Die Beresina-Schlacht und ihr Vermächtnis

Bern, 31.07.2012 - Ansprache zur Bundesfeier 2012 von Bundesrat Ueli Maurer Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS gehalten am 31. Juli in Hinwil und St. Margrethen und am 1. August in Uster, Siblingen, Linden und Münsingen.

Es gilt das gesprochene Wort

Die Schweiz hat heute Geburtstag. An Geburtstagen darf man sich zuerst einmal freuen. Und wir in der Schweiz haben ja wirklich allen Grund dazu. Wir leben in einem schönen Land, wir leben in Freiheit, wir leben in Wohlstand.

Geburtstage sind immer ein Anlass, in die Zukunft zu blicken. Wir haben in den nächsten Jahren für unser Land grundsätzliche Entscheide zu fällen. Im Vordergrund steht das Verhältnis zur EU. Brüssel will, dass wir EU-Recht direkt übernehmen. Im Grundsatz geht es um die Frage: Wollen wir unabhängig bleiben und unseren eigenen Weg gehen? Oder lassen wir uns mit Verträgen so eng an die EU binden, bis wir auch unsere eigene Zukunft an ihr Schicksal geknüpft haben? Wie es mit der EU weitergeht, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass die Forderungen an die kleine, wohlhabende Schweiz immer lauter gestellt werden, je härter sich die Schulden- und Eurokrise auswirkt. Druck und Begehrlichkeiten stand zu halten, wird somit zu unserer wichtigsten Aufgabe der nächsten Zeit werden.

Geburtstage sind aber immer auch eine Gelegenheit zurückzublicken. Auf Gutes und Schönes in der Vergangenheit. Aber auch auf weniger Gutes, auf Fehlentscheide und Schwächen und Schicksalsschläge. Denn oft kann man gerade aus dem Blick zurück viel für die Zukunft lernen.

Gewiss kennen viele von Ihnen das Beresina-Lied: „Unser Leben gleicht der Reise eines Wandrers in der Nacht“, das so etwas wie eine zweite, inoffizielle Nationalhymne der Schweiz ist. Gesungen hat es der Glarner Thomas Legler zur Aufmunterung seiner Kameraden in aussichtsloser Lage: 1812 während der verzweifelten Schlacht an der Beresina.

Dieses Jahr jährt sich diese Schlacht zum 200sten Mal. Beresina – das ist ein Fluss in Weissrussland. Weit weg also. Aber was dort geschah, ist ein wichtiges Stück Schweizer Geschichte geworden. Ich meine darum, die Bundesfeier 2012 ist der richtige Anlass, um an die Ereignisse von 1812 zu erinnern. Denn wie gesagt: Der Blick zurück schärft den Blick in die Zukunft. Und auch wenn sich die Geschichte nie wiederholt, so läuft sie doch immer wieder nach den selben Mustern ab.


I Stimmungsbild 1812

Versetzen wir uns 200 Jahre zurück: Napoleon beherrscht Europa von Spanien bis ins heutige Litauen. Aber das reicht ihm nicht. In Ostpreussen zieht er Truppen, Waffen und Pferde zusammen. Geplant ist ein Feldzug gegen den russischen Zaren. Bis zu einer halben Million Soldaten sind es schliesslich, die im Juni 1812 mit der Grande Armée in Russland einmarschieren.

Die Schweiz ist damals kein freies Land. Sie wird von Frankreich kontrolliert und fremdbestimmt. Seit dem Ende der Unabhängigkeit 1798 müssen tausende junger Schweizer in der französischen Armee dienen. 12‘000 Soldaten muss die Schweiz stellen für Napoleons irrsinniges Russlandabenteuer. Einige melden sich freiwillig. Die meisten aber werden zwangsrekrutiert, weg von Familie und Beruf.

