Sprache – Schlüssel zur Verständigung

Bern, 24.03.2006 - Ansprache von Bundeskanzlerin A. Huber-Hotz am CIUTI-Forum am 24. März 2006, Genf, Palais des Nations

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Meine Damen und Herren

"Einmal ist keinmal", haben Sie sich vielleicht gedacht, und mich deshalb gleich wieder zur Eröffnung Ihrer Tagung eingeladen, nachdem ich das schon vor drei Jahren bei Ihnen sein durfte. Mich freut das sehr, und ich danke Ihnen. Sie zeigen damit, dass Sie mit Ihrer Veranstaltung den Kontakt zur Politik und zur Schweiz suchen. Auch der Tagungsort, das Palais des Nations, macht dies augenfällig, und nicht zuletzt auch die namhaften Persönlichkeiten aus der öffentlichen Verwaltung, die hier sprechen werden. Dass Sie mit Ihrem Thema auf die Politik zugehen, kann damit zu tun haben, dass die öffentliche Verwaltung nationaler und internationaler Gebilde und Organisationen ein ganz wichtiger Arbeitsmarkt für die Absolventinnen und Absolventen Ihrer Institute ist.


Sprachenpolitik und politische Sprachwissenschaft

Ich denke aber, Ihre Hinwendung zur Politik ist mehr, ist Ausdruck der Tatsache, dass Ihr Thema "Languages in a changing world" mittlerweile ganz oben auf der politischen Traktandenliste steht und dass umgekehrt die Sprach- und Übersetzungswissenschaften die politischen Dimensionen ihres Faches erkannt haben. Eine Flut von Büchern und Zeitschriftenaufsätzen in den letzten Jahren zeigen es: Sprachenpolitik und politische Überlegungen in der Sprachwissenschaft sind en vogue. Ich begrüsse das ausdrücklich.

Nehmen wir die Europäische Union:

• Ich erinnere an das Europäische Jahr der Sprachen 2001.
• Seither begeht Europa alljährlich am 26. September den Europäischen Tag der Sprachen.
• Ich erinnere an die Rahmenstrategie der EU-Kommission zur Mehrsprachigkeit vom November 2005 unter dem wunderschönen Motto "Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch".
• Und ich habe gesehen, dass im Internetauftritt der EU eine der ersten Türen zum Thema Sprachen führt – das "Europa-Sprachenportal".
Das Thema der Sprachen ist in der Europäischen Union also sehr sichtbar und präsent.

 

Auch in der Schweiz drängt das Thema Sprachen aus dem Feuilletonbund der Zeitungen nach vorn in den ersten Bund und auf die Frontseiten.
• Diesen Winter haben es zwei Themen, die früher mit Kurznotizen abgehandelt worden wären, auf die Frontseite namhafter Zeitungen in diesem Land und zu ausführlichen Meldungen in Radio und Fernsehen gebracht: eine empirische Erhebung über den Fremdsprachengebrauch in Schweizer Unternehmen und ein schmales Bändchen über die Rolle und Stellung der Dialekte in der Deutschschweiz.
• Das Sprachengesetz steht seit Jahren zuoberst auf der politischen Agenda. Nach dem Sprachenartikel in der Bundesverfassung ist nun das Parlament an der Arbeit – und das Sprachengesetz wird kommen.
• Sie haben vielleicht von den Diskussionen in der Schweiz gehört über die Frage, ob eine oder zwei Fremdsprachen in der Primarschule gelehrt werden sollen und welches die erste Fremdsprache sein soll. Volksinitiativen für nur eine Fremdsprache stehen zur Abstimmung, und eine gesamtschweizerische Vorschrift, wonach zuerst eine andere Landessprache gelehrt werden soll, ist in Vorbereitung.
• Der Nationalfonds hat ein Nationales Forschungsprogramm lanciert, in dessen Rahmen sich 30 Forschungsprojekte mit der Mehrsprachigkeit und den Sprachenkomptenzen in unserem Land befassen.
Kein Zweifel – das Thema Sprachen wird auch die politische Agenda in unserem Land in den nächsten Jahren prägen. Es wird wichtig sein – in der EU wie in der Schweiz – dass die Debatten auf hohem Niveau und im Geiste der Offenheit geführt wird. Es wird vor allem wichtig sein, nicht bei Debatten und schönen Erklärungen stehen zu bleiben, sondern Lösungen zu finden und diese dann auch in die Tat umzusetzen.


