E-Leaders 2013: OECD High Level Meeting on E-Government

Bern, 24.09.2013 - ICT governance to deliver public value - Eröffnungsrede von Bundeskanzlerin Corina Casanova, 29. Oktober 2013

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich begrüsse Sie ganz herzlich in Bern. Nachdem Sie sich vor einem Jahr in Mexico City,  einer der grössten Hauptstädte der Welt getroffen haben, werden Sie hier in der Schweizer Bundesstadt möglicherweise über die Ruhe staunen, wenn Sie abends noch durch die Lauben Berns schlendern.

Bern kennzeichnet aber nicht nur die beschauliche Altstadt, die zum Unesco- Welterbe gehört. Hier haben auch Politik und Verwaltung des Bundes ihren Sitz.

Direkte Demokratie und Föderalismus prägen das politische System der Schweiz: letztlich entscheidet immer das Volk über politische Projekte. Föderalismus bedeutet, dass nationale Reformen und Projekte stets das Einvernehmen zwischen Bund, Kantonen, und Gemeinden voraussetzen.

Auch beim E-Government in der Schweiz gibt der Föderalismus den Rahmen für die Umsetzung vor: Die  entsprechende Strategie wurde 2007 gemeinsam von Bund und  Kantonen erarbeitet. Die 60 priorisierten E-Government-Vorhaben werden  gemeinsam gesteuert  und dezentral umgesetzt: Die Einführung von elektronischen Dienstleistung der Verwaltung wird wohl hier in Bern koordiniert, der Umsetzungsentscheid aber liegt häufig bei den Kantonen, Städten und Gemeinden.

Die Umsetzung von E-Government - dies zeigen international vergleichende Studien - geht daher in der Schweiz etwas langsamer voran. Der längere Entscheidungsweg auf verschiedenen Staatsebenen ermöglicht aber auch, den öffentlichen Nutzen der Verwaltungstätigkeit ins Zentrum zu rücken. Kantone und Gemeinden sind näher an der Bevölkerung als die Bundesverwaltung. Sie können so E-Government in ihren Verwaltungsstellen priorisiert gemäss den öffentlichen Bedürfnissen umsetzen. Auch beim E-Government gilt es, nahe bei Bürgerinnen und Bürgern zu sein.

Diese Bürgernähe der E-Government-Dienstleistungen spiegelt sich regelmässig positiv in Umfragen zur Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem Online-Angebot ihrer Verwaltung.  

Das bringt mich zu Thema Ihrer Tagung: „Governance to deliver public value". Was heisst „Public Value"? Woran bemisst sich dieser „Public Value"? Wie kann ICT governance zu mehr Effizienz führen? Wie schaffen wir das nötige Vertrauen? Weitreichende Fragen, mit denen Sie sich in den nächsten zwei Tagen vertieft auseinandersetzen werden.

Doch lassen Sie mich von der Sprache der Ökonomen in die Sprache der Res Publica und ihre Terminologie wechseln.

Ich möchte mich bei der Interpretation von „Public Value" an „Bürgernähe" und insbesondere an „Bürgerfreundlichkeit" orientieren. Denn das ist es meiner Meinung nach, worauf Staat und Verwaltung ihre Tätigkeit auszurichten haben. Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit. Und an ihrer Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit haben sich die Dienstleistungen des Staates auch messen zu lassen. Public Value eben.

Die Erfüllung staatlicher Aufgaben sowie die Interaktion zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern erfolgt seit rund zwei Jahrzehnten in immer stärkerem Masse auf digitalem Wege. Dabei halte ich es mit dem aus dem Design bekannten Grundsatz „form follows function". Die Form wird durch die Funktion bestimmt und nicht umgekehrt. Der digitale Ansatz, die elektronische Erbringung von Dienstleistung oder die elektronische Abwicklung des Behördenverkehrs sind Mittel zum Zweck. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Der Prozess mag sich verändern, nicht aber der Charakter im Verkehr zwischen Bürger und Staat.

Zur Verdeutlichung möchte ich im Folgenden auf zwei Schweizer Projekte eingehen. Das Projekt „Vote électronique" und das Projekt „E-Vernehmlassungen".

