Realismus stärkt die Schweiz

Lindau, 31.07.2015 - Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Bundesfeier – Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich sehr, hier in Lindau zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich bin ja ein Verfechter des Früh-Französisch - und deshalb muss ich natürlich auch konsequent sein. Ich werde heute also mein Früh-Deutsch an Ihnen ausprobieren.

Hier in Lindau liegen die Anfänge des berühmtesten Bouillonwürfels der Welt. Hier in Lindau wurde der weltberühmte Julius Maggi zum Unternehmer.

Im Alter von nur 23 Jahren übernimmt er 1869 die Hammer-mühle in Kemptthal von seinem Vater und wird in der Folge einer der bedeutendsten Mühlenbesitzer in der Schweiz.

Doch die Industrialisierung - also neue Techniken und die ausländische Konkurrenz - bringt sein Geschäft in arge Bedrängnis. Maggi reagiert pragmatisch, intelligent und zukunftsgerichtet. Er beginnt nicht einfach, die Produktion zu steigern und er setzt auch nicht einfach auf Preiskampf.

Stattdessen steigt er ins Lebensmittelgeschäft ein. Genauer: in die Verarbeitung von „Leguminosen", also Hülsenfrüchten, zu einem neuartigen
Lebensmittel. Der Rest ist Geschichte.

Julius Maggi war übrigens von seinem eigenen Produkt dermassen begeistert, dass er eine seiner Töchter Leguminosa nennen wollte. Erst der erbitterte Widerstand der ganzen Familie brachte Maggi schliesslich von diesem Plan ab. Die Tochter wurde dann auf den Namen Lucy getauft - wofür sie sicher sehr dankbar war.

Julius Maggi stellte ausgezeichnete Fragen: Welches sind die vielversprechenden Märkte? Wie baue ich eine Unternehmenskultur auf, die die Mitarbeitenden motiviert?

Auch unser Land muss sich Fragen stellen.

  • Wie gelingt es uns auch in Zukunft, Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität zu verbinden?
  • Wie halten wir unsere Gesellschaft zusammen? Und das trotz einer wachsenden kulturellen Vielfalt in unserem Land?
  • Wie bewahren wir die Tradition der humanitären Schweiz? Und das in einer Zeit, in der Flüchtlinge häufig nur noch als Bedrohung wahrgenommen werden?

Auch in Bezug auf Europa müssen wir uns die richtigen Fragen stellen:

  • Wie gelingt es uns, unsere Identität und unsere politische Kultur zu erhalten?
    Und dabei trotzdem einen Weg mit unseren europäischen Nachbarn zu finden, der nicht in die Isolation führt?

Die Herausforderungen im Zusammenhang mit der EU sind beträchtlich - sowohl bei der Frage der Migration wie auch beim institutionellen Verhältnis zu unserem wichtigsten Handelspartner.

Allerdings: So ungewöhnlich ist das nicht. Wir konnten den Entwicklungen in unserer Nachbarschaft noch nie einfach entspannt zusehen. Das zeigt ein Blick in die Geschichte.

Es ist auch nicht überraschend:

  • Wir sind, geographisch und kulturell, mittendrin und tun uns - vielleicht gerade deswegen - manchmal schwer mit unserer Umgebung.
  • Wir sind ein multikulturelles Land - kulturell aufs engste verbunden mit den drei grossen Sprachräumen Kontinentaleuropas.
  • Unsere Identität haben wir immer sowohl mit unseren Nachbarn als auch gegen unsere Nachbarn definiert.
  • Und als ein Land des Föderalismus und der direkten Demokratie haben wir uns stets etwas schwer getan mit zentralistischen Ansätzen.

Wer sich mit Schweizer Geschichte beschäftigt, muss sich gar die Frage stellen: War unser Verhältnis zu den Nachbarn überhaupt je reibungsfrei?

Vielleicht am ehesten in der unheimlichen, aber stabilen Welt des Kalten Krieges, als die Schweiz eine geopolitische Nische besetzen konnte. Seither ist die Welt wieder nervöser, volatiler, unvorhersehbarer geworden.

Isolationismus kann keine Option sein. Zur Zusammenarbeit mit Europa gibt es keine sinnvolle Alternative. Wir sind eines der traditionell weltoffensten Länder der Welt. Wir würden ärmer werden - nicht nur im Portemonnaie, vor allem im Geist.

Die EU befindet sich in der schwierigsten Situation ihrer Geschichte. Es gilt, den Realitäten ins Auge zu blicken.

Gewiss, die Mitglieder der EU sollen uns und unsere Situation besser verstehen. Bei uns sorgen Druck auf die Löhne in den Grenzregionen, hohe Mieten, belastete Infrastrukturen für Unbehagen.

