100 Jahre Pro Juventute

Bern, 12.11.2012 - Grussbotschaft von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, anlässlich der Benefiz-Gala zum 100-Jahr-Jubiläum von Pro Juventute vom 10. November 2012 in Uitikon-Waldegg.

Es gilt das gesprochene Wort!
 
  

Als ich von Pro Juventute die Einladung für den heutigen Abend erhalten habe, fühlte ich mich zuerst unglaublich geschmeichelt - ich bin schliesslich mittlerweile auch schon in einem Alter, wo man lieber jünger als älter geschätzt wird ... Und gerade so jung, ja, das ist dann schon wirklich verblüffend ...

Natürlich kamen mir bald auch Zweifel. Als Schweizer fragt man sich ja immer selbstkritisch: Wie habe ich das verdient? Steht es mir auch wirklich zu?

Dann habe ich mich an meine erste Begegnung mit Pro Juventute zurückerinnert und gedacht, vielleicht ist es ein später Dank für all die Abende, da ich als Schüler mit den Briefmarken von Haustür zu Haustür gezogen bin ...

Rasch dachte ich aber an meinen zweiten Kontakt mit Pro Juventute: Als junger Vater habe ich den Elternbrief der Pro Juventute erhalten und mit viel Interesse und Gewinn gelesen. Und zwar immer wieder: Mit sechs Kindern gehört er zu den Lektüren, die ich wirklich intensiv studiert habe ...  

Dank und Gruss der Landesregierung
Bei dieser Erinnerung ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen - es ist natürlich an mir, mich zu bedanken. Und jetzt endlich erhalte ich die Gelegenheit dazu! Und die möchte ich heute Abend wahrnehmen: Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre wertvolle Unterstützung der Eltern und für Ihre grossartige Leistung zugunsten unserer Jugend - Und ich überbringe Ihnen auch den Dank der Landesregierung, ebenso wie die besten Wünsche für ein weiteres erfolgreiches Wirken in Zukunft!

Mesdames et Messieurs, au nom du gouvernement, je vous remercie de tout ce que vous faites depuis cent ans pour notre jeunesse. Recevez les meilleurs vœux et le salut de Berne à l'occasion de votre anniversaire. Nous espérons également que vous réussirez à poursuivre l'accomplissement de vos importantes tâches.

Gentili signore, Egregi signori, Pro Juventute offre da 100 anni un contributo molto importante alla nostra società. Prendendovi cura dei nostri giovani, vi prendete cura pure del futuro del nostro Paese. Vi ringrazio a nome del Consiglio federale e vi auguro anche per l'avvenire molto successo nella vostra preziosa attività.

Stimadas damas, stimads signurs, en il num dal Cussegl federal As engraziel jau per Voss engaschament. Nus As giavischain tut il bun per il futur - nus As duvrain er en l'avegnir!

Hut oder Schlange?
Ich habe meinen Kindern früher oft Märchen und Geschichten erzählt. Manchmal habe ich welche frei erfunden. Manchmal habe ich mich bei den Gebrüdern Grimm oder bei Wilhelm Hauff bedient. Ein modernes Märchen hat mir aber besonders gefallen: Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry... Dass der Autor Militärpilot war, tut hier nichts zur Sache ... Ich habe keine versteckte Botschaft ... Ich lasse heute Abend die Sicherheitspolitik beiseite!

Es beginnt mit einem der wohl berühmtesten Missverständnisse der Literaturgeschichte: Der Autor berichtet, wie er als kleines Kind den Erwachsenen eine Zeichnung zeigte. Immer wenn er die „grossen Leute" fragte, ob ihnen das Bild nicht Angst mache, hätten sie geantwortet: „Warum sollen wir vor einem Hut Angst haben?" Das Kind zeichnete aber eine Riesenschlange, die einen Elefanten verschluckt hatte. Nur die Erwachsenen hielten die Konturen für einen Hut.

Das Märchen nimmt seinen Fortgang, als das missverstandene Kind selbst erwachsen geworden war: Der Erzähler berichtet von seinem Abenteuer in der Sahara. Er ist Pilot und musste mit dem Flugzeug notlanden. Mitten in der Wüste trifft er auf den kleinen Prinzen, der von einem andern Planeten kommt. Von diesem Unterschied handelt das Märchen: Aus der Erwachsenenwelt stammt der eine, aus der Kinderwelt der andere.

