Eine Wiederbegegnung mit Alois Carigiet

Bern, 11.06.2015 - Ansprache von Bundeskanzlerin Corina Casanova zur Eröffnung der Ausstellung von Alois Carigiet im Landesmuseum Zürich

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Direktor Spillmann
Sehr geehrte Frau Meyer
Cara famiglia Carigiet
Charas scolaras e scolars da la scola primara da la Punt Chamues-ch, Allegra!
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich sehr, die Ausstellung von Alois Carigiet und damit von einem bedeutenden Bündner Künstler eröffnen zu dürfen. Vielen Dank für diese Einladung und Ehre.

Sehr gerne versuche ich, zu Alois Carigiet etwas aus persönlicher Sicht zu sagen, umso mehr, da mich mit ihm eine gemeinsame Herkunft, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur verbindet.

Der Name Carigiet ist, wie meiner übrigens auch, Rätoromanisch. „Ca Rigiet" bedeutet in Sursilvan das „Haus des kleinen Richard". Der Name hat seine Herkunft in der Surselva, dem Tal zwischen dem Oberalppass und Reichenau-Tamins, wo wir beide zeitweise aufgewachsen sind.

Alois Carigiet hat seine Kindheit oben im Tal im Bergdorf Trun bei Disentis verbracht, ich weiter unten in Ruschein, einem kleinen Dorf oberhalb von Ilanz. In Trun steht sein Geburtshaus, das Haus Flutginas, das Elternhaus seiner Mutter, wo Carigiet auch die letzten 25 Jahre seines Lebens verbracht hat. In Trun gibt es von ihm heute noch Capricci und Wandmalereien an verschiedenen Häusern zu bewundern und auch eine permanente Ausstellung im Museum Cuort Ligia Grischa.

Der Name Surselva ist rätoromanisch und bedeutet „oberhalb des Waldes". Alois Carigiet hat, wie damals alle Bewohner der Surselva, zu Hause romontsch gesprochen, genauer gesagt Sursilvan, das Rätoromanisch der Talschaft des oberen Vorderrheins. In Trun wird nach wie vor fast ausschliesslich Sursilvan gesprochen. Die Schüler lernen auch heute noch erst ab der dritten Klasse deutsch. Das erinnert mich an meine eigene Kindheit, auch ich habe in der Schule erst seit der vierten Klasse deutsch gelernt.

Herr Direktor Spillmann hat mich daher gebeten, gewisse Passagen auch in Rätoromanisch zu sprechen - das mache ich jetzt. Aber keine Angst, ich mache dann auch noch die deutsche Übersetzung dazu. In Sursilvan, dem Rätoromanisch, das Alois Carigiet gesprochen hat, tönt das so:

Schegie che la Surselva secumpona da biars vitgs e vitgets ei quella vallada unica dil pugn da vesta historic e cultural. Mo schon la claustra da Mustér, las biaras baselgias e capluttas ed auters monuments e frescos. Tut quei dat perdetga d'in scomi intensiv dil Grischun cun l'Italia ed auters loghens en Europa.

Auf Deutsch: Obwohl sich die Surselva aus vielen kleinen Bergdörfern zusammensetzt, so ist sie doch auch eine kulturgeschichtlich einzigartige, höchst vielfältige Kulturlandschaft. Denken Sie an das Kloster Disentis, an die vielen Kirchen, Kapellen, Denkmäler und Fresken. Sie alle zeugen von einem regen kulturellen Austausch zwischen Graubünden, Italien und anderen Orten in Europa.

Bis heute hat die Surselva aussergewöhnlich viel bedeutende Kunst und Künstler hervorgebracht.

Ich denke da an Alois Carigiet, aber auch an seinen jüngeren Bruder, den beliebten Schauspieler Zarli Carigiet. Um nur einige Namen ins Gedächtnis zu rufen, erinnere ich etwa an die beiden Trunser Künstler Matias Spescha und Gieri Schmed, die beide ihre Anregung zur Kunst durch Alois Carigiet erhalten haben. Und ich denke an die wunderschöne, gewagte kleine Caplutta Sogn Benedetg oberhalb des Dorfes Sumvitg, ganz in der Nähe von Alois Carigiets Wohnort, die vom Architekten Peter Zumthor gebaut wurde. Erwähnen möchte ich auch noch die Häuser des Vriner Architekten Gion A. Caminada, der in der Surselva eine Leitfigur des alpinen Bauens ist.

Carigiets Herz gehörte, wie er es sagte, den nahen Dingen des Lebens. Seine Wohnorte in Trun, im kleinen Weiler Platenga bei Obersaxen und seine langen Aufenthalte im Unterengadin haben sein Werk geprägt und seine Motive bestimmt.

