100 Jahre Simplon: Einmal Pionier, immer Pionier

Bern, 19.05.2006 - Rede von Bundespräsident Moritz Leuenberger, Brig, 19. Mai 2006

Wir feiern heute einen Hundertjährigen. Es ist ein berühmter Jubilar, und darum hat das Radio mit ihm ein Interview gemacht. Eine sehr freundliche Moderatorin, nennen wir sie Rosalinda Zuckerwasser, spielte ihm zuliebe in der Nachmittagssendung uralte Schlager ab und stellte dem Greisen ganz liebe Fragen. „Ist es wirklich wahr, Herr Simplon“, lobhudelte sie, „dass Sie immer noch regelmässig den Fahrplan lesen?“

 „Ich bin doch nicht von gestern“ antwortet der Simplon trocken, „heute liest niemand mehr Fahrpläne, wir haben den Taktfahrplan. Surfen Sie mal auf www.sbb.ch, bevor Sie solche Fragen stellen.“

Die Radiodame ist nicht aus ihrer milden Fassung zu bringen: „Ich habe gehört, Sie schlucken immer noch jeden Tag 150 Züge?“

„Kein Problem“, knarrt Jubilar Simplon zurück, „wir haben ETCS als Abführmittel, dann sind sie schneller durch. Und heute gibt es ja Kompakt-WC’s, ich werde also nicht beschmutzt.“

Ein Eisenbahn-Pionier ist ein Pionier und bleibt auch als Hundertjähriger ein Pionier.

Natürlich gilt das nicht für alle Hundertjährigen. Ein Auto mit Jahrgang 1906 hat uns technisch gar nichts mehr zu bieten. Eine hundertjährige Strasse würden wir höchstens noch zum Spazieren brauchen. Und in ein Flugzeug von 1906 - mit Zweitaktmotor und Segeltuch statt Flügeln - würden wir nie im Leben einsteigen. Es wäre auf der schwarzen Liste des BAZL.

Aber Eisenbahntunnel überdauern die Jahrhunderte, sie bleiben ewig jung. Der Simplon ist derselbe Tunnel wie vor hundert Jahren, es sind dieselben Schienen wie vor hundert Jahren, doch auf ihnen rasen jeden Tag modernste Schnellzüge und Güterzüge durch, im Tempo und Minutentakt des 21. Jahrhunderts.


Ein Eisenbahn-Pionier ist ein Pionier und bleibt ein Pionier. Und stets fällt ihm eine neue Pioniertat ein, so auch dem Simplon.

- Zur Eröffnung des Simplontunnels kam vor 100 Jahren ein Schweizer Bundespräsident und es kommt auch nach 100 Jahren ein Schweizer Bundespräsident.
- Zur Eröffnung kam vor 100 Jahren ein italienischer König und es kommt nach 100 Jahren eine italienische Rockkönigin, Gianna Nannini.

- Bei der Eröffnung vor 100 Jahren schaute weit oben vom Simplonpass herab Napoleon zu, heute grüsst uns aus präsidialer Höhe Giorgio Napolitano.

- Bei der Eröffnung des Simplontunnels wurde der damalige Bundespräsident Ludwig Forrer von den Medien mit viel Einfühlungsvermögen bedauert. In der Berner Volkszeitung stand: Er „muss bei dieser Gelegenheit das Doppelte leisten was andere Menschenkinder. Er muss in Frack und weisser Halsbinde den König von Italien empfangen und durch den Tunnel führen.“

Auch heute kümmern sich Medien wieder ganz einfühlsam um die Kleidung des Bundespräsidenten. Jetzt sind es Badehosen.

Ein Eisenbahn-Pionier ist ein Pionier und bleibt ein Pionier. Und stets fällt ihm eine neue Pioniertat ein:

- Bei seiner Eröffnung vor hundert Jahren feierte der Eisenbahntunnel einen Triumph über die Simplon-Passstrasse mit ihren langsamen Postkutschen. Doch als der Aufstieg des Automobils begann, und als breitere und schnellere Strassen gebaut wurden und bald jeder Haushalt ein Auto und jede Region ihren Autobahnanschluss hatte, musste sich der Pionier etwas einfallen lassen. Er nahm Autos im Huckepack mit und brachte sie sicher und ohne Stau und im Schnellzugstempo in den Süden. Doch das genügte nicht.

Die Bahn wollte ihren Spitzenplatz ganz zurück, sie hat ihn sich erkämpft, und heute ist sie wieder das effizienteste Verkehrsmittel. Wer rasch von einer grossen Stadt in die andere kommen will, nimmt nicht mehr das Auto, sondern den Zug – denn der ist schneller. Wer seine Güter sicher und zuverlässig über eine weite Strecke transportieren will, übergibt sie der Bahn und nicht einem Lastwagen. Und wenn die Neat fertig gebaut ist, werden wir mit dem Zug schneller in der Mailänder Innenstadt ankommen als mit dem Flugzeug.

Ein Eisenbahn-Pionier ist ein Pionier und bleibt ein Pionier. Und stets fällt ihm eine neue Pioniertat ein:

- Der Simplon-Tunnel wurde vor 100 Jahren von der Schweiz und Italien gemeinsam gebaut, eine Pioniertat zu einer Zeit, als andere Länder noch unterschiedliche Spurbreiten montierten, damit ja keine fremde Bahn auf ihren Boden fahren konnte. Der Simplontunnel war ein Akt der grenzüberschreitenden Freundschaft zwischen zwei Nationen, zwischen zwei Regionen - Wallis und Piemont - und zwischen zwei Städten. Brig und Domodossola sind Partnerstädte geworden und bis heute geblieben. Doch ob all der grenzüberschreitenden Freundschaftsbekundungen ging die innerschweizerischen Freundschaft nicht vergessen: Der Simplontunnel wurde unter anderem auch für den Walliser Tourismus gebaut und er bringt den Skiorten bis heute unzählige Feriengäste.

