Ansprache zum 1. August 2013 von Bundesrat Didier Burkhalter - «Eigenständig, kooperativ, verantwortungsvoll: der beste Weg für die Schweiz»

Bern, 31.07.2013 - 31. Juli 2013 - Riga, Lettland – Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Minister
Verehrte Mitglieder der Saeima
Exzellenzen
Meine Damen und Herren
Liebe Mitbürger

«Trittst im Morgenrot daher…». Mit diesen Worten beginnt die Schweizer Nationalhymne, die am morgigen 1. August wieder an vielen Orten in der Schweiz erklingen wird. Sogar «golden» ist das Pferd, das der berühmte lettische Dichter Rainis beschrieben hat: Das Märchenspiel hat er in Castagnola im Schweizer Kanton Tessin geschrieben – ein schönes Beispiel für die Nähe unserer Länder.

Müsste ich eine Farbe auswählen, die die enge Beziehung zwischen der Schweiz und Lettland wiedergibt, würde ich das schweizerische Morgenrot und das lettische «Gold» mischen: Aus rot und gelb wird orange: Diese Farbe tragen die Schulbusse, die viele Schülerinnen und Schüler aus ländlichen Regionen Lettlands in die Schulen fahren. Die Schweiz hat den Erwerb dieser Busse im Rahmen des Erweiterungsbeitrags unterstützt. Als Beitrag an die grossen Herausforderungen, mit denen sich Lettland nach 1989 konfrontiert sah. Und als Investition in die Zukunft und die Jugend.

Die Farbe orange bedeutet heute für zahlreiche lettische Kinder den Zugang zu Bildung und zu neuen Perspektiven. Perspektiven, um Träume zu verwirklichen und eine gemeinsame friedliche Zukunft in Lettland, in Europa und in der Welt aufzubauen. Der Zugang zu Bildung ist hierfür eine zentrale Voraussetzung. Ich freue mich, dass die Schweiz und Lettland gemeinsam ihren Beitrag für die Zukunft der Jugend leisten können.

Liebe lettische Gäste. Zusammen mit Ihnen begehen wir heute den Schweizer Nationalfeiertag.

Es freut mich sehr, dass Sie heute mit uns feiern. Sie bezeugen damit die Freundschaft zwischen unseren Ländern.
Besonders begrüssen möchte ich natürlich auch die Schweizerinnen und Schweizer, die in Lettland, Litauen und Estland leben. Sie verleihen dem heutigen Anlass – fast 1600 Kilometer Luftlinie von der Schweiz entfernt – eine heimatliche Note. Wie eng die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sind, habe ich heute Nachmittag bei meinem Gespräch mit meinem Amtskollegen Edgars Rinkeviks wieder erfahren.
Im vergangenen März habe wir uns das letzte Mal getroffen – in Bern bei seinem Arbeitsbesuch in der Schweiz. Schon damals haben wir feststellen können, dass die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ausgezeichnet sind. Wir haben auch festgehalten, dass wir die Beziehungen in allen Bereichen, namentlich auch im wirtschaftlichen Bereich, weiter intensivieren möchten. Die heutigen Gespräche haben dies bestätigt: wir haben ein gemeinsames Interesse, unsere Beziehungen zu erweiterten und zu vertiefen.

Meine Damen und Herren

1600 Kilometer Distanz sind kein Hindernis, um gemeinsame Ziele zu haben, zusammen darauf hinzuarbeiten – und dabei eigenständig bleiben. Wie wichtig dies Lettland ist, drückt ja auch die erste Zeile der lettischen Nationalhymne aus: „Dievs sveti Latviju“ [„Gott segne Lettland“] – bei seiner Entstehung um 1870 einer der ersten Liedtexte, in denen das Wort „Lettland“ vorkam. Die Zeile wurde rasch als Forderung nach nationaler Eigenständigkeit verstanden. Mehrere Kongresse, die zur Schaffung der ersten Unabhängigkeit führten [Proklamation der lettischen Republik: 18. November 1918], fanden in der Schweiz statt. Und die Eigenständigkeit wurde übrigens vom lettischen Dichter Janis Rainis von seinem Exil in der Schweiz kräftig unterstützt, indem er Schillers Wilhelm Tell ins Lettische übersetzte…