Wie Sie wissen hat die Schweiz eine lange Tradition im Bereich der direkten Demokratie. Die Bundeskanzlei, der ich vorstehe, ist dabei nicht nur die Stabsstelle der Regierung, sondern auch Hüterin der Volksrechte.

In der Schweiz muss man nicht Mitglied des Parlaments sein, um die Verfassung zu ändern. Nein. 100‘000 Stimmberechtigte können mittels einer sogenannten Volksinitiative eine Verfassungsänderung zur Abstimmung bringen. 50‘000 Stimmberechtigte können mittels eines fakultativen Referendums ein bereits von Regierung und Parlament beschlossenes Bundesgesetz an die Urne bringen. Aktuell sind fünf Volksinitiativen, zwei direkte Gegenvorschläge und ein Referendum im Abstimmungsverfahren. Entsprechend häufig werden die Schweizerinnen und Schweizer an die Urnen gerufen. Rund viermal pro Jahr stimmen sie über zahlreiche Bundes-, Kantons- und Gemeindevorlagen ab.

Auch der Weg der Stimmabgabe gestaltet sich in der Schweiz anders als in vielen anderen Staaten. Alle Stimmberechtigten erhalten ihren Stimmrechtsausweis sowie ihre Abstimmungsunterlagen rund drei Wochen vor dem Abstimmungstermin nach Hause geschickt. Der Stimmberechtigte hat danach die Wahl, wie er seine Stimme abgeben will.

Er oder sie kann die Stimme an der Urne abgeben. Eine weitere Möglichkeit ist die briefliche Stimmabgabe. Die briefliche Stimmabgabe ist in der Schweiz seit 1994 komplett liberalisiert. Dieser Schritt war eine behördliche Antwort auf die wachsende Mobilität der Gesellschaft.  Das heisst, der Stimmberechtigte übergibt seinen Stimmzettel der Post und diese ist für die Übermittlung an die Gemeinde besorgt. Von der brieflichen Stimmabgabe machen in der Zwischenzeit über 80 Prozent der Stimmberechtigten Gebrauch. In städtischen Gebieten sogar über 90 Prozent.

Und Sie wissen was nun kommt: Vor nun mehr rund 10 Jahren hat die Schweiz das Projekt „Vote électronique" lanciert und Versuche mit der elektronischen Stimmabgabe gestartet. Ziel ist es, die elektronische Stimmabgabe als dritten, komplementären Stimmkanal zu etablieren. Die Priorität liegt heute auf der Zielgruppe der Auslandschweizer Stimmberechtigten sowie auf Stimmberechtigten mit Behinderungen - insbesondere Sehbehinderungen. Ihnen soll die Barriere freie und damit autonome Stimmabgabe ermöglicht werden. Erklärtes Ziel des Bundesrates ist aber die mittel- bis langfristige Einführung der elektronischen Stimmabgabe für alle Stimmberechtigten.

Bei Vote électronique hat der Bundesrat von Beginn weg einen schrittweisen Ansatz gewählt. Denn ein weiteres Charakteristikum der Schweiz neben der direkten Demokratie ist wie eingangs erwähnt der Föderalismus. Die Kantone haben eine starke Stellung in unserem Land. Und dies gilt insbesondere im Bereich der politischen Rechte, wo den Kantonen weitreichende Kompetenzen zukommen. Bei „Vote électronique" handelt es sich denn auch um ein gemeinsames Projekt von Bund und Kantonen. Die Kantone bestimmen, ob und wann sie die elektronische Stimmabgabe einführen wollen. Mittlerweile bieten 13 Kantone die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe - vorab für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Weitere Kantone werden demnächst folgen.

Sie sehen: form follows function. Die direktdemokratischen Instrumente sind  in der Schweiz seit Jahrzehnten erprobt und fest verankert. Wir haben mit der brieflichen Stimmabgabe seit bald 20 Jahren Erfahrungen mit einer Form des „remote voting" sammeln können, und der Kanal geniesst hohe Akzeptanz. Angesichts der Vielzahl von Abstimmungen, angesichts der weiter wachsenden Mobilität sowie angesichts der Eroberung immer weiterer Lebensbereiche durch das Internet sehen wir uns als Behörden in der Pflicht, unsere Dienstleistungen anzupassen. Unser Bestreben ist es - ganz im Sinne von Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit - die politischen Rechte fit für die Bedürfnisse des digitalen Zeitalters und insbesondere der „digital natives"  zu machen. E-Lösungen nicht zum Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck. Das ist Public Value. Das ist bürgernah und bürgerfreundlich!

