Das Standbein und das Spielbein - Gedanken zur Agilität

Bern, 09.06.2016 - Swiss Economic Forum Eröffnungsrede von Bundespräsident Johann Schneider-Ammann Interlaken, 9. Juni 2016

Es gilt das gesprochene Wort!

Herr Dr. Isler,
Frau Nationalratspräsidentin,
Herr Bundeskanzler,
Mitglieder der eidgenössischen Räte,
Damen und Herren Regierungsräte,
Exzellenzen,

sehr geehrte Damen und Herren.

Ein plakatives Forums-Motto führt leicht in Versuchung, den Begriff des Tages zum Imperativ zu erheben. Das Wort „Agilität" ist so ein Motto. Wer wollte da dagegen sein; wer wäre lieber träg, schwerfällig, unmodern? Mehr noch: Agilität ist auch nüchtern betrachtet (und dazu neige ich) eine unverzichtbare Qualität. Besonders in dynamischer Zeit, in der die vierte industrielle Revolution bereits im Gange ist.

I. Vernetzung, Komplexität, Unvorhersehbarkeit

Und unsere Zeit ist dynamisch: Die Digitalisierung hat die Vernetzung hochgetrieben - und die Vernetzung die Komplexität. Alles in noch nie dagewesenem Ausmass, so schnell wie das Licht und offen im Ausgang. Sogar Dinge interagieren untereinander. Da lässt sich nicht mehr allzu viel vorhersagen.

Wir wissen: Komplexität ist nur annähernd verstehbar und überhaupt nicht berechenbar. Sie macht Planungen zum Risiko und Entscheide oft zum va-banque-Spiel. Man muss jederzeit auf dem Sprung sein, Entwicklungen mitverfolgen, Muster erkennen, Daten deuten, rasch reagieren und sich auf Neues ein- und umstellen können.

So gesehen, ist Agilität tatsächlich ein Imperativ. Und ihr Gegenteil ein no-go.

Agilität heisst freilich auch Volatilität, Umorientierung und Unbeständigkeit. Agilität bedeutet: Taktik ist König. Heute hier, morgen dort. Und das wiederum stellt erfolgreiche unternehmerische und politische Führungswelten infrage: Stabilität, Berechenbarkeit und robuste Strategien, beeinflussbare Ziele, begründbare Entscheide, Investitionsschutz und verlässliche Entscheidgrundlagen - kurz: Leadership-Rezepte im herkömmlichen Stil.

Mehr noch: Agilität kann im Endeffekt zu inkonstanten Identitäten führen, zu austauschbaren Kulturen und beliebig rotierenden Identifikationen. Agilität hätte am liebsten gar keine Rahmenbedingungen. Und wer es ganz schlecht meint, sieht im Agilen gar den opportunistischen Überlebenskünstler ohne Verantwortungssinn.

Nun, so wie es „die Agilität" im alles umfassenden Singular nicht gibt, gibt es auch „die Wirtschaft" oder „die Politik" nicht. Was für die einen Programm ist, kann für andere unmöglich sein. In der Software-Branche sieht es anders aus, als in der Schwerindustrie. Bei Grossen anders als bei Kleinen. Und in der Wirtschaft anders als in der Politik.

II. Die glänzende Seite der Medaille

Was bedeutet also der Bedarf nach Agilität für die Schweiz, was für die Wirtschaft, was für die Politik?

Nun, Agilität mag in stürmischer Zeit unbestreitbar nötig sein. Gleichzeitig ist sie eben auch riskant. Schauen wir also beide Seiten der Medaille an.

99% der Unternehmen in der Schweiz sind KMU, über eine halbe Million. Drei Viertel davon sind Familienunternehmen. Sie bilden zusammen mit dem wichtigen Prozent der Weltkonzerne ein bestens funktionierendes Räderwerk. Davon lebt die Schweiz.

