«Wir wollen unser Land auf der Erfolgsspur halten»

Bern, 10.01.2014 - Schwanden, 11.01.2014 - Rede von Bundespräsident Didier Burkhalter anlässlich der Delegiertenversammlung der FDP.Die Liberalen (Schweiz) - Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren

Die Schweiz, unser Land … diese Schweiz, die Pankraz Freitag so sehr geliebt hat: ein Land, das so unendlich reich an atemberaubenden Naturschönheiten ist, aber auch so schrecklich arm an Bodenschätzen. Ein Land, das deshalb auf die grauen Zellen gesetzt hat, um eines der erfolgreichsten Länder der Erde zu werden.

Ein Land, das die Worte gefunden hat, um seinen Weg in die Zukunft vorzugeben, das diese Worte in seinen Grundstein, in seinen Aufruf zur Sammlung, in seine Verfassung eingemeisselt hat: Sicherheit, Unabhängigkeit und gemeinsame Wohlfahrt – so hat das Schweizervolk das «Schweizer Wunder» vorgezeichnet.

Ja, die Schweiz ist ein Wunder. Fast aus dem Nichts heraus ist die Schweiz – dieses Land der Seen und der Berge – in den Weltranglisten der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationskraft hinaufgeklettert, um schliesslich die Nummer 1 zu werden, ganz besonders in den letzten Jahren, die von der Freizügigkeit für Forscherinnen und Forscher geprägt waren ...

Die Schweiz hat sich auch ein Gesellschaftsmodell geschaffen. Sie ist von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland geworden – und in der Folge zu einer Gesellschaft, in der die Integration gelebt wird. Zahlreiche Persönlichkeiten sind in der Vergangenheit in die Schweiz gekommen, um hier eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Sie gründeten Unternehmen und sie bauten – Stein um Stein, Idee um Idee – eine der offensten und leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt auf. Der beste Beweis dafür: Die Schweiz schafft Arbeitsperspektiven für ihre Einwohnerinnen und Einwohner; sie hat eine der tiefsten Arbeitslosenquoten Europas, gerade auch bei den Jungen. Denken wir daran, dass es heute im Ausland Regionen gibt, in denen eine von zwei jugendlichen Personen kaum Aussicht hat, Arbeit zu finden. Manchmal ist es noch weniger.

Dieses Schweizer Wunder verdanken wir auch einem Staat, der die Eigenverantwortung nicht erstickt. Wir verdanken es einem liberalen Arbeitsmarkt, einer tragfähigen Sozialpartnerschaft und besonders auch unserem Bildungssystem, das sich mit dem Zusammenspiel von akademischer Bildung und dualer Berufsbildung bestens bewährt.

Das Wichtigste für die Zukunft, liebe Freundinnen und Freunde, wird es sein, unser Land auf dieser Erfolgsspur zu halten. Deshalb habe ich das Präsidialjahr 2014 unter das Motto gestellt: «Die Schweiz und die Welt: Jugend, Arbeit, Öffnung».

Deshalb auch liegt es in der Verantwortung der Parteien – ganz besonders von Regierungsparteien wie der FDP –, Anstösse zu geben, um diese Schweiz, diesen liberalen Staat zu stärken. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie das tun, dass Sie darüber debattieren und dass Sie Ideen einbringen, um die Zukunft der Schweiz in der Welt zu sichern.

Meine Damen und Herren

Den Erfolg der Schweiz künftig zu bewahren und zu bestätigen, das bedeutet auch, dass sie gegenüber der Welt und Europa offen bleiben muss.