Nur schon der Aufmarsch bringt die Mannschaften an den Rand ihrer Kräfte. Man muss sich das vorstellen: Keine Eisenbahnen oder Lastwagen für die Verschiebung. Die Distanzen sind zu Fuss zurückzulegen. In Eilmärschen durch ganz Europa. Mit Marschgepäck von 30 Kilo und mehr. Über hunderte und tausende von Kilometern. Bereits als die napoleonische Armee in Ostpreussen zusammengezogen wird, hat sie Monate des Marschierens hinter sich. Ein Schweizer Regiment zum Beispiel war zuvor in Marseille stationiert, ein anderes an der Strasse von Messina, Sizilien gegenüber, also in der vordersten Spitze des italienischen Stiefels. [1]

Hauptmann Siegrist aus dem Kanton Schaffhausen berichtet aus dem Alltag dieser gewaltigen Verschiebungen: Seine Kompanie muss zur Heerschau Napoleons antreten, sie hat 22 Stunden Eilmarsch hinter sich, dabei nur vier Laib Brot für 120 Mann. Dann geht es zum grossen Appell, aber die Ankunft des Kaisers verzögert sich: „Wir standen den ganzen Tag unter dem Gewehr, nachdem wir bereits zweimal 24 Stunden nichts gegessen hatten.“ [2]

Aber das ist nur der Anfang. Qualen und Strapazen nehmen zu, als die Truppen die russische Grenze überschreiten. Es ist Sommer. Die Gewaltmärsche durch endlose Ebenen in glühender Hitze nehmen kein Ende. Kaum sauberes Wasser gibt es. Die wenigen Brunnen sind mit Kadavern verseucht. Die Leute sterben vor Durst. Oder sie trinken verseuchtes Wasser und sterben an der Ruhr. [3]

Der Feldzug zieht sich dahin. Aus dem heissen Sommer wird ein bitterkalter, russischer Winter. Napoleon befindet sich auf dem Rückzug von Moskau.

Es ist Ende November. Schnee fällt. Die Temperaturen sinken. Es fehlt an allem: Uniformen, Waffen, Munition. Und vor allem fehlt es an Lebensmitteln.
Thomas Legler beschreibt die Truppe so: „Die Uniformen (sind) beinahe unkenntlich, keine Schuhe, keine Waffen, verbundene Köpfe, Hände und Füsse…“ [4]

Ein Schweizer Chirurg notiert: „Was die kranken Soldaten betrifft, so kann man ihnen die nötige Hilfe wegen Mangel an Arzneimitteln … nicht gewähren, und der grösste Teil der Armee, ausgenommen, was zum Generalstab gehört, gleicht einem Haufen den Gräbern entstiegener Gespenster.“ [5]

David Zimmerli, ein Offizier aus dem Aargau, erinnert sich, wie er in einer kalten Nacht auf einen Wachtposten an einem Feuer trifft: Der Soldat rückt etwas zur Seite, um ihm Platz zu machen. „Aus hohlen Augen und starren Blicken, aus denen Hunger und grenzenloses Elend sprachen, sassen wir stumm.“ Schliesslich tauscht er etwas Schnaps gegen ein Stück gekochtes Pferdefleisch. Als sie dabei einige Worte wechseln, merkt er, dass der andere auch ein Schweizer ist. Erschöpft lehnt er sich an den Kameraden und schläft ein. Dabei kommt er auf den andern zu liegen. Das rettet ihm das Leben, denn als er erwacht, ist der andere, der auf dem gefrorenen Boden lag, tot: „… der Frost hatte seine Glieder erstarrt, und so hatte ich also auf einem Toten geschlummert.“ [6]

Der Überlebenskampf richtet sich immer stärker auch gegen die eigenen Kameraden und wird zum brutalen Egoismus: Häuser, in denen Verwundete und Erschöpfte liegen, werden von andern abgerissen, um so Brennholz zu bekommen. Thomas Legler berichtet mit Entsetzen, wie sogar ganze Häuser angezündet werden und man die Verletzten darin bewusst verbrennen lässt. [7]