Dennoch: Ich weiss, dass einige hier im Saal in Sorge sind und nicht wissen, ob und wie es mit ihrem Unternehmen weitergeht. Ich weiss auch, dass viele von Ihnen Margenopfer bringen, um Innovation und Beschäftigung aufrecht zu erhalten. Das ist alles andere als selbstverständlich und ich danke dafür.

Tatsache bleibt, dass die Schweiz in wesentlichen internationalen Rankings in einer eigenen Liga spielt: EU-weit tiefste Arbeitslosen- und höchste Erwerbstätigenquote, Innovationsweltmeister, Bestnoten bei Wertschöpfung, Industrie-Exporten, Direktinvestitionen und Wettbewerbsfähigkeit. Und das trotz Frankenstärke, Wirtschaftsdelle und starker globaler Konkurrenz!

Dieses Resultat ist der Fähigkeit des Schweizer Unternehmertums zu verdanken, auch in schweren Zeiten nicht zu verzagen, sondern zu wagen. Und es ist Mitarbeitern zu verdanken, die Hervorragendes leisten.

In internationalen Vergleichen schneidet die Schweiz sogar ausgezeichnet ab. So sehr, dass es überall auf der Welt Aufsehen erregt. Ausser bei uns. Hierzulande gilt Erfolg als selbstverständlich, Gewinne sind suspekt und Wachstum wird kaum je als Garant unseres Gedeihens erkannt.

Trotzdem: 550›000 Unternehmen – eine Erfolgsgeschichte. Können wir also die Beine hochlegen?

III. Die Kehrseite

Nein. Der für die Schweiz so formidable Global Competitiveness Index macht uns nicht sorgenfrei. Es gibt eben auch andere statistische Werte, also die Kehrseite des Glanzstücks.

Und weil ich als Politiker hier stehe, lege ich den Finger auf wunde Punkte, welche die Politik betreffen: So ortet die Weltbank Schweizer Schwächen bei der Bürokratie und bei der Kompliziertheit des Steuersystems. Und gar Risiken weist sie bei der mangelnden Unternehmerfreundlichkeit der Regulierung und beim rückläufigen Innovationstempo aus.

Das heisst, wir müssen die Regulierung nicht nur lichten, sondern roden. In der Schweiz gibt es 4’768 bundesrechtliche Erlasse und Staatsverträge. Das füllt über 65›000 Seiten. Aneinandergereiht ergibt das eine Strecke von hier (Interlaken) bis Brienz, durch die man sich in engem Abstand und kleiner Schrift Zeile für Zeile durchlesen muss. Jährlich kommen über 7›500 neue Seiten dazu. Das sind 144 Seiten pro Woche. Nicht mitgezählt sind all die kantonalen und kommunale Erlasse sowie die Vorschriften nationaler und internationaler Aufsichtsbehörden.

Das ist zu viel Ballast. Der Forschungsaufwand in der Schweiz sollte sich nicht im Ergründen stets neuer behördlichen Auflagen erschöpfen. Er muss neue und bessere Entwicklungen und Produkte generieren.

IV. Die Antwort der Politik

Solche hausgemachten Hürden auf dem Weg zum Erfolg haben Folgen für die Schweiz. Und sie haben Folgen für unsere auf nachhaltiges Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Die Schweiz mit knappen Ressourcen auf dem Weltmarkt erfolgreich sein. Das erfordert von den Unternehmen gewaltige Investitionen in Wissen, Können, Innovation und Anlagen. Und das wagt nur, wer sich auf einem stabilen Standort mit zuverlässigen liberalen Rahmenbedingungen weiss.