Die Schweiz erwirtschaftet bekanntlich jeden zweiten Franken im Ausland. Denken wir zurück: Schon im Mittelalter war der Handel ein Schlüssel zum Erfolg und ein Nährboden für das Streben unserer Talschaften und Städte nach Unabhängigkeit.
Schwanden – wo wir heute sind – ist seit über 150 Jahren ein wichtiger Industriestandort. Schwanden ist aber auch die Heimat von Burkhardt Tschudi. Tschudi war im 18. Jahrhundert einer der renommiertesten Cembalobauer seiner Zeit. Er wanderte nach London aus und belieferte von dort ganz Europa mit seinen hochwertigen Instrumenten. Burkhard Tschudi ist somit nicht nur eine Referenz für ausgezeichnetes Schweizer Handwerk, das auch heute noch jenseits der Grenzen hoch geschätzt wird. Wie die Glarner Industrie ist auch er ein Beispiel dafür, dass das Erfolgsrezept der Schweizer und Schweizerinnen seit jeher in ihrer Offenheit gegenüber der Welt und gegenüber Europa liegt. Gute und harte Arbeit und Offenheit.

Den Erfolg der Schweiz künftig zu bewahren und zu bestätigen, das bedeutet auch, dass sie jung bleiben muss.

Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung unseres Landes Generation für Generation um einen Viertel schrumpfen! Aber weil die Schweiz offen ist, kann sie sich weiterhin auf ihre Jugend stützen. Auf diese Weise kann sie auch ihre Sozialwerke finanzieren, namentlich die AHV. So stellt die erwerbstätige Generation Jahr für Jahr die AHV-Renten der Generation im Ruhestand sicher.

Weil wir in unserem Gesellschaftsmodell Personen aus der Europäischen Union aufnehmen – allgemein eher jüngere und gut ausgebildete Personen –, können wir auch unsere AHV besser finanzieren. Über die letzten zehn Jahre hinweg hat die Einwanderung zusätzliche 25 Milliarden in die AHV eingebracht. In der jüngsten Vergangenheit sind (mit der Personenfreizügigkeit) 3 Milliarden mehr pro Jahr der AHV zugeflossen; dies hat jeweils zu einem positiven Rechnungsabschluss geführt. Personen aus dem EU-Raum leisten durch ihre Arbeit mehr als einen Fünftel der Beiträge; sie beziehen aber nur einen Siebtel der Leistungen.
 
Die positive Wirkung der Freizügigkeit wird anhalten. Denn zu einem grossen Teil sind es gut qualifizierte Personen, die aus den EU- und EFTA-Ländern einwandern (mehr als die Hälfte von ihnen hat einen Abschluss auf Tertiärstufe). Von ihren Löhnen leisten sie oft Beiträge, die rein rechnerisch zu einem Anspruch oberhalb der Maximalrente führen würden. Diese Personen sind über alles gesehen also Nettozahlerinnen und -zahler, die mehr zur AHV beitragen, als sie später von dieser erhalten werden.

Meine Damen und Herren

Das Schweizer Wunder bedeutet nicht das Paradies auf Erden. Es gibt auch Leiden in unserem Land. Und es gibt im alltäglichen Leben tatsächlich immer wieder Schwierigkeiten, die dazu verleiten können – wie so oft –, Sündenböcke zu suchen oder Leute gegeneinander aufzubringen. Solche Schwierigkeiten bergen auch die Gefahr, dass Unterschieden mit Intoleranz, ja sogar mit Gewalt begegnet wird, statt mit Hoffnung und Vertrauen; sie bieten aber auch die Chance demokratisch über unsere Zukunft debattieren zu können.

Wir müssen gemeinsam handeln, um den Schwierigkeiten entgegenzutreten, um sie zu lösen. Die Behörden der Gemeinden, der Kantone und des Bundes sind sich dessen bewusst. Sie handeln, indem sie Missstände bekämpfen, die verschiedenen Wachstumseffekte aufeinander abstimmen und gleichzeitig darauf achten, dass die Quellen des Wohlstandes nicht versiegen.

In den kommenden Monaten werden die Stimmberechtigten das Erfolgsmodell Schweiz direkt bestätigen oder ablehnen können. Es beginnt mit der eidgenössischen Abstimmung vom 9. Februar. Dabei geht es nicht nur um die Zuwanderungspolitik (Kontingentsbürokratie versus Personenfreizügigkeit), vielmehr geht es darüber hinaus um die Entscheidung, ob wir die selbstbestimmte Öffnung unseres Landes weiterverfolgen wollen, ob wir den Weg der Schweiz mit der Europäischen Union festigen wollen.

