Die Schwarze Spinne heute

Bern, 31.07.2016 - Rede von Bundesrat Ueli Maurer anlässlich der Bundesfeier 2016 vom 31. Juli in Fischingen und Bussnang sowie vom 1. August in Sattel, Turbenthal, Mühleberg und Mettmenstetten

Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Ich freue mich, mit Ihnen heute den Geburtstag unserer Heimat zu feiern. Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit. Wir leben in grossem Wohlstand; wir leben in einem geordneten, gut organisierten, wunderschönen Land. Wir haben Rechte, um die uns Menschen überall auf der Welt beneiden. Und wir haben als Bürgerinnen und Bürger dank der direkten Demokratie die Freiheit, auch den Weg in die Zukunft frei zu wählen.

Unser Dank gilt auch den Generationen vor uns, die dieses Land mit grossem Einsatz und vielfach unter Entbehrungen aufgebaut und erhalten haben.

Heute möchte ich an einen grossen Schweizer erinnern, der unserem Land viel gegeben hat: Albert Bitzius, besser bekannt als Jeremias Gotthelf. 

Vor 162 Jahren ist Gotthelf gestorben. Seine Botschaften aber sind zeitlos und heute genauso aktuell wie damals. Es ist immer wieder spannend zu lesen, was er uns an Literatur hinterlassen hat.

Gotthelf war kein abgehobener Intellektueller. Gotthelf stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er war ein scharfer Beobachter und ein unermüdlicher Kämpfer. Wenn er schrieb, dann schöpfte er direkt aus dem Leben. In seine Sprache mischte er häufig Ausdrücke aus der Mundart. Seine Literatur war für ihn nicht einfach Kunst um der Kunst willen; er wollte warnen und erziehen, auch anklagen und urteilen. Viele seiner Texte sind darum so etwas wie eine Gebrauchsanleitung fürs Leben.

Gotthelf war Pfarrer. Er interessierte sich als Seelsorger für den einzelnen Menschen mit seinen Stärken und Schwächen, aber als Bürger auch für Staat und Gesellschaft. In seiner direkten Art formulierte er das so:

„Wer nicht ein stummer Hund ist, kann bei der heutigen Politik nicht mehr in Geduld und Sanftmut schweigen ...“ (Quelle:  Otto von Greyerz, Jeremias Gotthelf, Erlenbach – Zürich, [1932], S. 8)

Nach diesem Vorsatz hat er gekämpft und geschrieben. Klar und deutlich. Ich denke gerade in der Politik oft an Gotthelf. Zum Beispiel an seine berühmte Novelle „Die Schwarze Spinne“. Wir finden darin verblüffende und unheimliche Parallelen zu heute.

Für alle, die „Die Schwarze Spinne“ nicht mehr ganz präsent haben, fasse ich die Handlung kurz zusammen:

Stellen Sie sich einen wunderschönen, grossen Bauernhof im Bernbiet vor. An einer Tauffeier bewundern die Gäste das prächtige, neu gebaute Haus. Als ihnen auffällt, dass ein uralter, schwarzer Balken ins neue Gebälk eingebaut worden ist, beginnt der Grossvater zu erzählen, was es damit auf sich hat.

Das Dorf gehörte vor Jahrhunderten einem Ritter. Dieser unterdrückt die Bauern, presst ihnen immer höhere Steuern ab und zwingt sie zu harter Fronarbeit. Die Unterdrückung wird immer schlimmer; was er verlangt, immer absurder.

In der Not gehen die Leute im Dorf einen Pakt mit dem Teufel ein. Dieser fordert als Gegenleistung für seine Hilfe ein ungetauftes Kind. Der Vertrag wird besiegelt, indem der Teufel eine Bäuerin auf die Wange küsst. Der Teufel zaubert hin, was die Bauern in Fronarbeit leisten müssten. Aber dann verlangt er natürlich seinen Lohn: Das nächste Kind, das geboren wird. 

Als die Leute aus dem Dorf dann das Kind dem Teufel ausliefern wollen, kommt gerade noch rechtzeitig der Pfarrer dazwischen und rettet es durch die Taufe. Aber damit beginnt der Horror erst richtig: Die Bäuerin spürt auf ihrer Wange einen brennenden Schmerz. Dort, wo der Teufel sie geküsst hat, entsteht ein schwarzer Fleck, der anschwillt und zu einer schwarzen Spinne wird. Am Schluss verwandelt sich die Bäuerin ganz in diese Spinne.