Der Dialog zwischen dem Erzähler und dem kleinen Prinzen schwankt darum dauernd zwischen verstehen, nicht ganz richtig verstehen und doch wieder irgendwie verstehen.

So bittet der kleine Prinz den Erzähler zum Beispiel, ihm ein Schaf zu zeichnen. Er ist dann aber mit keiner der Zeichnungen zufrieden; aus irgend einem Grund treffen sie einfach seine Vorstellung nicht. So zeichnet der Erzähler schliesslich eine Kiste und sagt, das Schaf sei da drin. Der kleine Prinz ist begeistert, denn in der Kiste kann er das Schaf sowieso besser auf seinen Planeten heimnehmen.

Der kleine Prinz erzählt dann aus seiner Welt: Von seiner Reise, die ihn von Planeten zu Planeten brachte. Überall trifft er auf eigenartige Charaktere mit fixen Ideen. Und langsam wächst das Verständnis des Piloten für diese spezielle Welt.

Die Kinder freuen sich über diese etwas absurden Beschreibungen, wir Erwachsenen bekommen den Spiegel vorgehalten und erkennen uns im einen oder andern Charakterzug selbst wieder.

Verständigung zwischen zwei Welten
Das grossartige am kleinen Prinzen ist, dass er gewissermassen zweiseitig und nicht nur einseitig wirkt; ich will kurz erklären, was ich damit meine: Traditionelle Märchen sind ja oft sehr tiefgründig. Sie übersetzen Themen aus unserem Erwachsenenleben in eine kindergerechte Sprache. Sie erzählen den Kindern etwas von den Gefahren, die da überall auf der Welt lauern; sie warnen die Kinder anschaulich von Lastern wie Neid, Eifersucht, Eitelkeit, die alle zu einem bösen Ende führen. Dem stellen sie die Tugenden gegenüber, dank denen am Ende doch noch alles gut herauskommt. Damit sind Märchen ein Erziehungsmittel.

Das Märchen von Saint-Exupéry übersetzt aber nicht nur unsere Botschaften in die Sprache der Kinderwelt, sondern vermittelt uns umgekehrt auch Botschaften aus dieser Welt der Kinder. Für mich war es darum so etwas wie ein pädagogischer Ratgeber. Eine Anleitung zum Verständnis, eine Aufforderung zum Einfühlen - eigentlich Ihr Elternbrief in Allegorien verpackt.

Erst wenn uns gelingt, die Welt wieder selbst durch Kinderaugen zu sehen, verstehen wir die Kinder und ihre Bedürfnisse besser. Das ist manchmal schwierig. Oft fehlt es ganz einfach auch an der nötigen Erfahrung: Das Kind verzweifelt an der Zeichnung mit dem Elefanten und der Schlange, die alle für einen Hut halten. Und wir verzweifeln an der Zeichnung mit dem Schaf, die einfach nicht gefallen will.

Da genau springt Pro Juventute ein. Sie geben Eltern und Lehrern gewissermassen den Tipp, das Schaf in der Kiste zu zeichnen. Das heisst, sie helfen Verständnis zu entwickeln, das Einfühlvermögen zu verbessern und auf die Kinder einzugehen.

Wenn nötig, reichen Sie den Kleinen auch die Hand, wenn diese eine leitende, schützende oder helfende Hand brauchen. Sie leihen Kindern und Jugendlichen ein Ohr, wenn diese mit ihren Sorgen allein bleiben, wie Sie das mit Ihrem Dienst „Beratung + Hilfe 147" tun. Und Sie geben ihnen eine Stimme, weil die Stimme der Kinder nicht überall gehört wird.

Sie garantieren so etwas wie den Übersetzungsdienst, der zwischen der Welt der Kinder oder Jugendlichen und der Welt der Erwachsenen manchmal notwendig sein kann: Das ist das grosse Verdienst von Pro Juventute - seit hundert Jahren!

Die Aufgabe des Staates ...
Ihre Tätigkeit hat auch staatspolitisch einen hohen Wert: Sie sind die perfekte Ergänzung zur Politik. In einem liberalen Staat braucht es so etwas wie die Pro Juventute. Denn wo es um das Zwischenmenschliche geht, sollte sich die Politik zurückhalten. Menschliche Beziehungen lassen sich nun mal nicht verordnen und obrigkeitlich kontrollieren - man hat das in totalitären Staaten versucht und ist damit brutal gescheitert.