Gemeinsam handeln, eigenständig bleiben: Wie die Schweizerinnen und Schweizer in Lettland, Estland und Litauen stehen über 700‘000 Schweizerinnen und Schweizer, die derzeit in einem Land ausserhalb der Schweiz leben, für diese positive Wechselwirkung. Sie haben gelernt, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Offenheit und die Fähigkeit, sich an neue Umstände anzupassen und gleichzeitig Tradition und Werte zu pflegen, sind Eigenschaften, die Sie dafür benötigen. Sie verkörpern damit Werte, die auch für die Schweiz unentbehrlich sind: Die Offenheit und die Fähigkeit, mit neuen Kontexten umzugehen und eigenständig zu handeln, ist in der heutigen Zeit unentbehrlich, um eigene Werte und Interessen zu wahren. Im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts gilt das besonders für kleinere Länder wie Lettland und die Schweiz.

Neben Offenheit und Flexibilität braucht es aber auch Solidarität, Verantwortung und gemeinsames Handeln. Denn in einer global vernetzten Welt, in der zwischen den Staaten und Regionen verschiedenste Beziehungen und Interdependenzen bestehen, lassen sich globale Herausforderungen nicht alleine meistern. Gemeinsames, soldarisches und verantwortungsvolles Handeln ist unabdingbar. Denken Sie zum Beispiel an den Klimawandel, der nicht vor nationalen Grenzen Halt macht oder an Migrationsfragen, wo einzelstaatliche Ansätze kaum nachhaltig sind.

Solidarität und Verantwortung sind auch gefragt, wenn es um Sicherheit und Stabilität geht. Die Schweiz übernimmt diesbezüglich Verantwortung, indem sie im kommenden Jahr die Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übernimmt. Es ist eine Gelegenheit, Brücken zu bauen und Vertrauen herzustellen, damit die Staaten gemeinsam daran arbeiten, Konflikte friedlich zu bewältigen oder – noch besser – gar nicht entstehen zu lassen.

Der Vorsitz der OSZE – den die Schweiz als erstes Land zum zweiten Mal übernehmen wird – ist eine grosse Herausforderung. Denn die Interessenlage der Teilnehmerstaaten ist in vielen Bereichen sehr unterschiedlich. Doch wir sind überzeugt, dass wir in Lettland einen guten und verlässlichen Partner haben werden, um gemeinsam mit den übrigen Teilnehmerstaaten der OSZE eine Sicherheitsgemeinschaft im Dienste der Menschen zu schaffen.

Mit ihrem Engagement im Rahmen der OSZE, insbesondere natürlich mit der OSZE-Präsidentschaft 2014, kann die Schweiz eine wichtige Priorität ihrer eigenen Aussenpolitik umsetzen: Das Engagement für Sicherheit und Stabilität in Europa und darüber hinaus. Auch bei der OSZE wird also die Parallelität von Eigenständigkeit und Offenheit wieder sichtbar: Die Wahrung der Schweizer Interessen und Werte und das gemeinsame Handeln in der Gemeinschaft der Staaten.

Für ihren OSZE-Vorsitz hat die Schweiz deshalb verschiedene Schwerpunkte definiert, denen sie während ihrer Präsidentschaft ein besonderes Augenmerk widmen will. Auch hier kommt der Jugend ein besonderes Gewicht zu. Ziel ist hier nicht etwa, dass wir im OSZE-Raum flächendeckend orange Schulbusse einführen wollen... Es liegt uns aber am Herzen, dass die Jugend im OSZE-Raum mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen stärker zu Wort kommt. Deshalb sollen Jugendliche aus allen Teilnehmerstaaten in einer „Modell-OSZE“ über aktuelle Themen aus den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft, Umwelt und menschliche Dimension diskutieren können. Ihre Schlussfolgerungen und Empfehlungen sollen sie beim Ministerratstreffen im Dezember 2014 in Basel präsentieren.