In einem Land mit einem stabilen politischen System, mit langlebigen Gesetzen, hervorragenden Infrastrukturen, besten Schulen und geschützten Investitionen. In einem Land mit verfügbaren Spitzenkräften auf jedem Gebiet, spielendem Wettbewerb und offenem Freihandel. In einem Land mit Handlungsspielräum, die nicht von Schuldenbergen versperrt werden. In einem Land, das nicht wegen jeder tagespolitischen Aufgeregtheit gleich die Gesetzesmaschinerie anwirft. In einem Land, in dem die Bundesverfassung nicht zum Spielfeld für brandgefährliche wirtschaftspolitische Experimente wird. In einem Land, das sich auf seine Stärken besinnt und Einsatzbereitschaft belohnt, so wie es die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am letzten Sonntag an der Urne getan haben. Und in einem Land, das Bildung, Weiterbildung und Leistung bejaht - denn Agilität und stete Weiterbildung sind Zwillinge. Auch deshalb ist Horizon 2020 so wichtig für die Schweiz und ihre Zukunft.

Damit sind die wichtigsten politischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Standort genannt. Für die Politik bedeutet das, dass wir unsere langfristigen freiheitlichen Wirtschaftskurs weiterführen. Wir müssen Unternehmertum ermöglichen, nicht schikanieren. Wir müssen Wettbewerb erleichtern, nicht intervenieren. Wir müssen zu Agilität befähigen, sie nicht bremsen. Momentgetriebener industriepolitischer Aktivismus ist Gift, er mumifiziert wettbewerbsunfähige Strukturen. Er mauert den Arbeitsmarkt mit Vorschriften und Verboten zu, statt ihn flexibel zu halten. So schafft man nicht Vollbeschäftigung, sondern setzt sie aufs Spiel.

Mein Ziel „Jobs für alle" gelingt nur mit einer gesunden Wirtschaft, die mit Ausdauer, Spitzenleistungen und Reformbereitschaft den Erschütterungen der letzten eineinhalb Jahren trotzen kann. Ans Ziel kommen wir aber nur gemeinsam. Bringen Sie sich also ein. Erklären Sie in Ihrem Umfeld, wie Unternehmertum funktioniert. Zeigen Sie auf, was soziale Verantwortung heisst. Kämpfen Sie weiter. Ich tue es auch.

International müssen und werden wir unser Verhältnis zu Europa klären. Dazu gehört, dass wir uns den Zugang zu benötigten ausländischen Fachkräften nicht über das verfassungsmässig Nötige und aussenpolitisch Mögliche hinaus beschränken. Im Gegenteil, wir sind auf sie angewiesen. So wie wir auf die Nutzung und Förderung der eigenen Fachkräfte angewiesen sind. Für die Schweizer Wirtschaft entscheidend sind jedoch nicht nur bilaterale Freihandelsabkommen, sondern auch Welthandelsverträge. Diese sind eine Voraussetzung für Grosstaten von Kleinstaaten. Zwar nicht weltumspannend, aber doch sehr weitreichend, wäre der Anschluss der Schweiz an das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU, dem TTIP. Kommt der Vertrag zum Abschluss und ist er für die Schweiz offen, dann müssen wir mitmachen. Abseitsstehen brächte uns massive Nachteile. Das ist keine Option. Deshalb sind und bleiben wir nahe dran.

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen.

Stabilität, Zugang zu Märkten und (im Tausch gegen die Verantwortung) Freiheiten ist und bleibt die Basis für dauerhafte Spitzenleistungen. Bestmögliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist der Kern unserer Wirtschaftspolitik. Agilität ist auch wichtig. Aber sie ist keine staatliche Rahmenbedingung, sondern die Fähigkeit der Unternehmen, im richtigen Augenblick rasch handeln zu können. Mit einer liberalen Ordnung und einer forcierten Bildungspolitik kann der Staat diese Fähigkeit begünstigen. Deshalb liegt mir die Bildung so am Herzen.

Eine national und international erfolgreiche Wirtschaft braucht beides: langfristige Perspektiven und kurzfristige Reaktionsräume. Wer im Wettbewerb der Besten Tore schiessen will, braucht das Standbein (also die Stabilität) und das Spielbein (also die Agilität). Und Tore in der Wirtschaftspolitik sind Attraktivität, Wachstum, und Arbeitsplätze für alle.

Danke.


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