Neue Ansätze in der Landwirtschaftspolitik

Bern, 20.05.2011 - Referat von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, gehalten an der Jubiläumsfeier 100 Jahre Schweizer Obstverband in Zug

Eine alte Volksweisheit sagt, dass der Soldat und der Bauer nur in der Not etwas gelten. Daran hat sich nicht viel geändert; das können Sie und ich bezeugen. Ich erlebe das als Departementschef VBS, wenn über Armee und Landessicherheit diskutiert wird. Und Sie spüren es, wenn über Landwirtschaftspolitik debattiert wird.

Wenn man in Frieden und Wohlstand lebt, werden die Grundbedürfnisse zur Selbstverständlichkeit: Man fühlt sich sicher, weil das Land nicht sichtbar bedroht ist. Und man sieht den Nutzen der heimischen Landwirtschaft nicht, weil man nie Hunger hat und die Regale in Coop und Migros ja immer voll sind.

Das ist vielleicht verständlich. Aber es ist bestimmt verhängnisvoll. Ich zweifle, dass die Welt ein Supermarkt ist mit einem permanent übervollen Angebot, aus dem wir uns einfach und selbstverständlich bedienen können.

Ich bin immer dafür, dass man beim Grundsätzlichen beginnt. Und bei der Landwirtschaft erst recht, denn hier geht es naturgemäss um Existenzielles. Früher nannte man den Bauernstand Nährstand. Das trifft die Bedeutung gut: Der Nährstand, das sind die Frauen und Männer, die das Volk ernähren. Das sind die Frauen und Männer, die dafür sorgen, dass genügend, dass gesundes und gutes Essen da ist. Das sind die Frauen und Männer, die für unsere Ernährungssicherheit sorgen.

Wenn wir die Landwirtschaft so ansehen, treten die Detailfragen alle in den Hintergrund. Denn es geht um viel. Eigentlich um alles: Es geht um unser „täglich Brot". Dafür haben Generationen vor uns schon auf ihrem Hof hart gearbeitet und mit dem „Vater unser" gebetet. Die Nahrung, das tägliche Essen, die Arbeit, um sich „sein Brot zu verdienen", das hat unsere Geschichte, unser Brauchtum und unsere Traditionen geprägt. 

Die neue Bedeutung der Lebensmittel
Wenn ich von diesem emotionalen Wert der Lebensmittel spreche, dann nicht aus Nostalgie. Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, dass die Bedeutung der Lebensmittel und der Ernährungssicherheit wieder zunehmen werden. Die Anzeichen sprechen dafür: Die Ressourcen auf der Welt werden knapper, die internationale Vernetzung und der Warenaustausch werden störungsanfälliger, die internationale Kooperation wird instabiler.

  • Ressourcen werden knapper:

Die Weltbevölkerung nimmt zu. Und das sehr schnell: Bevölkerungsstatistiker rechnen mit einem jährlichen Wachstum von um die 80 Millionen Menschen. Jetzt leben bereits gegen 7 Milliarden Menschen auf der Erde. Gemäss UNO-Prognose werden es in den nächsten 10 bis 13 Jahren 8 Milliarden sein[1] - Tausend Millionen Menschen mehr, die auch jeden Tag essen und trinken müssen.

Das heisst: Die Nachfrage steigt, die Ressourcen werden knapper. Ob es sich nun um Öl, Wasser, Rohstoffe oder Nahrungsmittel handelt. Und was knapp ist, ist teuer. Und was teuer ist, gibt schnell auch Anlass zu Konflikten.

Wir sehen das beim weltweiten Wettlauf der Grossmächte um Ressourcen. Dieser ist nicht neu: Dass zum Beispiel Öl ein strategisches Gut ist, ist allgemein bekannt. Aber mit steigender Nachfrage erhalten auch andere Güter eine strategische Wichtigkeit, nicht zuletzt Nahrungsmittel.

Es ist nicht übertrieben, von einer neuen weltpolitischen Bedeutung der Nahrungsmittel zu sprechen. Knappheit und Preissteigerungen wirken sich vorderhand noch regional aus. Allerdings bereits sehr deutlich: In den letzten Jahren sind die Preise für Grundnahrungsmittel teilweise dramatisch in die Höhe geschossen. Die Welternährungsorganisation FAO berechnete für 2006 bis 2008 einen Anstieg der internationalen Grundnahrungsmittel um 60%, für Getreide um 100%.[2] Bald mussten wir von der Mais-Krise in Mexiko, von Hunger-Unruhen in Afrika und Asien lesen. Und auch die Revolten in Nordafrika und im arabischen Raum werden in einen engen Zusammenhang mit dem Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise gebracht.

