Gedenkfeier zum 500. Jahrestag der Schlacht von Marignano

Bern, 13.09.2015 - Rede von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga

Es gilt das gesprochene Wort.
  

Tausende Soldaten haben vor 500 Jahren auf diesem Feld gekämpft.
Niemand ahnte damals, dass die Schlacht die Nachwelt so lange beschäftigen würde.

Doch Marignano lässt uns nicht los.
Der Begriff Marignano steht heute für mehr als bloss eine Schlacht.

Die "Schlacht der Giganten" ist zum Mythos geworden – zumindest für uns Schweizerinnen und Schweizer. Generationen von Schulkindern haben gelernt, dass die Erfolgsgeschichte einer neutralen Schweiz in Marignano ihren Anfang genommen hat.

Marignano führt uns so vor Augen, dass Geschichte nicht einfach das ist, was einst passiert ist. Geschichte ist mehr als Fakten und Jahreszahlen:

Geschichte ist stets auch Gegenwart.

Sie erhält ihre Bedeutung erst dadurch, wie wir uns an sie erinnern. Denn im Blick zurück vergewissern wir uns, wer wir sind, und wer wir sein wollen.

Die Erinnerung schafft so Orientierung für die Gegenwart und Zukunft. Erinnerung ist daher wichtig.

Wir wissen alle, wie komplex unsere Erinnerung ist: Vieles vergessen wir ganz einfach. Anderes wird in unserer Erinnerung grösser, schöner oder schlimmer, als es wirklich war.

Doch bei aller Freiheit, mit der wir uns erinnern: Wir können die Vergangenheit nicht für Zwecke der Gegenwart zurechtbiegen.

Ansonsten ziehen wir die falschen Lehren für die Zukunft.

Das gilt für den Einzelnen. Und genauso gilt es für eine Gemeinschaft oder eine Nation.

Hüten wir uns deshalb vor voreiligen Schlüssen, wenn wir in die Vergangenheit blicken.
   

Was ist in Marignano passiert? – Darüber sind wir uns heute weitgehend einig.

Auf diesem Boden kämpften Truppen der Alten Eidgenossenschaft gegen die Heere des französischen Königs und der Republik Venedig.

Sie kämpften um Mailand, eine Hauptstadt der Renaissance. Die Schlacht wurde zu einem Gemetzel, das auf beiden Seiten Tausende Opfer forderte. 

Die Eidgenossen waren im Vorfeld der Schlacht untereinander zerstritten. Einzelne Orte suchten mit Frankreich eine Verhandlungslösung. Doch Inner- und Ostschweizer stemmten sich gegen eine Einigung. Sie entschieden sich, zu kämpfen.

In der Schlacht wurden sie vom Fortschritt eingeholt. Während das französische Heer Kanonen und Gewehre wirkungsvoll einsetzte, kämpften die Eidgenossen wie ihre Vorfahren mit Beilen, Schwertern und Hellebarden.

Marignano war nicht die letzte Schlacht, welche die Eidgenossen in Norditalien schlugen. 1522 und 1525 kämpften sie auf der Seite des französischen Königs. Tausende von Söldnern mussten ihr Leben damals und später für fremde Fürsten lassen. Am engsten war die Soldallianz seit dem Frieden von Fribourg von 1516 mit Frankreich.

Marignano bedeutete auch nicht das Ende der Kriegszüge in der Alten Eidgenossenschaft. Nur zwei Jahrzehnte nach Marignano eroberte Bern 1536 die Waadt von den Savoyern.

"Machend den zun nit zuo wit", soll Niklaus von Flüe danach gesagt haben. – Die berühmte Warnung bezog sich nicht auf Marignano. Die Warnung war auf den Feldzug der Berner gemünzt, stammte in Wahrheit von einem Luzerner Chronisten und spiegelte den Argwohn gegenüber dem Machtzuwachs der reformierten Stände.

Eingesetzt hatte die Reformation kurz nach Marignano. An Eroberungskriege der gesamten Eidgenossenschaft war mit der konfessionellen Spaltung nicht mehr zu denken.

Für Viele ist es deshalb vor allem die Glaubensspaltung, die das Ende der Expansionsphase der Alten Eidgenossenschaft besiegelte.

Das alles ereignete sich vor 500 Jahren und hatte mit Neutralität noch nichts zu tun. Darüber besteht unter Historikern, wie gesagt, weitgehend Einigkeit. – Wir haben also in der Schweiz keinen Historikerstreit zu Marignano.