Der Aargauer Sebastian Isler erzählt in seinen Aufzeichnungen, wie er sich Schuhe sucht: Auf einem Schlachtfeld von einem Toten mit ähnlicher Grösse. Aber die Schuhe sind festgefroren und lassen sich nicht lösen. Da trennt er dem Toten mit dem Messer die Beine ab, um sie bei einem Feuer aufzutauen. [8]

Ausgehungert und erschöpft erreicht die geschlagene Armee die Beresina. Das letzte grosse Hindernis auf dem Weg zurück. Der Fluss hat keine Brücken. Die Kolonnen stauen sich am Ufer. Pioniere arbeiten im eiskalten Wasser am Brückenschlag. Russische Artillerie schlägt in die Reihen. Kosaken greifen an. Immer wieder kommt Panik auf. Wer sich nicht auf den Beinen halten kann, wird von den Nachdrängenden zertreten. Fuhrwerke, Pferde und Menschen fallen in den Fluss und ertrinken.

Die Schweizer Truppen erhalten den Befehl, den Brückenkopf zu halten und so den Rückzug zu decken. Wenn man soldatische Tapferkeit beschreiben will, dann sagt man: „Sie haben gekämpft bis zur letzten Patrone“. Das kann man von den Schweizern an der Beresina nicht sagen. Denn als sie zum Gefecht antreten, da haben die meisten schon keine Patronen mehr. Sie wehren die schnellen Angriffe der berittenen Kosaken mit dem Bajonett ab. Von den 1300 Schweizer Soldaten treten nach der Schlacht noch etwa 300 zum Appell an. [9]  

Militärisch ist das eine Heldentat. Der Schweizer Verband rettete Tausenden das Leben, die sich dank dem Brückenkopf über die Beresina zurückziehen konnten.

Aber staatspolitisch ist das Schicksal unserer Beresina-Soldaten eine Tragödie: Sie haben sich nicht für ihre Heimat geopfert. Sie sind in einem sinnlosen Krieg für eine sinnlose Sache gestorben. Und die Gefallenen an der Beresina sind dabei nur ein Teil von vielen tausend Schweizern, die in Napoleons Kriegen irgendwo auf dem Kontinent ihr Leben liessen. [10]


II Die drei Gründe fürs Desaster

Das ist kein freudiges Kapitel der Schweizer Geschichte. Dafür ein lehrreiches. Denn wenn an der Beresina, so weit weg von der Heimat, Schweizer Soldaten sterben, ist schon vor der Schlacht sehr viel sehr falsch gelaufen.

Die Geschichte der Beresinaschlacht beginnt lange vor 1812:

Blenden wir zurück – 1789 bricht die Französische Revolution aus. In den 1790er Jahren verlangt das Volk in der Schweiz Reformen: Die wichtigsten Anliegen sind mehr demokratische Rechte und die Abschaffung des Zehnten, also mildere Steuern. [11]

Und dann ist da die Faszination der neuen Ideen aus Frankreich. In der sogenannten Elite sind etliche davon richtiggehend hypnotisiert. Sie glauben an eine neue Zeit, in der eine souveräne Schweiz keine Bedeutung und keinen Platz mehr habe.

Nicht vergessen darf man die internationale Lage: Bern und Zürich sind reiche Städte, die andern europäischen Staaten kämpfen alle mit Geldsorgen. Napoleon braucht dringend Geld für seine Armeen und seine ambitionierte Neuordnung Europas. Denn grosse Visionen kosten viel. [12] Das war damals nicht anders als heute. In solchen Situationen kommt bald die Idee, das Geld dort zu holen, wo noch welches vorhanden ist – in solchen Situationen denken Staatsführer und Strategen an die Schweiz. So gerät unser Land ins Visier.