Doch das braucht Zeit. Ein solches Unterfangen lässt sich nicht von heute auf morgen realisieren. Zu gross sind die Herausforderungen im Bereich der Sicherheit. Es braucht mehr als eine gute Informatiklösung. Denn auf dem Spiel steht nichts Geringeres als das Vertrauen der Stimmberechtigten in die Korrektheit von Wahlen und Abstimmungen. Deshalb gilt für das Schweizer Projekt das Motto „Sicherheit vor Tempo". Heute gelten aus Gründen des Risikomanagements strenge Limiten beim zugelassenen Elektorat. Diese Limiten können mit der Realisierung erweiterter Sicherheitsanforderungen und der Einführung der Verifizierbarkeit schrittweise angehoben werden. Aber wie gesagt, das braucht Zeit.

Zu komplex sind auch die Abläufe und Prozesse - gerade in einem föderalistischen Land wie der Schweiz, wo bundesrechtliche Regelungen nur subsidiär zum Tragen kommen und von der Registerführung bis hin zur Organisation des Urnengangs vieles durch kommunales oder kantonales Recht geregelt wird. Aber gerade in diesem Bereich profitieren wir von unserem Ansatz der schrittweisen Einführung und Ausdehnung der elektronischen Stimmabgabe. Wir erleben Wechselwirkungen zwischen den analogen und digitalen Prozessen und damit die Optimierung von bestehenden aufgrund neuer Prozesse.

Den „Public Value" können wir heute an der grossen Akzeptanz messen, die Vote électronique bei den Auslandschweizer Stimmberechtigten geniesst. Wir können ihn weiter an den berechtigten Forderungen von Menschen mit Behinderungen bemessen, die sich eine Barriere freie und autonome Stimmabgabe wünschen. Und wir können ihn weiter aus E-Government Umfragen ablesen. Diese zeigen, dass E-Voting bei den Bürgerinnen und Bürgern ganz oben auf der Prioritätenliste steht.

Damit wird das Bestreben, staatliche Dienstleistungen bürgernah und bürgerfreundlich zu erbringen, auch zu einem Mehrwert für die Res Publica selber. Personalintensive Prozesse werden automatisiert, weniger fehleranfällig und effizienter. Wahl- und Abstimmungsergebnisse werden schneller und noch zuverlässiger erhoben. Statistiken werden rascher erstellt und liefern neue Erkenntnisse über die Partizipation der Stimmberechtigten. Public Value wird geschaffen.

Etwas Ähnliches gilt für ein weiteres zentrales Instrument in unserer Staatsordnung, die Vernehmlassung.

Die Vernehmlassung ist ein wichtiger Schritt im Schweizer Gesetzgebungsverfahren. Jede Partei und jeder Verband ist eingeladen, sich zu einem Gesetzesentwurf zu äussern, bevor der Bundesrat den Entwurf ans Parlament zu Beratung weiterleitet. Die Vernehmlassung ist ein Instrument der politischen Partizipation und Qualitätssicherung. Sie führt oft dazu, dass ein Entwurf verbessert wird. Manchmal wird auch auf ein Gesetz verzichtet, weil die Stellungnahmen überwiegend ablehnend waren.

Wir wollen die Vernehmlassungen bald auch durchgehend elektronisch durchführen können. Wir versprechen uns davon eine administrative Entlastung. Das ist schon technisch eine grosse Herausforderung. Denn es gibt Schnittstellen innerhalb der Bundesverwaltung zu bereits bestehenden Geschäftsanwendungen, und es gibt Schnittstellen zu 26 Kantonen und Hunderten von Parteien und Verbänden. Es gibt auch keine Formvorschriften; alle sind frei darin, wie sie ihre Stellungnahmen gestalten.