Der bilaterale Weg mit der EU ist heute der beste Weg für die Schweiz in Europa. Hinter diesem Weg steht eine grosse Mehrheit in unserem Land, wie sich wiederholt gezeigt hat. Dies ist die europapolitische Option der Schweiz, die den Zusammenhalt unseres Landes wahrt. Dies ist die Option, die sowohl Unabhängigkeit wie auch Wohlstand bedeutet.

Dieser Wohlstand beruht auch auf einer stabilen und starken Beziehung zu unserem wichtigsten Markt, der EU. Diese Beziehung ist ein wichtiger Trumpf für beide Partner. Die Schweiz ist die zweitwichtigste ausländische Investorin in der EU und deren viertwichtigste Handelspartnerin. Zwei Drittel unseres Aussenhandels spielen sich mit den Mitgliedstaaten der EU ab. Die Dynamik der Beziehungen zwischen der Schweiz und ihren Nachbargebieten ist schon fast unglaublich: Allein das Volumen des Handels mit Baden-Württemberg erreicht beinahe dasjenige des Handels mit den USA oder des Handels mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – und zwar mit allen BRICS-Staaten zusammen!

Die Schweizer Wirtschaft entwickelt sich zweifellos auch in den neuen Märkten ausserhalb Europas. Deshalb handelt der Bundesrat ja auch neue Freihandelsabkommen aus, und deshalb geht er auch strategische Partnerschaften ein. Diese neuen Entwicklungen stellen aber nicht eine Alternative, sondern eine Ergänzung des ungehinderten Zugangs zum europäischen Markt dar.

Meine Damen und Herren

Der freie Personenverkehr ist das Kernstück des bilateralen Wegs. Er bezieht Arbeitskräfte ein, die unsere Wirtschaft und unsere Einrichtungen brauchen, damit sie leistungsfähig oder auch schlicht funktionsfähig bleiben. Unsere Spitäler und Heime könnten ohne diese zugewanderten qualifizierten Arbeitskräfte nicht auskommen: 30 Prozent des Gesundheitspersonals, das mit schweizerischer Tatkraft wirkt, haben ausländische Wurzeln … Sogar zu 40 Prozent ist unsere Hotellerie von Angestellten aus dem Ausland abhängig. Noch höher gehts in der Forschung – dem eigentlichen Motor unseres Landes –, wo bei einem Anteil von je 50 Prozent eine vollständige Partnerschaft zwischen Personen schweizerischer und ausländischer Herkunft besteht. Die schweizerische Landwirtschaft wiederum beschäftigt 20 000 Personen, vorwiegend aus Osteuropa, die besonders für den Gemüsebau unverzichtbar sind. So lehnt denn auch der Schweizer Bauernverband, die Maschinenindustrie, die Forschungsindustrie, das Gesundheitswesen, das Gastgewerbe, die KMUs und sämtliche Wirtschaftszweige die von der Initiative verlangte Rückkehr zu Kontingenten ab.

Kontingente kennt man übrigens bereits aus der Vergangenheit. Die Schweiz hat ihre Erfahrungen damit gemacht, und wir wissen, dass Kontingente nichts dazu beitragen, die Zuwanderung zu begrenzen – es sei denn, man lässt die Bedürfnisse der Wirtschaft ausser Acht. In den Jahren der Kontingentspolitik gab es zeitweilig mehr ausländische Arbeitskräfte als heute: So wanderten 1961 mehr als 200 000 Personen ein, fast doppelt so viele wie gegenwärtig.