Zusammengefasst sind das die drei Gründe, die schliesslich zum Desaster an der Beresina führen:

Erstens: Die classe politique hat das Volk nicht ernst genommen. Die Anliegen und Bedürfnisse des Volkes werden ignoriert. Weder mehr Demokratie noch tiefere Steuern will sie zugestehen. Die politische Elite ist abgehoben und misstraut dem Volk. Das führte zu einer Entfremdung zwischen Regierung und einfachem Bürger.

Zweitens: Es gibt im Inland, vor allem in intellektuellen Kreisen, Anpasser und Euphoriker. Diese lassen sich von hehren Worten und glänzenden Visionen blenden. Sie glauben an eine neue, goldene Zeit. Ihre Heimat empfinden sie als zu klein, zu unbedeutend, zu altmodisch.

Drittens: Die politische Führung wird mit immer neuen rabiaten und dreisten Forderungen aus dem Ausland konfrontiert. Sie glaubt, durch Nachgeben die Gegenseite zufriedenstellen zu können. Damit opfert sie schrittweise die Souveränität des Landes.


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Es lohnt sich ein Blick auf die Argumente der Anpasser und Euphoriker aus den 1790er-Jahren. Die Diskussion von damals wirkt irgendwie zeitlos: Es ist die ewige Debatte über Selbstbestimmung oder Unterordnung.

Ein ganz neues Europa soll entstehen. Es lockt mit „Liberté, Egalité, Fraternité“, mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Alles soll neu werden: Masse und Gewichte, Gesetze und Rechtswesen, Zölle und Steuern, Münzwesen und Währungen, Bekleidungen und Umgangsformen usw.

Nicht alle Ideen sind schlecht. Aber viele sind es. Auf jeden Fall ist schlecht, dass sie mit Zwang und gegen den Willen der betroffenen Völker durchgesetzt werden.

Auch in der Schweiz gibt es damals Leute, die alles unternehmen, damit der ausländische Druck auf das Land zunimmt. Denn mit Hilfe dieses Drucks wollen sie ihre Ideen und ihre eigenen politischen Ziele verwirklichen.

So arbeiten zum Beispiel Frédéric César De La Harpe und Peter Ochs gegen das eigene Land.

De La Harpe unterbreitet in Paris Bittschriften, in denen er die Franzosen zum Einmarsch auffordert. Natürlich spricht er nicht von Eroberung, sondern beschönigend von „Befreiung“.

Der Jurist Peter Ochs sieht sich als kultivierter Denker und Vordenker. Erfolglos verfasst er Dramen und Opernlibretto. Erfolgreich hingegen ist er mit politischen Intrigen: Peter Ochs verteufelt bereits die Bereitschaft zur Abwehr als eine Provokation. Stattdessen fordert er eine finanzielle Beteiligung der Schweiz an der grossen Sache; er wirbt für den Kauf französischer Staatsanleihen. [13] Und noch vor dem Einmarsch schreibt er im Auftrag Napoleons bereits eine neue Verfassung.

Der Pfarrer von Stettlen, Emanuel Salchli, schreibt eine Hymne an die Franzosen: Jede Strophe endet mit „Venez nous raffermir sous l’empire des loix“, „Kommt, um uns unter der Herrschaft der Gesetze zu kräftigen!“ [14] Dass es Gesetze in einer Version waren, wie sie Pfarrer Salchli und seine französischen Freunde wollten, versteht sich.

Nachgeben bis zum Untergang

Die grösste Verantwortung liegt aber bei der Obrigkeit. Ihr fortwährendes Nachgeben führt direkt in die Selbstauflösung. Schlägt man in einem Geschichtsbuch nach, findet man eine Chronologie immer neuer Konzessionen. Es wiederholt sich das selbe Muster: Es werden Forderungen gestellt. Es wird gedroht. Dann gibt die Schweiz nach.

Das weckt Appetit nach mehr. So stellt die Gegenseite neue Forderungen. Und die Schweiz gibt wieder nach. Und so weiter – bis es die Schweiz nicht mehr gibt.