- Einmal Pionier, immer Pionier: Heute leisten Eisenbahninfrastrukturen Pionierarbeit für den kontinentalen Zusammenhalt. Wir harmonisieren die Standards, bauen Grenzhindernisse ab und öffnen mit dem Lötschberg- und dem Gotthard-Basistunnel einen durchgehenden Korridor zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Immer wieder besuchen uns Verkehrsminister der EU, alle wollen den Tunnel sehen, und über die LSVA beteiligen sich sämtliche europäischen Camions an der Finanzierung. Auch die Freundschaft zwischen der Schweiz und Italien erneuern wir: Wir eröffnen den Lötschberg extra für die italienischen Fans schon im 2007, damit die Sonderzüge schneller in den Stadien der EM 2008 sind. Und auch die innerschweizerische Freundschaft erneuern wir, die Neat wird auch den Regionen dienen: Mit dem Lötschberg wird das Wallis zu einem Teil des zentralen Wirtschaftsraums, die Porta Alpina stärkt das Bündnerland, und der Ceneri-Tunnel bringt dem Tessin ein S-Bahn-Netz.

Ein Eisenbahn-Pionier ist ein Pionier und bleibt ein Pionier. Und stets fällt ihm eine neue Pioniertat ein:

- Der Simplontunnel hat sich vor 100 Jahren in die Hände des Staates gerettet. Mit dem Bau hatten private Unternehmen begonnen, aber die Pioniertat hatte sie völlig überfordert. Die NZZ konstatierte damals: „Nicht nur der Drang nach Gewinn, hoher Gedankenflug und idealer Schwung müssen dabei sein, um Werke von so gigantischer Form zu schaffen.“

Der Simplon und mit ihm sämtliche Eisenbahntunnel wissen: Nur der Staat ist Garant für eine menschen- und umweltverträgliche Mobilität. Kein privates Unternehmen könnte eine Pionierleistung wie die Verkehrsverlagerung selbst bewerkstelligen. Kein Privater könnte ausländische Transporteure dazu bringen, sich an der Finanzierung der NEAT zu beteiligen. Und keine private Firma hat den Schnauf, so langfristige und teils widersprüchliche Ziele zu verfolgen wie: Die Mobilität ermöglichen und trotzdem die Umwelt schonen, in europäischen Dimensionen planen und trotzdem Rücksicht auf einzelne Regionen nehmen. So langfristig und pionierhaft kann nur der Staat planen.

Ein Pionier ist ein Pionier und bleibt ein Pionier, auch wenn er 100 ist.

Unsere Radiomoderatorin säuselt: „Bei Ihrer Geburt waren Sie 19,8 Kilometer lang und damit der längste Tunnel der ganzen Welt! Herr Simplon, erzählen Sie uns ein bisschen von damals.“

„Hören Sie doch auf, mir so zu schmeicheln“, knarrt Simplon, „Sie wissen ganz genau, dass mir dieser Rekord von einem jungen Japanischen Tunnel weggeschnappt wurde!“

„Aber da waren Sie doch schon fast 80, das muss Sie doch nicht mehr kümmern“, flötet die Moderatorin.

„Diesen Rekord geben wir nicht einfach preis“, gibt Simplon zurück, „mein Grosskind wird ihn zurückholen, es heisst Gotthardli. Es wird 57 Kilometer lang und es wird der neue längste Tunnel der Welt sein.“

Jetzt wir der Moderatorin der Tonfall doch etwas zu rau, und sie fragt schon etwas weniger freundlich: „Ich habe gehört, es gebe bei dieser Schwangerschaft immer wieder geologische Komplikationen, das Kind komme ein Jahr später und es werde teurer als geplant.“

„Ha!“, hustet der Simplon, „Jetzt übertreiben Sie mir nicht! Früher war das viel schlimmer. Bei mir hat es 7 ½ statt fünf Jahre gedauert, während dem Bau ist der halbe Berg über mir eingestürzt, ich wurde von heissen Quellen fast ertränkt - und dann die Kostenüberschreitung!“

„Aber...“, protestiert die Moderatorin.

Simplon unterbricht sie harsch: „Wissen Sie überhaupt, was das ist, ein Pionier? Wenn man in unbekannte Welten vorstösst - tief in den Berg und weit in die Welt?“

„Wir müssen jetzt zum Schluss kommen“, mault die Moderatorin, denn sie versteht nur Bahnhof.

„Sehen Sie“, sagt der Simplon, „das ist der Unterschied: Wir Eisenbahntunnel denken nicht einfach fürs Jetzt, wir denken für eine sehr sehr lange Zeit. Wir Pioniere machen nie Schluss, wenn es unangenehm wird. Wir halten durch! Der Lötschberg kommt. Der Gotthard kommt und der Ceneri auch. Die Verlagerung gelingt. Wir lassen uns nicht aus der Fassung bringen. Wir glauben an die Zukunft der Eisenbahn. Ein Pionier bleibt ein Pionier!“


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