Es sind diese Motive, die die Unterländer so lieben und die sie nach Graubünden und ins Oberland hinaufziehen, nämlich:

Schöne Bergdörfer mit einfachen Holzhäusern, stolze Steinhäuser mit wunderschönen, hölzernen Eingangstüren, mit den typischen kleinen Fenstern und Sgraffiti. Es ist die rauhe, karge Bergwelt, es sind die Birkenhügel, ausgehöhlte Baumstämme, Bussarde, Eichelhäher, Schneehühner, Gemsen, Habichte, Dohlen, Maiensässe und Alphütten. Es sind die Ziegen mit ihren Alpglocken, der feine Duft von Harz, Wind und Wetter. Es ist der frische Schnee, die strahlende Sonne und die klare Luft.

Doch das Leben da oben in den Bergen, so schön es dem Unterländer heute auch vorkommen mag, wenn er für die Ferien oder an den Wochenenden ins Bündnerland hoch fährt, dieses Leben hatte nichts zu tun mit der damals harten Wirklichkeit; es fehlte an Arbeit.

Wirtschaftliche Gründe haben die Bergler früher gezwungen, in die Städte oder Tourismusgebiete zu ziehen, um dort zu arbeiten.

Die Familie Carigiet ist aus ökonomischen Gründen nach Chur gezogen, wo Alois zu zeichnen begann und eine Lehre als Dekorationsmaler abschloss. Auch meine Familie hat das Tal zeitweise verlassen, jeweils von Mai bis Oktober, und ist ins Unterengadin gezogen, nach Tarasp, wo mein Vater den Sommer über als Concierge tätig war.

Um Berufe zu erlernen, zu studieren oder zu arbeiten sind wir Rätoromanen es uns gewohnt, in andere Sprachregionen zu ziehen und Fremdsprachen zu erlernen. Während es früher in der Surselva noch eine grosse Anzahl einsprachiger Rätoromanen gab, ist man inzwischen überall bilingue. Jeder Rätoromane spricht heute mindestens zwei Sprachen, Rätoromanisch und Deutsch.

Gerne hätte ich Alois Carigiet persönlich kennen gelernt, das ist mir vergönnt geblieben. Aber ich habe sein Werk, wie vermutlich alle hier Anwesenden, schon als Kind bewundert.

Meine erste Begegnung war typischerweise die mit „Uorsin". Mein Bruder hat das Buch geschenkt bekommen und wir Kinder haben es damals im rätoromanischen Original gelesen. Natürlich waren wir sehr fasziniert von diesen Bildern - das war ja unsere Heimat, unsere Welt!

Deshalb gebe ich jetzt auch noch eine kleine Kostprobe in Vallader, dem Rätoromanisch des Untergengadins:

Tarasp - il lö ingio ch'eu d'eira dachasa da mai fin october - am driva la perspectiva sül cumünet da Guarda, il lö da Uorsin. L'istorgia tratta l'üsanza da Chalandamarz. On per on il prüm di da marz s-chatschan ils uffants da l'Engiadina Bassa l'inviern fond canera cun lur s-chellas, plumpas, zampuogns e giaischlas. Üna tipica chasa engiadinaisa chi'd es hoz amo sülla Plazzetta suos-cha a Guarda es statta model a Carigiet per la chasa torta, ingio cha Uorsin vivaiva cun seis genituors e sia sour Flurina. D'uffant am fascinaiva il disegn dal prümaran süsom la muntogna chi ha salvà a Uorsin. Eu til n'ha pitturà diversas jadas.

Auf Deutsch: Tarasp, wo ich jeweils von Mai bis Oktober zu Hause war, ist sozusagen in Sichtweite zu Guarda, wo der Schellenursli spielt. Die Geschichte handelt vom Chalandamarz. Immer am 1. März vertreiben die Unterengadiner Kinder den Winter mit lautem Glockengeläut. Ein typisches Engadiner Haus, das heute noch an der der Plazzetta zuos-cha in Guarda (Rätoromanisch, „Schmutziges Plätzchen") steht, diente Carigiet als Vorbild für das schiefwinklige Haus, wo der kleine Uorsin mit seiner Familie und seiner Schwester Flurina wohnte. Als Kind hat mich das Bild vom rettenden Maiensäss oben auf dem Berg sehr fasziniert und ich habe es viele Male gemalt.

So ist uns Alois Carigiet zwar allen bekannt als Illustrator von Bilderbüchern. Seine Bilderbuchmotive zieren heute noch viele Gebrauchsgegenstände. Und dieses Jahr soll die erste Verfilmung des Schellenursli von Xavier Koller in die Kinos kommen. Wie Sie sehen, ist der Schellenursli von Carigiet also immer noch hochaktuell.