Languages in a changing world – Languages changing the world

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zum Titel Ihrer Veranstaltung machen. "Languages in a changing world" – das verstehe ich so, dass Sie die Frage stellen, was aus den Sprachen in einer sich ändernden Welt wird. Dabei sind die Sprachen gewissermassen die abhängige Variable: Sie verändern sich auf Grund der Veränderungen um sie herum. Das ist zweifellos richtig. Was kommt uns da in den Sinn? Natürlich der ökonomische und kulturelle Globalisierungsprozess, die weltweite Vernetzung durch neue Kommunikationstechnologien, die modernen Formen der Völkerwanderung. Und was geht damit an Veränderungen bei den Sprachen einher? Die Verdrängung Hunderter von kleinen Sprachen durch grössere – "Sprachenfresserei" hat Louis-Jean Calvet das genannt. Auch der Rückzug von an sich ungefährdeten grossen Kultursprachen wie etwa Deutsch, Französisch, Italienisch aus bestimmten Domänen, namentlich aus gewissen Wissenschaftszweigen, und die Durchsetzung des Englischen als immer dominantere internationale Verkehrssprache in ganz vielen Domänen.

Dennoch sollten wir nicht vergessen, die Blickrichtung auch umzudrehen und zu fragen: Wie verändern die Sprachen die Welt und wie könnten sie sie verändern? Nicht nur "Languages in a changing world", sondern "Languages changing the world"! Wie haben doch die Sprachen der Immigrantinnen und Immigranten in den letzten hundert Jahren die Schweiz verändert! Wir nennen die Schweiz noch immer ein viersprachiges Land, dabei ist das längst ein vielsprachiges Land. Sie hören es in den Trams und Bussen, sie sehen die fremdsprachigen Zeitungen an den Kiosken, in unseren Volksschulen werden Kinder aus aller Herren Länder und Sprachen unterrichtet, und die Verwaltung unserer Städte und Dörfer muss ihre Abfallentsorgungskalender und ihre sonstigen Informationsblätter in Dutzend Sprachen unter die Leute bringen, wenn sie will, dass sie Wirkung zeigen.

Dass die Schweiz zum vielsprachigen Land geworden ist, das geschah ungesteuert. Die Grundfrage für jede Sprachenpolitik aber lautet: Kann man die sprachlichen Verhältnisse bewusst und gezielt steuern. Kann man über eine gezielte Sprachenpolitik die Welt ein kleines Stück weit verändern, zum Besseren wenden. "Leave your language alone", heisst es dann schnell einmal. Rühr die Sprachen nicht an, die entwickeln sich sowieso, wie sie wollen! Als Politikerin kann ich dieses Verbot nicht gelten lassen. Wir müssen für die nächsten Jahre eine kluge Sprachenpolitik entwickeln.


Between linguistic human rights and the economic needs of international communication

Meine Damen und Herren, ich greife den zweiten Teil des Titels Ihrer Veranstaltung auf: "between linguistic human rights and the economic needs of international communication". Für mich klingt das so, als wäre damit ein Gegensatz bezeichnet, ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite das Grundrecht jedes Menschen, seine Sprache zu benutzen. Und auf der andern Seite das ökonomisch begründete Erfordernis grenzüberschreitender Verkehrssprachen. Zum einen also das Recht auf das Eigene, was auf die Gesamtheit bezogen zu einer Vielfalt, negativ gesagt zu einer Zersplitterung führt, zur babylonischen Sprachverwirrung, und zum andern die ökonomischen Kräfte, die auf Gleichheit, Vereinheitlichung, grenzenlosen Standard, hinwirken, gewissermassen die Widerholung des Pfingstwunders.