Diese schwarze Spinne wütet dann entsetzlich im Dorf. Jeder, der sie berührt, muss sterben. Unter Aufopferung des eigenen Lebens sperrt schliesslich eine mutige Frau die Spinne in das Loch eines Türpfostens. Da bleibt sie über Jahrhunderte gefangen; unbesiegt aber sicher weggesperrt.

Das Dorf gedeiht, das Dorf blüht. Dann aber, mit wachsendem Wohlstand, geraten alte Regeln und Bräuche allmählich in Vergessenheit, überlieferte Weisheiten werden angezweifelt. Die Sitten lockern sich; Traditionen werden erst belächelt, dann verlacht. Und eines Nachts, auf dem Höhepunkt eines ausschweifenden, wilden Festes, reisst ein Knecht den Pfropfen vom Loch – und die schwarze Spinne ist wieder da. Erneut bringt sie Unglück, Tod, Terror.

Wieder braucht es jemanden aus dem Dorf, der sich freiwillig opfert und die schwarze Spinne in das Loch im Balken sperrt. Und seither wird der Balken bei jedem Umbau oder Neubau sogfältig wieder eingebaut.

„Die Schwarze Spinne“ gehört mit ihren starken Bildern und Symbolen zu Gotthelfs Meisterwerken. Was im Gewande einer alten Volkssage daherkommt, ist höchst politisch und absolut zeitlos. Gotthelf hält drei Botschaften für uns bereit, die gerade heute wieder erschreckend aktuell sind. Auf diese drei Botschaften möchte ich näher eingehen:

1.     Versprechen von magischer Hilfe haben immer einen Haken. Über kurz oder lang wird die Rechnung präsentiert.

2.     Werte haben einen Wert.

3.     Unser Land lebt von engagierten Bürgern.

Versprechen von magischer Hilfe

Das Unglück beginnt damit, dass sich die Bauern von einem blenden lassen, der da in ihr Dorf kommt und das Blaue vom Himmel verspricht. Was sie nur unter grossen Anstrengungen zustande bringen, soll plötzlich ganz einfach gehen.

Als Land, als Volk waren wir in unserer Geschichte schon oft in einer ähnlichen Situation. Das Leben ist ja immer ein Chrampf und ein Kampf, auch wenn es einem gut geht. Da ist man anfällig für Versuchungen und Verlockungen. Da hört man gerne hin, wenn jemand verspricht, jetzt werde alles neu, bequemer und besser.

Als Vorsteher des EFD erlebe ich das immer wieder: Wie schnell ruft man nach dem Staat! Der Staat soll eingreifen, soll regeln, soll organisieren, soll zahlen.  

Solche fremde, vermeintlich magische Hilfe hat immer einen Preis, genau wie in Gotthelfs Novelle. Aber die Rechnung wird eben erst im Nachhinein präsentiert. Der Staat wird aufgebläht und die Freiheit der Bürger wird eingeschränkt. Wo das hinführt, sehen wir in den südlichen EU-Staaten: Hohe Arbeitslosenzahlen, immer höhere Staatsschulden, Bürokratie, wirtschaftlicher Ruin und Verarmung des Mittelstandes. 

Ich wehre mich darum gegen neue Staatsaufgaben. Denn auch in der reichen Schweiz muss das Geld zuerst verdient werden, das man ausgibt. Wir dürfen nicht vergessen: Das Geld, das der Staat ausgibt, muss er in Form von Steuern, Abgaben und Gebühren zuerst jemandem wegnehmen. Oder dann macht er Schulden, die dann die nächste Generation bezahlen muss.

In den letzten Jahren sind die Ausgaben für soziale Wohlfahrt und die Beziehungen zum Ausland stark gewachsen. Jetzt kommen noch massiv steigende Kosten für das Asylwesen dazu. Wir müssen jetzt sehr gut aufpassen, dass der Haushalt nicht aus dem Gleichgewicht kommt. Und das schaffen wir nur, wenn wir nicht länger daran glauben, der Staat könne in jeder Lage so etwas wie magische Hilfe bringen, die uns nichts kostet. Jede Aufgabe, die wir dem Staat übertragen, jede Fehlentwicklung, die wir nicht unterbinden, bezahlen am Ende des Tages die Bürgerinnen und Bürger.