Umstritten, sehr sogar, ist dagegen die Frage, was uns Marignano heute zu sagen hat. Das ist nichts als normal, denn solche geschichtspolitischen Debatten sind Ausdruck einer lebendigen demokratischen Kultur. 

Unterschätzen wir die Bedeutung von Mythen und von Erinnerungsorten wie Marignano nicht. Mythen sind für jede Nation wichtig.

Denn Mythen geben uns Anlass, über die eigene Identität zu reden.

Bei aller Hingabe, mit der wir die Geschichte beschwören, müssen wir jedoch aufpassen, dass wir nicht in der Vergangenheit gefangen bleiben.

Wir können uns in der Gegenwart nicht mit einer Landkarte aus dem 16. Jahrhundert zurechtfinden. Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, gab es 1515 noch nicht. Es war die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte.

Die moderne Schweiz hat ihre Gestalt erst später erhalten.

Und vergessen wir vor allem nicht: Für viele wichtige Etappen auf dem Weg zur heutigen Schweiz haben wir keine Mythen und keine Erinnerungsorte. Dennoch sind sie für unser Selbstverständnis von zentraler Bedeutung. Denken wir an:

  • die Gründung des Bundesstaats mit der Verfassung von 1848;
  • an die schrittweise Integration der sprachlichen, konfessionellen und politischen Minderheiten; insbesondere auch der italienischsprachigen Südtäler, die um 1515 herum erobert wurden und danach fast drei Jahrhunderte lange gemeinsame Untertanengebiete der deutschsprachigen Eidgenossen waren, im Umbruch von 1798 bis 1815 aber zum Teil die Chance nutzten, sich als vollwertiger Kanton in die Schweiz zu integrieren;
  • an den Ausbau der Volksrechte;
  • an die Emanzipation der Frauen;
  • an die Schaffung der Sozialwerke;
  • den Aufbau des Rechtsstaats;
  • an die internationale Einbettung der Schweiz.

Diese Meilensteine der Schweizer Geschichte stehen nicht auf Schlachtfeldern, auf denen wir uns versammeln können.

Doch sie markieren eine historische Wegstrecke, entlang derer die Schweiz zu dem geworden ist, was sie heute ausmacht.

Dazu waren Kämpfe notwendig.

Die Kämpfe wurden aber seit 1848 nicht mit Waffen ausgetragen. Sondern mit Argumenten und Stimmzetteln, von Heldinnen und Helden des Alltags.

Es waren weitsichtige Frauen und Männer, die es immer wieder geschafft haben, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Deshalb können wir heute von einer Erfolgsgeschichte sprechen.

Was wäre denn die Schweiz ohne Sozialwerke wie die AHV, ohne Referenden und Initiativen oder ohne unsere Kultur des Ausgleichs?

Und wo würden wir heute stehen ohne unser Bildungssystem oder ohne internationale Verflechtung?
    

Meine Damen und Herren, die Vergangenheit, so wird gesagt, ist die Lehrmeisterin für die Zukunft. Die Schweiz hat aber nicht nur eine Geschichte. Sie hat viele Geschichten.

Diese Geschichten sind reich an Inspiration und Vorbildern. Sie erzählen von den Schöpfern des Bundesstaates, den Vorkämpfern für die Volksrechte oder den Pionierinnen der Gleichberechtigung.

Sie zeigen Generationen von Schweizerinnen und Schweizern, welche die Eidgenossenschaft zum Land des politischen und sozialen Ausgleichs und der sprachlichen und kulturellen Vielfalt gemacht haben.

Das Schicksal der heutigen Schweiz ist nicht auf dem Schlachtfeld von Marignano besiegelt worden – aber nutzen wir die politischen Debatten rund um Marignano, um über uns nachzudenken.

Der Bundesrat erachtet die Neutralität als wichtigen Pfeiler unseres Selbstverständnisses. Die Schweizer Neutralität hatte ihren Ursprung nicht auf diesen Feldern. Aber die Erinnerung an die Schlacht von Marignano soll uns zu Diskussionen veranlassen, wie die Schweiz ihre Neutralitätspolitik im 21. Jahrhundert interpretieren soll.  

Es ist an uns, die Zukunft zu gestalten. – Das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit ziehen können.

Meine Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, Ihnen heute die Grüsse und Glückwünsche der Landesregierung zu überbringen.


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