Aber wir müssen unsererseits auch die EU besser verstehen. Verstehen bedeutet: die EU in ihren historischen Voraussetzungen und gegenwärtigen Spannungsfeldern begreifen. Verstehen heisst nicht: mit allem, was die EU macht, einverstanden sein.

Nur wenn wir unsere Interessen und die der anderen wirklich kennen, ist es möglich, eine gute Lösung mit unserem wichtigsten Handelspartner zu finden. Und eine solche Lösung gilt es zu finden. Das wird uns auch gelingen.

Wir sind deshalb europapolitisch als Realisten und Pragmatiker gefordert. Und um auch das deutlich zu sagen: Realismus ist nicht Defätismus. Im Gegenteil: Realismus stärkt uns.

Eine weitere wichtige Lektion, die wir unserer Geschichte verdanken, ist unser Wille zum Zusammenhalt. Auch und gerade, als mächtige Fliehkräfte wirkten.

  • Die Alten Eidgenossen hielten zusammen, als die Religionskriege ihre Gemeinschaft bedrohte, und entschieden sich gegen Allianzen mit ihren Glaubensbrüdern aus anderen Ländern.
  • Im Ersten Weltkrieg - als die Schweiz wiederum auseinanderzudriften drohte - hielt man zusammen, trotz der jeweiligen kulturellen Sympathien für die kriegsführenden Staaten Deutschland und Frankreich.
  • Auch in den dreissiger und vierziger Jahren, in der Ära von Totalitarismus und Faschismus, widerstand die Schweiz den Sirenengesängen
    des ethnischen Nationalismus, die unser Land zerstört hätten, wären sie erhört worden.

Wir hielten zusammen, obwohl wir so verschieden sind - religiös, politisch, sprachlich oder sozial. Wir sind vielfältig und das ist eine Stärke. Auch heute zeigt sich, dass die gesellschaftliche Kohäsion kein Zustand ist - sondern eine Aufgabe, die nie zu Ende sein wird:

  • Der Stadt-Land-Graben droht seit einiger Zeit, sich eher wieder zu vertiefen.
  • Die Schweiz ist auch integrationspolitisch gefordert. Wir haben einen der höchsten Ausländeranteile der Welt.

Wir leben in unsicheren Zeiten:

  • Finanzkrise, Schuldenkrise, Eurokrise,
  • die Alterung unserer Gesellschaft,
  • der sich verschärfende globale Wettbewerb bei starkem Franken,
  • die heraufdämmernde digitale Revolution,
  • Globalisierung, Ungleichheit, Aufstieg neuer Mächte,
  • eine Flüchtlingskrise, die auch unser Land herausfordert.

Diese Unsicherheit ist ein guter Zeitpunkt, wieder einmal eingehend darüber zu debattieren, was wirklich wichtig ist für unser Land. Hier gibt unsere Geschichte eine klare Antwort: Wirklich wichtig war und ist eine kluge Politik des Zusammenhalts. Das ist bis heute die Grundlage unseres Erfolges.

Das bedeutet zum Beispiel: Wir müssen die flankierenden Massnahmen erhalten. Ältere Arbeitnehmende und Frauen müssen verstärkt in den Arbeitsmarkt integriert werden. Hier sind insbesondere die Arbeitgeber in unserem Land gefordert.

Die Bevölkerung muss davon überzeugt sein, dass unsere Offenheit sie nicht gefährdet. Weder auf dem Arbeitsmarkt noch auf dem Wohnungsmarkt. Mit anderen Worten: das Miteinander muss stärker bleiben als das Gegeneinander.

Gerade in einer Zeit, in der wir merken, dass wir nicht alles selber steuern können, müssen wir die Fundamente der Schweiz stärken. Zu diesen Fundamenten gehören auch die gesellschaftliche Fairness und die soziale Sicherheit im Alter. Wenn wir diese vernachlässigen, werden wir feststellen, dass die Unsicherheit nicht nur von aussen kommt, sondern auch noch von innen.

Wenn es im Laufe unserer Geschichte wirklich kritisch wurde, haben wir immer zusammengehalten. Im Innern - aber auch gegen aussen. Im Interesse unseres Landes. Denn dieses nationale Interesse ist unteilbar.

Den Menschen in der Schweiz ist am besten gedient, wenn wir realistisch und nüchtern bleiben.

Ist das weniger emotional? Vielleicht.

Ist es aber auch weniger patriotisch? Nein. Denn Realismus stärkt die Schweiz.

Ich wünsche allen ein schönes Dorffest und einen schönen Bundesfeiertag.


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