Es beginnt damit, dass der britische Botschafter auszuweisen sei. Die beflissene Schweiz willigt sofort ein und weist ihn aus.

Dann wird den Bündnern das Veltlin weggenommen und einem französischen Satellitenstaat in Norditalien einverleibt. Die Schweiz reagiert nicht. Darauf kommt Genf an die Reihe.

Und was ist die Antwort? Als Napoleon durch die Schweiz reist, erweisen ihm die Orte am Weg ehrfurchtsvoll die militärischen Ehren.

Dann werden Gebiete im Jura und Biel besetzt. Das lässt man sich gefallen.

Darauf wird der Druck auf Bern erhöht. In der Berner Regierung gibt die sogenannte Friedenspartei den Ton an. Das sind jene, die für ein Nachgeben bis zum Letzten sind. Sie meinen, mit Zugeständnissen den Gegner befriedigen zu können.

Die Franzosen mischen geschickt Drohungen und Forderungen mit versöhnlichen Bekenntnissen zu guter Nachbarschaft, Harmonie und Freundschaft. [15]

Nur zögerlich beginnt der Stand Bern zu mobilisieren. Gleichzeitig rücken die Franzosen schon im Waadtland ein. Ohne auf Widerstand zu stossen. Das ist ganz nach dem Ratschlag der Eidgenössischen Tagsatzung, die wörtlich empfiehlt, in der Waadt alle „militärischen executionen“ einzustellen, „weilen dadurch fremde Einmischung provocirt“ werde. [16]

So werden immer neue Ultimaten gestellt. Zuletzt verlangt ein französischer General, die Berner Regierung müsse zurücktreten und innert 30 Stunden alle Truppen demobilisieren; er selber werde aber seine Truppen weiter auf Bern marschieren lassen. [17] Da heisst: Obwohl der Feind vorrückt, soll man die eigenen Soldaten nach Hause schicken. Und tatsächlich: Die Berner Obrigkeit und der Zürcher Vertreter an ihrer Seite akzeptieren demütig auch diese Forderung.

Damit bricht das Chaos aus. Bereits mobilisierte Einheiten fühlen sich verraten und laufen wieder auseinander. In Bern verbreitet sich Resignation, Zorn und Verzweiflung.

Ebenso mutlos wie Bern reagieren die andern eidgenössischen Stände: In Zürich zum Beispiel hat ein Freiherr von Hotze vorgesprochen. Er drängt darauf, dass man ihm Truppen zur Verfügung stelle, um den Bernern zu helfen. Hotze heisst eigentlich Köbi Hotz und kommt aus Richterswil. Und er ist nicht einfach irgendwer: In der russischen und österreichischen Armee hat er hohe Posten bekleidet und sich auch in Kampfeinsätzen als genialer Feldherr bewiesen. Um seiner Heimat beizustehen, lässt er sich beurlauben und reist nach Zürich. Aber nein, man zögert, wägt ab, tut nichts – bis Bern kapituliert. Dass Hotz ausserordentlich fähig gewesen wäre, zeigt er auch später wieder, als er – wiederum als österreichischer General – gegen die Franzosen kämpft.
Sofort marschieren die Franzosen nun in Solothurn ein. Und kurz danach eröffnen sie den Angriff auf Bern.

In Bern konstituiert sich eine neue Regierung mit dem Anpasser Karl Albrecht von Frisching an der Spitze. Am Morgen des 4. März 1798 legt er seinen Amtseid ab und schwört Bern seine Treue. Am Mittag unterzeichnet er die Kapitulationsurkunde: Geheim! Hinter dem Rücken des Volkes! [18]

Damit steigert sich das Nachgeben zum Landesverrat: Die Regierung hat bereits kapituliert, als Berner Soldaten und schlecht bewaffnete Freiwillige am 5. März bei Fraubrunnen, am Grauholz und bei Neuenegg (hier sogar siegreich) noch zur Schlacht für ihre Heimat antreten.

