wesentlich zur Verstärkung und Bestätigung der Identität des noch jungen Bundesstaates beitrugen.

Und wer weiss, vielleicht kommt wieder einmal eine Zeit, in der solche Hilfe, solche Solidarität, solche Werte für den Zusammenhalt in unserem Land genauso eine grosse oder grössere Rolle spielen werden als die verbrieften Rechte und Ansprüche. Versicherungen sind gut, aber sie ersetzen diese Werte nicht. Das eine deckt die Schäden gewissermassen von oben, das andere aber hilft von unten.

Diese Werte, welche die meisten für selbstverständlich halten, bis sie selbst auf solche angewiesen sind. Werte, ohne die auch in der heutigen Schweiz, weder die Spitex, noch die Pfadi, weder die Gemeindebibliotheken, noch die Kinderbetreuung, weder die Turnvereine noch die Feuerwehr funktionieren würden. Weil sie eben oft auf Freiwilligenarbeit, auf sozialem Engagement und auf der Überzeugung beruhen, dass hier geholfen werden muss, ohne dafür grossen Lohn zu erwarten. Diese Werte stellen ein unterschätztes Volksvermögen dar, das in keiner BIP Statistik auftaucht. Aber wenn wir diese Werte nicht hochhalten und pflegen, könnte uns das einmal im doppelten Sinn des Wortes teuer zu stehen kommen.

Die Glückskette, meine Damen und Herren, macht mich zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. Sie hat, zusammen mit den neuen Mitteln des Radios, heute vor 70 Jahren begonnen, jedes Mal daran zu erinnern, wenn eine Katastrophe geschieht: „Es hätte jede und jeden treffen können. Auch uns. Niemand zwingt dich, etwas zu geben. Du erhältst auch nichts dafür. Ausser die wunderbare Gewissheit, damit jemanden geholfen zu haben, der ein Opfer eines bösen Zufalls ist“.

Zunächst half sie nur bei Katastrophen in der Schweiz und in Westeuropa. Sie tat gut daran, ab 1960 ihre Solidarität weltumspannend zu leben. Not kennt keine Grenzen, und echte Hilfe auch nicht.

Und es ist wirklich eindrücklich, wie geholfen wird. Vom Sackgeld der Kleinsten bis zum Verzicht auf Firmenanlässe und Betriebsausflüge zugunsten von Erdbeben- oder Unwetteropfern, in oder eben weit weg von der Schweiz.

Für dieses Engagement der Glückskette und vor allem für die enorme Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung möchte der Bundesrat heute Danke sagen. Und Gratulieren. Im „Esau“ von Jeremias Gotthelf gab es eine sonderliche Figur, die heute kaum mehr einer kennt: der Sime Sämeli, einer der meinte, er sei sich selbst genug und sei auf niemanden angewiesen: „Sime Sämeli war keine Staatsmajestät“ schrieb Gotthelf, „aber für eine souveräne Staatsmajestät hielt er sich selbst. Sein Reich war sein Geldseckel, und wer dieses Reich ihm angriff, der war sein Feind. Darum hasste er niemand ärger als dBettler und Regierig“. Obwohl diese Sime Sämelis inzwischen nicht ganz ausgestorben sind in der Schweiz, der allergrösste Teil der Schweizer Bevölkerung weiss genau, dass das Portemonnaie nicht alles ist, und dass es sich lohnt, über dessen Rand hinauszudenken. Und stolz ist man auch nicht auf den Inhalt des Geldseckels, sondern auf das, was man daraus macht.


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