Dass wir die Jugend wie auch die Zivilgesellschaft insgesamt stärker in die Arbeit der OSZE einbeziehen wollen ist Ausdruck unseres Verständnisses von der Teilnahme an politischen Entscheidungen. Hier hat die Schweiz ihr eigenes und eigenständiges System, bei dem sich jeder Staatsbürger - selbstverständlich auch dann, wenn er in Lettland, Litauen oder Estland lebt - an der politischen Diskussion beteiligen, ja sie sogar initiieren kann.

Im direktdemokratischen System der Schweiz zählt die Meinung jedes und jeder Einzelnen – die gemeinsam mit allen anderen Bürgerinnen und Bürgern die Zukunft des Landes mitgestalten. Schon auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene finden wir die Parallelität von Eigenständigkeit und gemeinsamem verantwortungsvollen Handeln – zum Wohle der Schweiz. Die politische Mitbestimmung ist ein Teil der Identität der Schweiz. Sie macht unser Land gleichzeitig stabil und flexibel – mit einem Wort: erfolgreich.

Eigenständigkeit, Zusammenarbeit und Verantwortung charakterisieren auch unsere Aussenpolitik, wie das bereits erwähnte Beispiel der OSZE zeigt. Ein anderes Beispiel ist unser Engagement im Syrien-Konflikt, wo sich die Schweiz mit anderen Staaten auf politischer Ebene dafür einsetzt, dass die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts geahndet werden und Not gelindert wird. Mehr als ein Drittel der syrischen Bevölkerung ist mittlerweilen von humanitärer Hilfe abhängig. Deshalb engagiert sich die Schweiz mit bislang rund 50 Millionen Franken für die Verbesserung der Lage der betroffenen Bevölkerung. So unterstützen wir unter anderem im Nordlibanon 2‘000 Gastfamilien mit Bargeld, damit sie rund 15‘000 Flüchtlingen aus Syrien Schutz und ein Dach über dem Kopf bieten können.

Meine Damen und Herren

Das Verhältnis von Eigenständigkeit und gemeinsamem Handeln stellt sich für die Schweiz namentlich in Europa in besonderem Masse. Alle Staaten setzen sich hier für einen europäischen Kontinent ein, auf dem Frieden und Sicherheit gewährleistet ist, auf dem die Wohlfahrt gefördert wird und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sichergestellt sind. Hierfür engagiert sich die Schweiz zum Beispiel im Europarat.

Und deshalb unterstützen wir hier in Lettland nicht nur die orangen Schulbusse, sondern wir beteiligen uns auch am Aufbau von elf Jugendzentren oder versuchen, im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in Lettland mit Mikrokrediten Kleinstunternehmen und selbständig Erwerbenden bessere Startchancen zu geben.

Solidarität und Verantwortung ist für die Schweiz Teil ihres Selbstverständnisses als europäischer Staat. Die Unterstützung durch den Erweiterungsbeitrag ist hier ein konkretes Mittel. Zu unserem Selbstverständnis gehört auch die Gestaltung unseres Verhältnisses zur EU. Die Schweiz gehört der EU nicht an, sondern gestaltet ihr Verhältnis zur EU auf der Grundlage sektorieller bilateraler Abkommen. Diese Abkommen sind die Grundlage für die Zusammenarbeit in vielen Bereichen, etwa bei der Bildung und Forschung (zum Beispiel können lettische Doktorierende einen Forschungsaufenthalt in der Schweiz absolvieren).