Um der Wirtschaft und damit unserem Land nicht zu schaden, müssten so grosse Kontingente festgelegt werden, dass sie keine begrenzende Wirkung auf die Zuwanderung hätten. Das ist es aber nicht, was die Initiative will. Selbst eine solche «falsche» Kontingentierung würde aber für die Unternehmen zu einer Quelle von Unsicherheiten, Verzögerungen und Hindernissen. Sie würde Kosten mit sich bringen, die das Wirtschaftswachstum stark beeinträchtigen würden. Da ein sicherer Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften ein wichtiger Standortfaktor ist, könnten zudem Unternehmen zögern, sich in der Schweiz niederzulassen.

Man könnte natürlich auch kleinere Kontingente festlegen, um die Einwanderung zu begrenzen. Damit würde man aber den Bedürfnissen der Schweiz nicht mehr gerecht, egal ob es um die Privatwirtschaft oder um die öffentliche Hand geht. Die Lebensqualität insgesamt würde darunter leiden. Wollen wir unseren Spitälern wirklich solche Probleme bereiten? Wollen wir –wie schon in den 1920er-Jahren – erleben, dass schweizerische Unternehmen im Jura sich auf der französischen Seite der Grenze niederlassen, um Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften zu haben? Der Bundesrat will, dass die Schweiz ihre Produkte exportiert, nicht ihre Arbeitsplätze!

Das Kontingentssystem hätte – wie schon in der Vergangenheit – auch eine Zunahme der illegalen Immigration zur Folge, eine Zunahme der Schwarzarbeit sowie eine Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Überdies würde dieses System den Unternehmen und den Kantonen grosse administrative Lasten aufbürden. Die Zahl der Arbeitsbewilligungen würde den Bedürfnissen der Wirtschaft ständig hinterherhinken. Im Grunde genommen wäre dieses rigide und bürokratische System nichts anderes als eine Planwirtschaft: das pure Gegenteil einer liberalen Wirtschaftsordnung, der Grundlage unseres Schweizer Wunders.

Der Bundesrat ist der Meinung, dass das Bewährte zu erhalten ist und dass Verbesserungen dort anzubringen sind, wo es nötig ist. Er lehnt eine Initiative ab, die kein einziges Problem löst, aber neue Probleme schafft.

Nach Auffassung des Bundesrates steht das Kontingentssystem nicht im Einklang mit dem Grundsatz des freien Personenverkehrs. Der Bundesrat hält es auch für unwahrscheinlich, dass Ausnahmen von diesem Grundsatz zu einem politisch annehmbaren Preis ausgehandelt werden könnten. Bei einer Annahme der Initiative könnten die Folgen so weit gehen, dass der bilaterale Weg grundsätzlich in Frage gestellt würde und dass folglich auch die Arbeitsplätze und der Wohlstand, die auf diesem Weg geschaffen wurden, gefährdet werden könnten.

Meine Damen und Herren

Der freie Personenverkehr und ganz allgemein der Weg, den die Schweiz mit der Europäischen Union beschreitet, ist ein Gesellschaftsprojekt, das unser Land mit viel Geduld aufgebaut hat.

Bildlich gesprochen ist die Schweiz wie ein Zug, der gut aufgegleist ist und auf der Schiene des Erfolgs fährt. Unser Zug ist sicherlich nicht perfekt, er fährt auch nicht besonders schnell, aber er kommt gleichmässig voran. Er erreicht seine Ziele zur rechten Zeit, und er versammelt alle Kräfte des Landes an Bord. Von Zeit zu Zeit müssen die Schienen oder die Lokomotive erneuert werden; die Zugkraft aber soll nicht geschwächt werden.

Es ist klar, was am kommenden 9. Februar auf dem Spiel steht: Es geht darum, den gemeinsamen Weg, auf dem sich die Schweiz befindet, zu bekräftigen ... unsere Weiterfahrt auf der Erfolgsspur.


Adresse für Rückfragen

Kommunikation EDA
Bundeshaus West
CH-3003 Bern
Tel. Medienstelle: +41 58 460 55 55
E-Mail: kommunikation@eda.admin.ch
Twitter: @EDA_DFAE


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
https://www.eda.admin.ch/eda/de/home.html

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-51617.html