Wir können es so zusammenfassen: Die Ressourcenknappheit wird uns in Zukunft beschäftigen. Und wenn wir von Ressourcenknappheit reden, beschränkt sich diese nicht nur auf Erdöl, sondern betrifft auch Lebensmittel. Das wird vielerlei Auswirkungen haben, auch politische.

Gewiss ist, dass derjenige gut da steht, der über Ressourcen verfügt; in einer schlechteren Position ist dagegen, wer sich Ressourcen beschaffen muss. Nun ist das bei vielen Rohstoffen Glücksache bzw. eine Sache der Geologie. Bei Nahrungsmitteln aber besteht die Möglichkeit, diese selbst herzustellen. Vorausgesetzt der politische Wille ist da, in die heimische Nahrungsmittelproduktion angemessen zu investieren.

  • Die internationale Transport-Logistik wird immer komplexer und damit auch verletzlicher:

Man sagt, die Welt werde kleiner, sie werde ein Dorf. Diesen Eindruck kann man tatsächlich erhalten, so wie Waren ausgetauscht werden, so wie die Menschen reisen und wie wir das Weltgeschehen mitverfolgen, als passierte es in der eigenen Stube.

Aber dieser Eindruck täuscht. Die Distanzen schrumpfen ja nicht, nur die Verbindungen werden besser. Und mit diesen Verbindungen steht und fällt dann alles. Der internationale Warenaustausch wird immer komplexer und damit auch anfälliger für Störungen. Ohne reibungslos funktionierendes Kommunikations- und Transportsystem bricht die globalisierte Weltwirtschaft zusammen. Das macht unsere moderne Welt so verletzlich.

Wir beziehen Waren aus Ländern, die politisch alles andere als stabil sind. Damit wird deren Instabilität auch zu unserem Problem. Das spricht nicht gegen den Handel mit solchen Staaten. Allerdings spricht es dagegen, sich in deren Abhängigkeit zu begeben, falls es vermeidbar ist.

Aber nicht nur die Abhängigkeit von einem einzelnen Anbieter ist heikel, auch totale Abhängigkeit vom Weltmarkt kann bei lebenswichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln problematisch sein.

Denn wir haben keine Garantie, dass die Transportwege immer offen sind und die Kommunikation immer funktioniert.

Nicht nur Land- und Wasserrouten, auch die virtuellen Verbindungen können unterbrochen werden. Immer mehr basiert die Transport-Logistik auf Informatiksystemen und dem Internet. Auch da ist die Verletzlichkeit hoch. Man spricht heute vom Cyber-War, dem Krieg im Internet. Wir stehen da am Anfang einer neuen Entwicklung. Allgemein weiss man darüber noch nicht viel, ausser dass er täglich stattfindet. Und dass wir davon ausgehen müssen, dass Cyber-Attacken unsere modernen Kommunikationsmittel zumindest zeitweise lahmlegen können.

Wenn wir es kurz und bildlich zusammenfassen: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen unseren Dörfern und dem „globalen Dorf". Im Dorf gehen wir schnell über die Strasse zum Nachbarn, wenn uns dummerweise ein Kilo Mehl fehlt.

Wir Schweizer können aber nicht einfach um die Ecke anklopfen, wenn unserem Land beispielsweise das Brotgetreide ausgegangen ist. Plötzlich ist der Notvorrat wieder ein kluger Rat. Plötzlich ist man froh, man hat einen eigenen Bauernstand und bezieht nicht alles vom andern Ende der Welt.

  • Die internationale Kooperation wird instabiler:

Bis vor kurzem glaubten viele, die Welt und insbesondere Europa würden zu einer Staatengemeinschaft zusammenwachsen. Die wirtschaftliche Verflechtung ergebe eine globale Arbeitsteilung: Jeder macht das, was er am besten kann - und das weltweit.

Seit der Finanzkrise und den Schulden-Krisen in EU-Staaten ist diese Entwicklung in Frage gestellt. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften sind nicht kleiner geworden, im Gegenteil!

In welche Richtung sich die EU entwickelt, ist offen. Was mit dem Euro geschieht ebenfalls. Verschiedene EU-Staaten taumeln wirtschaftlich am Abgrund. Prestige-Projekte wie Schengen führen zu Streit innerhalb der Union und werden bereits wieder relativiert.