Das Volk wäre mehrheitlich bereit gewesen, das Land zu verteidigen. Aber es wird von der politischen Elite verraten.

Dass Wehrwille vorhanden war, ist historisch belegt: Ein Anhänger der Friedenspartei, Schneidermeister Eggimann, beschreibt die Stimmung in der Bevölkerung so: Man habe nicht von Kapitulation sprechen dürfen, „um nicht vom rasenden Landvolk, das in jedem, der von Übergabe sprach, einen Verräther zu hören wähnte, misshandelt oder gar ermordet zu werden.“ [19]

Der Zürcher Hans Conrad Wyss meldet aus Bern, immer wieder seien Gruppen von Soldaten vors Rathaus gezogen: „Sie wollten Waffen, Munition und dass man ihnen Offiziere gebe“. [20]

Auch Frauen schliessen sich freiwillig den ausrückenden Verbänden an: Karl Ludwig Stettler, ein Berner Offizier, Augenzeuge und Historiker, berichtet uns von Scharen bewaffneter Frauen, „schlank wie Tannen und blühend wie Rosen“ mit „wilde(r) Kriegslust in den sonst so holdselig blauen Augen“. [21] Das erregt damals weltweites Aufsehen: Sogar im britischen Parlament, im amerikanischen Kongress und in der amerikanischen Presse wird diskutiert, wie Bernerinnen mit Sensen und Heugabeln zur Schlacht antraten. [22] Später setzt Jeremias Gotthelf den Heldinnen und Helden mit „Elsi, die seltsame Magd“ ein literarisches Denkmal.

Viel zu spät begreifen auch andere Kantone, was es bedeutet, die Freiheit zu verlieren. Als klar wird, dass die Besetzer Zentralismus und hohe Zwangsabgaben bringen, ist es schon zu spät für einen erfolgreichen Widerstand.

Die Schwyzer und die Walliser und die Glarner und die Berner Oberländer und andere mehr erheben sich, bleiben auf sich alleine gestellt und werden nach Anfangserfolgen geschlagen.

Die Nidwaldner wollen sich in einem verzweifelten Volksaufstand befreien. Es ist ein ungleicher Kampf zwischen der Bevölkerung und den gut ausgerüsteten Franzosen, der in einem grausamen Massaker in Stans endet. Pestalozzi nimmt sich dann den Waisenkindern an.

Die Folgen:

Der Verlust der Freiheit und Unabhängigkeit endet für die Schweiz in der Katastrophe:

Die Schweiz ist kein eigenständiges Land mehr, sondern ein Vasallenstaat. Das heisst: Nicht mehr die Schweizer bestimmen über die Schweiz, sondern andere. Die Entscheide werden in Paris gefällt. Die Schweizer müssen gehorchen.

Der berühmte Johann Caspar Lavater, Pfarrer am Zürcher Sankt Peter, durchschaut die leeren Freiheits-Parolen der fremden Herren sofort: „Oben auf jedem Dekrete – Freyheit – auf demselben Blatte: der Obergeneral befiehlt, was folgt …“ [23]
Mit dem Gehorchen kommt auch das Zahlen. Die Franzosen plündern den Staatsschatz von Zürich und von Bern und auferlegen auch andern Kantonen harte Zahlungspflichten. Damit finanzieren die Schweizer Napoleons Ägyptenfeldzug. [24] Ironischerweise also mit dem Geld, das man in der Schweiz nicht für ein modernes Wehrwesen hatte ausgeben wollen.

General Maurus Meyer von Schauensee, ein Luzerner, der ursprünglich auf Seite der Anpasser steht, stellt bald verbittert fest: Diese Briganten wollen „nichts als Geld in die Hände kriegen!“ [25]

Wie sich herausstellt, ist das noch eine Untertreibung. Die neuen Herren wollen nicht nur Geld, um ihren Grössenwahn zu finanzieren. Sie verlangen auch Soldaten, die sie für ihre Ziele brutal verheizen. So wie Thomas Leglers Kameraden, die zu tausenden irgendwo auf fremden Schlachtfeldern gefallen sind. An der Beresina und anderswo.