An und für sich können sich schon heute alle Bürgerinnen und Bürger am Vernehmlassungsverfahren beteiligen. In der Praxis tun sie dies selten. Es stellt sich aber die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger nicht verstärkt ins Verfahren einbezogen werden sollen. Das Stichwort dazu lautet E-Partizipation. Mit dem Web erscheint dies einfach machbar. Das führt aber auch zu Fragen, die viel schwieriger zu beantworten sind: Heute erhalten wir in einer Vernehmlassung selten mehr als 50 Stellungnahmen. Wie gehen wir damit um, wenn wir plötzlich 50"000 oder noch mehr Stellungnahmen bewältigen müssen? Und wie gewichten wir die Stellungnahmen? Wie stellen wir sicher, dass sich wirklich alle beteiligen können, die sich äussern wollen? Nicht nur jene, die geübt sind im Umgang mit dem Web?

Wir müssen uns in all diesen Projekten nicht nur überlegen, was wir verbessern oder vereinfachen wollen. Sondern auch, was wir behalten wollen, weil es sich bewährt hat. Deshalb gehen wir - wie beim E-Voting - schrittweise voran, und planen einen Pilotversuch, um erste Erfahrungen zu sammeln.

Unsere Erfahrungen, aber wahrscheinlich auch Ihre Erfahrungen zeigen: Mit unseren E-Government-Projekten überwinden wir Grenzen und stossen in Neuland vor. Das Überschreiten von Grenzen bietet Chancen, es birgt aber auch Risiken. Man stösst in unbekannte Gebiete vor, in die Hoheitsgebiete von andern Organisationen, in andere Länder gar, wo andere Gesetzmässigkeiten herrschen, eine andere Sprache gesprochen wird, eine andere Kultur im Umgang miteinander. Wir muten den andern Veränderungen zu, Veränderungen, die die Menschen zutiefst betreffen. Das löst Hoffnung aus, weckt aber auch Widerspruch und Widerstand. Hier ist die Fähigkeit des kulturellen Perspektivenwechsels gefragt, der Blick dafür, wie unsere Pläne und Ideen bei anderen ankommen, wie sie verstanden werden und was sie allenfalls als Gegenreaktion auslösen.

Wir erleben das in der Schweiz mit ihren 26 Kantonen, 2‘400 Gemeinden, ihrem Traditionsreichtum und ihrer Sprachenvielfalt Tag für Tag.

Und damit komme ich zum Schluss.

Die Erfolgsgeschichte von „Vote électronique" mit der die Schweiz übrigens neben Estland und Norwegen eigentliche Pionierarbeit in Europa leistet, soll Sie inspirieren für die anstehende Tagung. Denn Vote électronique steht in meinen Augen exemplarisch für den von der Res Publica angestrebten und dem Bürger letztlich geschuldeten „Public Value". Die IKT sind dabei ein wunderbares Werkzeug.

Sie arbeiten mit diesem Werkzeug und verändern damit unsere Welt, wie die Maschinen- und Elektroingenieure vor 100 Jahren mit Motoren, Fahr- und Flugzeugen die unsere Welt verändert haben. Damals ging es um die Fortbewegung, heute geht es heute um Kommunikation. Immer geht es um das Überschreiten von Grenzen, das Entdecken von neuen Möglichkeiten und um Erneuerung.

Damit Ihnen Ihre Vorhaben gelingen, brauchen Sie Mut, Umsicht und Zuversicht. Sie brauchen aber vor allem eins: die Fähigkeit zu kommunizieren. Kommunizieren bedeutet „Gemeinsamkeit herstellen", sich mit andern über Bedürfnisse, Ziele und Massnahmen im gemeinsamen Leben zu verständigen. Das ist Politik. Und das ist oft schwierig, wenn man aus verschiedenen Gruppen, Organisationen, Kulturen kommt und verschiedene Sprachen spricht. Aber Kommunikation ist unumgänglich.

Ihre Zusammenkunft und Ihr Dialog hier in Bern ist deshalb ausgesprochen wertvoll.

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Gedanken- und Erfahrungsaustausch und viel Erfolg mit Ihren Projekten.


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