Der Staat hat gegenüber Kindern und Jugendlichen zwei wichtige Aufgaben: Gute Schulen anzubieten und für ein Heranwachsen zu sorgen, dass nicht von Gewalt und Kriminalität beeinträchtigt wird. Beim zweiten Punkt bin ich mir nicht sicher, ob der Staat seinen wichtigen Auftrag auch wirklich wahrnimmt:   

Vor drei Jahren hat Professor Martin Killias von der Universität Zürich anhand von Zahlen des Kantons St. Gallen eine Studie über die Gewalt und Delinquenz von Jugendlichen verfasst. Mit einem Fragebogen wurden alle Schüler des 9. Schuljahres angesprochen. Das Resultat ist absolut erschütternd. Über ein Viertel gab an, schon Opfer von Gewaltdelikten geworden zu sein. Über ein Drittel hat schon einen Ladendiebstahl begangen, fast ein Viertel gab Vandalismus zu und über 10% haben schon Drogen verkauft.[1]

Solche Entwicklungen beschäftigen mich. Einmal ganz persönlich, weil mir als Vater und Grossvater das Wohl der Kinder am Herzen liegt. Aber dann auch als Politiker, weil die Kinder unser gesellschaftliches Kapital sind und es um nichts anderes als um die Zukunft unseres Landes geht. Ich meine, der Staat muss sich wieder vermehrt auf seine Kernaufgaben konzentrieren; Kinder und Jugendliche vor Kriminalität zu schützen und vor Kriminalität abzuhalten, gehört hier klar dazu.

... und die Aufgaben von uns allen
Ihre Aufgaben liegen ausserhalb des staatlichen Aufgabenbereichs. Umso wichtiger ist Pro Juventute. Denn Sie sind dort tätig, wo Politik und Staat in einer freiheitlichen Gesellschaft nichts zu suchen haben, im Privatleben.

Als Pro Juventute 1912 gegründet wurde, da ging es vor allem um die Gesundheit. Die Bekämpfung der Tuberkulose stand damals im Vordergrund. Seither haben wir gewaltige medizinische Fortschritte gemacht. Dafür müssen wir uns andern Problemen stellen.

Die Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind, ändern sich. Die Hilfe, die Kinder brauchen, wandelt sich mit den Zeitumständen. Und Sie wandeln sich mit, immer mit dem Ziel, aus Kindern verantwortungsvolle Mitmenschen zu machen. Die moderne, schnelle, hektische Gesellschaft mit ihrer totalen Kommunikation beispielsweise bringt Chancen und Risiken. Und viel neue Verständigungs- und Verständnisschwierigkeiten, da ist das Märchen vom kleinen Prinzen gegenüber der Realität fast schon ein Ammenmärchen ...

Man fragt sich, ob es überhaupt noch Platz für so etwas wie eine Kindheit hat. Wie sollen Kinder an die Möglichkeiten herangeführt und gleichzeitig vor den Gefahren geschützt werden? Sie gehen auch auf solche neuen Lebensumstände ein und bieten Schulen und Eltern Beratung an.

Das ist meiner Meinung nach genau der richtige Weg, für alte wie für neue Herausforderungen: Das Kind soll im Mittelpunkt stehen. Wir müssen uns auf die Kinder konzentrierten, nicht auf neue Kompetenzen und Eingriffsrechte des Staates. Das Wohl der Kinder entscheidet sich letztlich nicht in der Politik. Sondern im realen, gelebten Alltag in der Familie, in der Schule, in der Gesellschaft.

Kindern helfen wir mit Verständnis und, wo es nötig ist, mit gezielter und unbürokratischer Unterstützung. Sie leisten diese Hilfe und geben uns allen die Gelegenheit, uns mit einer privaten Spende daran zu beteiligen und damit Gutes zu tun.

Im kleinen Prinz heisst es: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." Eigentlich wäre das ein schönes Schlusswort. Aber wir leben eben doch nur zur Hälfte in der Welt der Kinder und des kleinen Prinzen. Die andere Hälfte ist die nüchterne Welt von Soll und Haben. Das verpflichtet zu einem Nachtrag: Weil es halt doch immer wieder um Zahlen geht - oder vielmehr: ums Zahlen -, bringe ich Ihnen hier im Namen der Landesregierung einen Batzen mit: Die Sondermünze von Swissmint zur 100-Jahr-Feier der Pro Juventute ...

[1] Kriminologisches Institut Zürich, Jugenddelinquenz im Kanton St. Gallen, Bericht zuhanden des Bildungsdepartements und des Sicherheits- und Justizdepartements des Kantons St. Gallen, S. 12


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