III Fazit

Was sagen uns diese Schicksale heute noch, 200 Jahre später? Es steht kein napoleonischer Krieg an. Schweizer werden nicht an die Beresina in die Schlacht geschickt. Europa wird nicht von Paris aus regiert. Trotzdem meine ich, diese Schicksale sagen uns viel: Die Geschichte wiederholt sich nie. Aber sie entwickelt sich immer wieder nach den selben Mustern. Darum können wir zeitlose Grundsätze daraus ableiten, die wir auch bei der heutigen internationalen Lage nicht vergessen sollten; etwa wenn internationale Organisationen uns wegen unserer freiheitlichen Ordnung unter Druck setzen oder wenn die EU uns ihrer Rechtshoheit unterstellen will: 

  • Es ist gefährlich für das Land, wenn die Politik die Sorgen, Ängste und Anliegen der Bevölkerung ignoriert. Die alten Obrigkeiten zeigen beispielhaft, wie ihre volksferne Überheblichkeit das Vertrauen in den Staat zerstörte. 
  • Immer wieder mal wird eine neue Zeit ausgerufen. Euphoriker wollen dann rasch das Bewährte hinter sich lassen und begeistern sich für grosse Visionen. Da ist Vorsicht geboten, denn die Rechnung wird erst etwas später präsentiert.
  • Wer devot Forderungen nachgibt in der Hoffnung, die Gegenpartei damit ruhig zu stellen, begeht einen verhängnisvollen Irrtum. In der internationalen Politik ziehen schnelle Zugeständnisse nur neue, noch weitergehende Forderungen nach sich. 

Der 1. August ist ein Freudentag. Und wir Schweizerinnen und Schweizer haben allen Grund zur Freude. Aber damit das auch in Zukunft so bleibt, dürfen wir die Lehren aus der Geschichte nicht vergessen.

 

[1]  Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 107 ff.
[2]  Zit. nach Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 110
[3]  Albrecht von Muralt, Thomas Legler, Beresina. Erinnerungen aus dem Feldzug Napoleons I. in Russland 1812, Bern 1940, S. 181
[4]  Zit. nach Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 213
[5]  Zit. nach Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 118
[6]  Zit. nach Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 141f.
[7]  Albrecht von Muralt, Thomas Legler, Beresina. Erinnerungen aus dem Feldzug Napoleons I. in Russland 1812, Bern 1940, S. 214 ff.
[8]  Zit. nach Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 116 f.
[9]  Albrecht von Muralt, Thomas Legler, Beresina. Erinnerungen aus dem Feldzug Napoleons I. in Russland 1812, Bern 1940, S. 207
[10] Daniel Furrer, Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812, Zürich 2012, S. 66
[11] In der Waadt, im Thurgau und anderswo kommt die gut verständliche Sehnsucht nach politischer Eigenständigkeit dazu.
[12] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 16, S. 77
[13] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 17
[14] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 298 f.
[15] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 24
[16] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 107
[17] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 37
[18] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 300
[19] Zit. nach Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 304
[20] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 271
[21] Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 263
[22] The Bermuda Gazette, No. 752, Saturday, July 7, 1798; Jürg Stüssi-Lauterburg, Hans Luginbühl, Vivat das Bernerbiet bis an d’r Welt ihr End!. Berns Krieg im Jahr 1798 gegen die Franzosen, Brugg 2000, S. 365
[23] Jürg Stüssi-Lauterburg, Weltgeschichte im Hochgebirge, Brugg 2011, S. 35
[24] Hans Rudolf Kunz, Motive für die Eroberung der Schweiz im Jahr 1798, o.O., 1978, S. 4
[25] Leonhard Haas, General Maurus Meyer von Schauensee und die Französische Revolution, Zürich 1956, S. 18


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