Der bilaterale Weg hat unseren Wirtschaftsunternehmen den Zugang zu bestimmten Sektoren des EU-Binnenmarkts geöffnet. Wenn man bedenkt, dass allein der Umfang des Handels mit dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg grösser ist als das Handelsvolumen mit den USA, kann man sich gut vorstellen, wie wichtig es für die Schweiz und für die EU ist, dass dieser Zugang zum Binnenmarkt auch in Zukunft sichergestellt ist. Um den bilateralen Weg langfristig zu sichern, ist es nötig, dass gemeinsam einige institutionelle Fragen gelöst werden.

Gemeinsam heisst hier, dass wir im Dialog mit der EU Lösungsansätze diskutieren und Lösungen entwickeln – die die Eigenständigkeit der Schweiz sicherstellen. Die Wahrung der institutionellen Ordnung und namentliche der Volksrechte ist für den Bundesrat ein zentraler Bestandteil der Europapolitik. Dies hat der Bundesrat in seiner mittelfristigen Strategie für die Konsolidierung und Renovierung des bilateralen Wegs erneut unterstrichen.

Das Volk, der Souverän in der Schweiz, muss stets das letzte Wort haben und über die Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU entscheiden können. Das gehört zur Eigenständigkeit der Schweiz. So war es bisher, so wird es auch bleiben. Einen wie auch immer gearteten Automatismus wird es nicht geben. Das ist eine souveräne Europapolitik im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Schweiz hat in den Beziehungen zur EU einen anderen Weg gewählt als Lettland, das seit 2004 Mitglied der Union ist. Lettland hat seither beeindruckende Ergebnisse erzielt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat es gut überstanden, seine Wachstumsrate gehört zu den höchsten innerhalb der EU, und ab kommendem Jahr wird es der Euro-Zone angehören.

Sie sehen, verschiedene Wege können zum Ziel führen. Während dies für Lettland die Mitgliedschaft ist, ist es für die Schweiz der bilaterale Weg. Was uns verbindet ist, dass beide Länder auf Eigenständigkeit und Freiheit bedacht sind.
Es ist darum wohl kein Zufall, dass bereits zitierte grosse lettische Schriftsteller Janis Rainis viele Jahre seines Exils in Castagnola, einer Gemeinde am Luganersee, verbrachte. Diese Bande zwischen Lugano und Riga steht für gemeinsame Werte, für die die Schweiz und Lettland einstehen.

Und diese Werte sind auch die Grundlage für das gegenseitige Verständnis, namentlich auch in der Europapolitik. Es ist gut zu wissen, dass wir mit Lettland einen Partner in Europa haben, der uns versteht und auf den wir zählen können.

Meine Damen und Herren

Sie sehen, Lettland und die Schweiz verbindet viel. Nicht nur die eingangs erwähnten Farben, die Morgenröte und das „goldene Pferd“. Und nicht nur die Tatsache, dass wir uns rühmen, die beste Schokolade der Welt zu produzieren; wahrscheinlich haben wir beide Recht. Die Schweiz und Lettland spielen auch ziemlich gutes Eishockey. Und wie wir einen Roger Federer haben, hat Lettland einen Arturs Irbe: Einen Sportler, der nicht nur erfolgreich ist, sondern auch wichtige Eigenschaften unserer Länder verkörpert und in die Welt hinausträgt. Auch hier macht das richtige Verhältnis von individuellen Fähigkeiten und Arbeit im Team, von Solidarität und Verantwortung einen wesentlichen Erfolgsfaktor aus.

Der Nationalfeiertag ist ein Tag, an dem wir uns auf diese Werte besinnen und stolz auf sie sein können. Aber diese Werte sind nicht einfach geben. Wir müssen sie leben und dafür kämpfen. Damit die Menschen in Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben können. Damit unsere Kinder ihre Träume leben können. Damit Perspektiven geschaffen werden. Es freut mich, dass wir bei diesem Engagement in Lettland einen engen Partner haben. Und jeder orange Schulbus, dem wir in Lettland auf der Strasse begegnen, ist ein sichtbares Zeichen, dass wir Schritt für Schritt diesem Ziel näher kommen: gemeinsam und eigenständig.


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