Lassen Sie mich dazu zwei Punkte etwas ausführen:

(1) Ein erster Punkt: Was sind eigentlich diese "linguistic human rights"? Sicher das Recht auf die eigene Sprache, das Recht, seine Identität auch über seine Sprache zu finden und zu definieren. Aber es ist mehr, es sind ja "rights" im Plural. Sprache ist unser Schlüssel zur Welt und unsere Brücke zu den andern. Und so müssen die sprachlichen Grundrechte eben auch ein Recht auf Sprachen (im Plural!) umfassen, auf die Muttersprache, aber auch auf die Sprache, die am Ort, wo man lebt, die Verkehrssprache ist, auf die Sprache der Nachbarn, die Sprache der Politik, die Sprache der Musik, die Sprache der Wissenschaften. Und zu den "linguistic human rights" gehört auch, dass meine Sprache etwas gilt in der Gesellschaft, und dass ich teilhaben darf an andern Sprachen, die etwas gelten und die mir die Welt eröffnen. Das sprachliche Grundrecht ist das Grundrecht auf ein sprachliches Existenzminimum, und das bedeutet in unserer heutigen Welt: das Grundrecht auf individuelle Mehrsprachigkeit. "Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch." Wer nur eine Sprache spricht, lebt unter dem Existenzminimum. Wenn wir heute in der Schweiz über Volksinitiativen abstimmen, die den Primarschulen verbieten wollen, mehr als eine Fremdsprache zu unterrichten, so muss man beim Wort nennen, was das ist: ein Eingriff in Grundrechte, in das Recht auf Sprachen und in das Recht auf Lernen.


(2) Ein zweiter Punkt: Die "economic needs of international communication" – das ist ein verklausuliertes "English only", genau so wie die Volksinitiative, die mehr als eine Fremdsprache für die Primarschule verbieten will, ein verklausuliertes "English only" ist. Unter dem eindimensionalen Blickwinkel des Pekuniären spricht tatsächlich alles dafür, dass wir die Sprachenvielfalt – jedenfalls im überregionalen und internationalen Verkehr – endlich aufgeben und uns auf eine Verkehrssprache verständigen.

Und da möchte ich nun mit Entschiedenheit dagegen halten. Ich möchte Ihnen ein Loblied auf die Polyphonie, die Vielstimmigkeit, die Mehrsprachigkeit singen.

Woher aber nehme ich die Argumente? Warum ist eigentlich Vielfalt für uns ein so durch und durch positiv besetzter Begriff? – die Vielfalt in der Natur, Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten etwa , die Vielfalt von Kulturen und Sprachen , die Vielfalt in der Politik, Stichwort Meinungsfreiheit, Pluralismus. Schwärmerisch klingt das dann etwa so: "Einstimmigkeit ist Synonym für Eintönigkeit, Armut, Monotonie, Gleichschaltung, Diktatur. Vielstimmigkeit hingegen ist Synonym für Vielfalt, Reichtum, Dialog, Synonym für Kultur." Wer so spricht, kann mit sehr viel Zustimmung rechnen. Aber warum sollen wir uns für Vielsprachigkeit einsetzen, wenn sie doch nur die grenzüberschreitende Verständigung behindert?

Permettez-moi d’évoquer trois arguments issus de mon domaine de la politique et de l’administration fédérale :

Tout d’abord, un argument politique: dans un processus qui a duré plusieurs siècles, le latin a été peu à peu remplacé par les langues locales dans des domaines aussi divers que le droit, l’administration, la science et la religion. Ce processus correspond aussi à une démocratisation, à une plus grande participation de cercles de plus en plus large de la population dans ces différents domaines. Je suis convaincue qu’une partie de cette participation, de ce contrôle serait perdu, si nos langues abandonnaient le terrain à l’anglais.