Diese Seite von Alois Carigiet gibt aber nur einen kleinen Bruchteil seines grossen und bedeutenden Werks wieder. Carigiet hatte viele künstlerische Begabungen.

Der „unbekanntere" Carigiet war ja auch ein Städter, ein „Churer" und ein „Zürcher", und als solcher war er ein erfolgreicher Plakatmaler, Grafiker oder Werber, wie man heute sagen würde. Als Werber hat Carigiet zur Reputation der Schweizer Werbegrafik massgeblich beigetragen. Zudem hat er, wie es in der Ausstellung ebenfalls zu sehen ist, Bühnenbildner für das Cabarat Cornichon gemalt, an dem sein Bruder Zarli mitwirkte.

Für mich ist Carigiet aber weit mehr als ein Bilderbuchmaler und Grafiker. Mir bedeutet Alois Carigiet besonders viel als virtuoser Zeichner und Maler. Mit 15 Jahren habe ich in der Papetaria e Libraria Maggi in Ilanz, die damals auch eine Galerie war, mit meiner Mutter eine Carigiet-Lithographie erworben. Sie hängt noch heute in meiner Wohnung.

Carigiet gehört für mich in die Reihe der bedeutenden Künstler, die aus Graubünden kommen oder im Bünderland gearbeitet haben. Für mich hat er einen wichtigen Platz neben den Bergeller Künstlern der Familie Giacometti, neben Giovanni Segantini, der ebenfalls im Bergell gewirkt hat, oder Ernst Ludwig Kirchner mit seinen fantastischen Werken aus der Davoser Zeit.

Wenn ich seine Bilder betrachte, dann schiessen mir viele Gedanken durch den Kopf. Dabei denke ich nicht nur an Graubünden.

Ich denke auch an seine Aufenthalte in Paris, München, Wien und Salzburg, an seine Reisen nach Frankreich, Spanien und Lapland. Und ich wäre interessiert zu wissen, welche Museen er besuchte und mit welchen Künstlern er sich auf seinen Reisen getroffen oder auseinander gesetzt hat. Ich wüsste ausserdem auch gerne, welchen Gedankenaustausch er mit Berta Carolina Müller, seiner Frau, die in Deutschland Kunst studiert hatte, über die Malerei geführt hat.

Welche Kontakte er mit der zeitgenössischen Malerei tatsächlich gehabt hat, weiss ich nicht; in dieser Hinsicht gibt es wissenschaftlich vermutlich noch einiges zu erforschen.

Wenn man seine Bilder betrachtet, lässt sich also nicht nur sein einzigartiger Stil entdecken, sondern auch eine Beschäftigung mit den Künstlern seiner Zeit und mit verschiedenen Stilrichtungen.

So meine ich Bezüge zur russischen Avantgarde und zum Expressionismus zu sehen. Oder Anklänge an die kräftigen Farben der Fauves. Und wenn ich seine sperrigen, kantigen, malerisch-zeichnerischen Häuser sehe, lässt mich das an die Häuser von Egon Schiele denken.

Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung Anreize und Impulse bietet, Alois Carigiet auch in dieser Hinsicht neu zu entdecken und zu erforschen.

Seine Bilder sind nicht nur für die Kunst und Kultur von Graubünden von unschätzbarem Wert. Sie sind es für die ganze Schweiz und auch für mich persönlich.

Ihnen, liebe Besucherinnen und Besucher, wünsche ich nun eine spannende Entdeckungsreise in die Welt von Alois Carigiet.

Und Ihnen, sehr geehrter Herr Spillmann, sehr geehrte Frau Meyer, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums, gratuliere ich zu dieser wunderschönen Ausstellung, die die ganze Schaffensbreite von Alois Carigiet vorstellt. Besonders freut mich, dass diese Ausstellung viersprachig ist und dass alle Texte auch auf Rätoromanisch übersetzt sind.

Ich wünsche Ihnen mit dieser Ausstellung viel Freude und Erfolg.

Um in Sursilvan und Vallader zu schliessen: A Vus, preziai presents, giavischel jeu in viadi interessant alla scuvretga dil mund d'Alois Carigiet.

Ed a Vus, stimà sar Spillmann, stimada duonna Meyer, charas collavuraturas e chars collavuratuors dal Museum naziunal, As lessa gratular per quista fich bella exposiziun chi preschainta l'ouvra cumplessiva dad Alois Carigiet.

Eu As giavüsch bler dalet e bler success cun quista exposiziun.


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