Auch in andern Bereichen lockt man die Schweiz mit Versprechen von zauberhaften Möglichkeiten. Dem Binnenmarkt der EU zum Beispiel werden Wunder zugeschrieben. Und gleichzeitig erleben wir Druck und Drohungen: Zuckerbrot und Peitsche, so will man uns gefügig machen.

Die neueste Forderung der EU stellt die Schweiz sogar als souveränes Land in Frage: Sie verlangt, dass wir ihr Recht übernehmen. EU-Recht würde dann also unserem Schweizer Recht vorgehen; fremdes Recht hätte Vorrang vor unserem eigenen Recht, das wir hier in unserem eigenen Land demokratisch beschliessen.

Und damit nicht genug: Wir müssten nicht nur das bestehende EU-Recht übernehmen, sondern auch alles zukünftige. Also Gesetzesbestimmungen, die wir noch gar nicht kennen. Und wir müssten uns fremden Richtern unterstellen. Das wäre das Ende der unabhängigen Schweiz.

Wer einem solchen Vertrag zustimmt, der muss sich nicht wundern, wenn ihm nachher die Wange brennt, so wie Gotthelfs Bäuerin nach dem unseligen Pakt.

Der Wert der Werte

Gotthelf will uns mit der „Schwarzen Spinne“ noch etwas anderes sagen: Seine zweite Botschaft handelt vom Wert der Werte.

Mich fasziniert die Szene, wo nach einer langen Epoche des Wohlstandes während eines rauschenden Festes der Pfropfen aus dem Loch gerissen und die Spinne befreit wird – weil man sich schlicht nicht vorstellen kann, dass die Gefahr tatsächlich noch da ist. Denn es ging allen sehr lange sehr gut. Da nehmen Sorglosigkeit und Übermut zu; es verbreiten sich Selbstgefälligkeit und eine gewisse Überheblichkeit. Alte Grundsätze gehen vergessen. Was früher wichtig war, wird belächelt. Über Werte und Traditionen macht man sich lustig.

„Die Schwarze Spinne“ hat eine unglaublich starke Symbolik. Auch für unsere heutige Gesellschaft, auch für unseren Umgang mit Tradition, Anstand, Disziplin, Werten und Tugenden. Manchmal habe ich den Eindruck, so wie wir heute mit unseren traditionellen Werten umgehen, seien wir drauf und dran, den Pfropfen aus dem Loch zu reissen ... 

Gotthelf warnt uns: Wenn man die eigene Vergangenheit, die eigene Geschichte vergisst, dann wiederholt man die Fehler von früher. Wenn eine Gesellschaft die traditionellen Werte verliert, verliert sie auch den Halt.

Mettmenstetten: Geschichte formt über Jahrhunderte das Wesen einer Gesellschaft, prägt die Mentalität, schafft eine Identität. 1116 ist das offizielle Geburtsjahr von Mettmenstetten. Ihre Gemeinde ist 900 Jahre alt.

Mühleberg: Geschichte formt über Jahrhunderte das Wesen einer Gesellschaft, prägt die Mentalität, schafft eine Identität. 1016 ist das offizielle Geburtsjahr von Mettmenstetten. Ihre Gemeinde ist 1‘000 Jahre alt.

Älter als die Eidgenossenschaft. Älter als Bern. Natürlich, vieles hat sich seither verändert. Aber viel von dem, das uns zu dem macht, was wir sind, hat seine Wurzeln in unserer Geschichte. Ich denke an unsere Sprache, an Werte, an Erfahrungen, auch an unsere Religion.

Ich habe kein gutes Gefühl, wenn man uns von unseren Wurzeln trennen will. Ich verstehe die Leute, die um unsere Identität fürchten. Die meisten von uns haben ein Bedürfnis nach Heimat, nach einem Ort, wo man sich zu Hause fühlt. Das ist nicht hinterwäldlerisch oder altmodisch, sondern normal. Ich meine, unsere Politik sollte diesem berechtigten Bedürfnis besser Rechnung tragen.

Das gilt auch für unsere traditionellen staatspolitischen Werte: Die Schweiz ist darum gut gefahren, weil wir uns als Kleinstaat bewusst anders verhalten haben als andere. Dank unserer bewaffneten Neutralität haben wir uns im 20. Jahrhundert von Kriegen fernhalten können. Dank unserer Unabhängigkeit sind wir totalitären Experimenten entgangen.