Un argument quant au contenu: il est aisé de prouver que, pour certains domaines tels que le droit ou les sciences, le fait qu’ils soient traités simultanément dans plusieurs langues constitue un enrichissement indéniable. Cela tient au fait que les différentes langues ne sont pas simplement un étiquetage différent d’un même fait ou état de fait, mais qu’elles constituent, chacune, une certaine façon d’appréhender ces faits. La langue n’est pas seulement expression d’un savoir, elle est un facteur de production de ce savoir. Ainsi, un dialogue multilingue dans l’élaboration d’un savoir génère une plus-value pour celui.

Un argument qualitatif: dans une administration plurilingue, nous faisons quotidiennement l’expérience que les textes gagnent en qualité quand ils sont rédigés simultanément en plusieurs langues ou qu’ils sont traduits dans une autre langue. En particulier, j’ose affirmer que si la Suisse a une législation de haute qualité, c’est parce que celle-ci est multilingue. Le dialogue constant entre les langues permet de mettre à jour des imprécisions, de révéler des formulations ambiguës et permet, par conséquent, d’y pallier.

Après ces arguments en faveur du multilinguisme de nos sociétés, les arguments en faveur d’un multilinguisme pour les individus sont plus évidents: Plus je parle de langues, plus je peux rencontrer de gens différents. Et plus je rencontre de gens, plus je me confronte à l’Autre et je peux apprendre de lui. "Je mehr Sprache du sprichst, desto mehr bist du Mensch."

Pour résumer: La „international communication“ est sans aucun doute une exigence incontournable de notre temps. Chaque être humain a le droit d’exiger de la société de pouvoir participer à cette communication au-delà des frontières. Cette compréhension internationale ne saurait être cependant mise sur le même niveau que la compréhension dans une seule langue. Cela conduirait bien sûr à court terme à un gain économique, mais aurait, par ailleurs, un coût politique, de contenu et qualitatif beaucoup trop élevé. En d’autres mots: le futur doit être plurilingue.


Vielsprachige Schweiz und vielsprachiges Europa: die Wirklichkeit mit dem Anspruch zusammenbringen ("languages changing the world")

Ich komme zum Schluss: Die Schweiz definiert sich seit langer Zeit nicht zuletzt über ihre kulturelle und sprachliche Vielfalt. Schon lange aber wird zu Recht beklagt, dass diese hoch gelobte Vielfalt mehr ein Neben- als ein Miteinander ist. "Les Suisses s'entendent bien parce qu'ils ne se comprennent pas", lautet ein bekanntes Bonmot. Es wird geklagt, dass es um die Verständigung zwischen den Landesteilen und ihren Menschen, auch um die Verständigung mit zugewanderten Kulturen, Religionen und Sprachen in diesem Land, keineswegs zum Besten steht. In der Tat gibt es Handlungsbedarf. Das Wort von Goethe „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiss nichts von seiner Eigenen“ soll uns dabei als Leitmotiv gelten. Wir müssen zur Mehrsprachigkeit Sorge tragen. Vor allem müssen wir alles daran setzen, dass die angestammte Viersprachigkeit des Landes in eine tatsächliche Mehrsprachigkeit der Individuen umgesetzt wird.

Mit grösstem Interesse verfolgen wir in der Schweiz, wie sich auch das wirtschaftlich und politisch zusammenwachsende Europa als vielsprachliches Gebilde zu definieren sucht und nicht reflexartig meint, was zusammenwachse, das müsse auch in einer Sprache sich finden. Auf der Ebene der Erklärungen ist hier sehr viel Gutes, hoffnungsvoll Stimmendes zu hören. "Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch!" heisst das Motto der Rahmenstrategie der EU-Kommission zur Mehrsprachigkeit. Auf andern Kontinenten ist das selbstverständliche Realität, in Indien etwa oder in afrikanischen Ländern. Ich wünsche uns allen, dass es gelingen möge, dass auf diesem Kontinent reichere, vollere, sprachkompetentere Menschen heranwachsen können. Das wären eben nicht einfach "languages in a changing world", sondern "languages changing the world".

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Tagung, die Sie bereichert und die etwas bewirkt. Ich danke Ihnen.


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