Potenzial der Migration nicht auf das Ökonomische reduzieren

Bern, 21.10.2015 - Seit der Zustimmung zur «Masseneinwanderungsinitiative» hat eine Debatte über das Potenzial hier lebender Arbeitskräfte eingesetzt. Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen EKM hat diese Debatte an ihrer Jahrestagung am Donnerstag in Bern erweitert, über die ökonomischen Aspekte hinaus.

Der bulgarisch-deutsche Schriftsteller Ilija Tronjanow, der selber eine vielfältige Migrationsgeschichte hat, machte sich Gedanken über erfolgreiche Kulturbegegnung. Ihr Geheimnis sei es, «dass sie nämlich nach Innen ins Eigene dringt, mit der Überzeugung, man könne und müsse das Eigene durch die Fremde anreichern, verändern, von der Erkenntnis getragen, der Unterschied zwischen dem Eigenen und der Fremde sei nur eine momentane Differenz, eine Flüchtigkeit in der Geschichte.» Und er betonte, dass die moderne europäische Kunst ohne «Schmuggelware aus anderen Kulturen heute undenkbar wäre»: «Gauguin und van Gogh schlichen durch Japan; Picasso, Braque und Kirchner tummelten sich in Westafrika und Ozeanien; Matisse, Klee und Macke trieben sich in Nordafrika und der Türkei herum, und Kandinsky, Mondrian und Malewitsch irrten durch die asiatische Spiritualität.»

Thomas Facchinetti, ein Pionier der Integration und heute Exekutivpolitiker in der Stadt Neuenburg, wies auf das demokratische und Innovations-Potenzial hin: In der Legislative der Stadt Neuenburg seien 22 Prozent der Gewählten ausserhalb der Schweiz geboren (der Kanton Neuenburg hat das Ausländerstimmrecht bei seiner Gründung eingeführt). Man müsse einsehen, dass Citoyenneté nicht ein Geschenk sei, das man an jene Migranten verteile, welche es sich verdient hätten. Citoyenneté sorge vielmehr für notwenige Auffrischung unserer Institutionen und Debatten. Das gelte auch für den Wirtschaftsbereich: Über die Hälfte aller Firmengründungen im Kanton Neuenburg gehen auf Ausländerinnen und Ausländer zurück.

Der französische Soziologe Michel Kokoreff und die Schweizer Soziologin Anne Juhasz Liebermann wiesen vor allem auf die Hindernisse hin, die der Entfaltung des Potenzials in den Weg gestellt werden. Frankreich im Blick, stellte Kokoreff fest, dass «die Migranten und die Kinder der Migranten nicht nur schlechtere Jobs haben, sondern auch stark Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt sind». Ihr Potenzial werde unterdrückt, gebremst oder verkannt. Er hat 20 Jahre lang die Entwicklung von 200 Personen in Pariser Banlieus beobachtet. Viele derjenigen, die in den Neunzigerjahren die Schule abgebrochen, keine Arbeit hatten und teilweise in der Illegalität agierten, hätten es heute, 20 Jahre später, geschafft. Fast alle hätten eine Familie gegründet, würden arbeiten, viele in wichtigen und anerkannten Positionen. Laut Anne Juhasz Liebermann ist der Moment der schulischen Selektion für viele Migrantenkinder ein Hindernis: Dieser Moment müsse möglichst spät angesetzt werden. Denn je früher die Selektion erfolge, «umso wahrscheinlich ist es, dass statt der Fähigkeiten der Kinder ihre soziale Herkunft bewertet wird».

Ekrem Şenol hat das deutsche News-Magazin «Migazin» gegründet: «Ich fand mich in den klassischen Medien nicht wieder. Ich fühlte mich nicht angesprochen. Entweder wurden meine Themen nicht gebracht oder verzerrt dargestellt. Meine Positionen kamen selten vor oder wurden von anderen vorgetragen. Ich war nie Teil dieser Debatte. Ich hatte keine Möglichkeit, mitzudiskutieren, mitzugestalten.»

Die Themenwahl für die diesjährige EKM-Tagung ging auf intensive Diskussionen in der Kommission selbst zurück, wie Vizepräsidentin Fiammetta Jahreiss erklärte. Die Referate gaben (Teil-)Antworten auf diese Fragen: «Weshalb werden Menschen mit einer Migrationsgeschichte vorwiegend als Problem wahrgenommen? Weshalb begegnet man Ausländerinnen und Ausländern zunächst immer mit Skepsis?» Fragen, welche viele Menschen bewegen: Über 220 Personen besuchten die Veranstaltung.


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