Dank unserer freiheitlichen Ordnung haben die Leute in unserem Land so viele Rechte wie sonst nirgends. Und dank dieser freiheitlichen Ordnung steht die Schweiz auch wirtschaftlich gut da, während viele Länder in Europa unter der Euro-Krise und hoher Arbeitslosigkeit leiden.

Unser Land lebt dank aktiven Bürgern

Ich komme zu Gotthelfs dritter Botschaft: In seiner Novelle sind es am Schluss gewöhnliche Leute aus dem Dorf, welche die Gefahr bannen. Sie opfern sich selbst, damit die Gemeinschaft wieder in Frieden leben kann. Sie handeln nach dem Leitsatz: „Einer für alle, alle für einen“. Wenn Sie einmal in Bern das Bundeshaus besuchen, dann schauen Sie in der Eingangshalle nach oben. In der Kuppel finden Sie dieses Bekenntnis als Inschrift.

Unser Land hat dank diesem Grundsatz die Jahrhunderte überlebt und es zum heutigen Wohlstand gebracht. Wir sind auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die etwas anpacken, die freiwillig mehr leisten, die ihre besonderen Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellen.

So funktioniert das Vereinsleben überall in unserem Land. So funktioniert das öffentliche Leben in den Gemeinden. Bundesfeiern wie heute in Ihrem schönen Dorf sind ein Beispiel dafür. Sie finden dank den Frauen und Männern statt, die dafür ihre Freizeit einsetzen.

Und so funktioniert auch unser Staatswesen: Dank den Leuten, die Milizfunktionen übernehmen, in Schule und Kirche, in den Gemeinden, den Kantonen, beim Bund, in der Armee – und vor allem auch Bürgerinnen und Bürger, denen das Land nicht gleichgültig ist; die an die Urne gehen und die direkte Demokratie leben.

Fazit

Ich fasse Gotthelfs Botschaften aus der „Schwarzen Spinne“ zusammen:

Erstens: Versprechen von magischer Hilfe haben immer einen Haken. Über kurz oder lang wird die Rechnung präsentiert. Zweitens: Werte haben einen Wert. Drittens: Unser Land lebt von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich für das Land einsetzen und mehr leisten, als sie müssten.

Gotthelf nimmt uns als Menschen und als Staatsbürger in die Pflicht. Er macht uns klar, dass es an uns liegt, in welche Zukunft wir gehen. Manchmal wäre es ja bequem, man könnte sich einfach nur um die eigenen, privaten Angelegenheiten kümmern. Um Beruf und Hobbies, um Familie und Freunde. Aber das reicht nicht. Die Schweiz ist deshalb über all diese Jahrhunderte ein freies Land geblieben, weil sich die Bürger nicht nur auf ihr eigenes Wohlergehen konzentrierten, sondern Anteil nahmen am Schicksal ihrer Heimat.

Wir stehen auch jetzt wieder vor wichtigen Entscheidungen – und die Weichen stellen letztlich Sie als Bürgerinnen und Bürger. Denn dank unserer direkten Demokratie haben Sie als Souverän das letzte Wort.

Es gibt Ideen, unser Land mit immer mehr internationalen Verträgen so weit in supranationale Strukturen einzubinden, bis wir unsere Eigenheiten alle aufgegeben und unsere Eigenständigkeit verloren haben. Die Schweiz gäbe es dann nur noch als geographischen Begriff auf der Landkarte.

Ich bin überzeugt, es gibt auch einen andern Weg. Wir können an unserer bewährten Unabhängigkeit und an unserer freiheitlichen Ordnung festhalten. Wir können den erarbeiteten Wohlstand und unsere besondere Lebensqualität bewahren. Und wir können unsere direkte Demokratie und unsere Rechte als freie Bürger verteidigen.

Aber dieser Weg ist nur möglich, wenn die Bürgerinnen und Bürger weiterhin den Mut und die Kraft haben, zu unserem Land und zu unserer Freiheit zu stehen. Freiheit gibt es nicht einfach so. Freiheit braucht immer einen Einsatz – Freiheit braucht Ihren Einsatz.

Oder eben, wie es Gotthelf gesagt hat: „Wer nicht ein stummer Hund ist, kann bei der heutigen Politik nicht mehr in Geduld und Sanftmut schweigen ...“

 


Adresse für Rückfragen

Peter Minder, Leiter Kommunikation EFD, E-Mail: peter.minder@gs-efd.admin.ch, Tel: 079 437 73 61


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