Gleichzeitig ist unter dem Druck der Krise die Auseinandersetzung auch zwischen an sich befreundeten Staaten härter geworden - in der Not ist halt doch jeder sich selbst am nächsten. Die harte Interessenpolitik hat auch die Schweiz zu spüren bekommen, weil sie freiheitlicher und damit erfolgreicher ist als andere. Wir haben erlebt, dass die Grossmächte vermehrt auf Macht statt auf Recht setzen. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns bewusst sein, dass uns jede Abhängigkeit erpressbar macht. 

Für mich ist darum klar, dass die Landwirtschaft nicht einfach eine wirtschaftliche Angelegenheit ist, die nach ökonomischen Grundsätzen optimiert werden soll. Es geht um die Versorgung mit Lebensmitteln. Wie es das Wort sagt: Um Mittel zum Leben und Überleben. Ein Land, das eine seriöse Sicherheitspolitik betreibt, muss sich um die Versorgungssicherheit kümmern. In Krisensituationen wollen wir uns nicht auf das Ausland verlassen, sondern im Notfall alleine bestehen können.

Denkschemen verlassen
Wenn die Ressourcen auf der Welt knapper, die internationale Vernetzung und der Warenaustausch störungsanfälliger und die internationale Kooperation instabiler werden, ändert das die Grundannahmen unserer bisherigen Landwirtschaftspolitik. Konkret heisst das: Wir dürfen nicht mehr länger blind darauf vertrauen, dass wir uns jederzeit von der prall gefüllten Vorratskammer im globalen Dorf ernähren können. 

Wir sollten darum die weltweiten Entwicklungen stärker in unsere Überlegungen zur Landwirtschaft einbeziehen. Internationalisierung und Strukturwandel sind zu hinterfragen, unsere Stärke - die einmalig hohe Qualität - ist weiterhin zu pflegen:

  • Wir sollten die Internationalisierung hinterfragen:

Die Landwirtschaft erfüllt eine Aufgabe im Landesinteresse; sie leistet einen Beitrag zur Wahrung unserer Souveränität und sichert uns Handlungsspielraum. Darum können für Landwirtschaftsprodukte nicht einfach die Massstäbe des Weltmarktes übernommen werden.

Wie bei der Armee geht es um Krisenprävention und Sicherheit. Das ist nie gratis zu haben. Das kostet. Aber eine Neid-Debatte ist fehl am Platz. Wer meint, es gehe um die Interessen der Bauern, der denkt zu vordergründig und zu kurz. Es geht um die Interessen des Landes.

  • Wir sollten den Strukturwandel hinterfragen:

Strukturwandel ist ein unehrliches Technokratenwort für das Bauernsterben, für die Vernichtung der Existenz tausender Bauernfamilien. Der Strukturwandel gilt vielen als unumkehrbarer Prozess; er wird kaum je hinterfragt und einfach hingenommen. Oder als Beitrag zur Effizienzsteigerung sogar begrüsst. Vorbild sind Verhältnisse in Ländern mit einer grossindustriell geprägten Landwirtschaft. Zugrunde liegt ein fixes „grösser ist besser"-Denken.

Ich glaube, es widerspricht unserem Schweizer Empfinden, dass grösser und billiger zwingend auch besser sein soll. Wir setzen auf Qualität, seit jeher. In allen Bereichen. Schweizer Qualität ist ein Markenzeichen, ein Wesensmerkmal unseres Landes. Da wollen wir bei den Nahrungsmitteln gewiss zuletzt auf Qualität verzichten. Schliesslich geht es um unsere Gesundheit und um den Umgang mit Natur und Umwelt. Eine Industrielandwirtschaft mit Tiertransporten quer durch Europa kann uns Schweizern einfach nicht sympathisch sein. Damit komme ich zur Stärke, die wir bewahren müssen:

  • Die Schweizer Landwirtschaft muss Qualitätsweltmeister bleiben:

Unsere heimischen Lebensmittel zeichnen sich durch weltweit höchste Qualität aus. Das ist ein Wettbewerbsvorteil: Wer Schweizer Produkte kauft, der muss sich nicht vor einem Lebensmittelskandal fürchten. Die hohe Qualität hat aber auch direkte Auswirkungen auf die gesunde Ernährung der Bevölkerung und somit auf die Volksgesundheit sowie die Gesundheitskosten. Und vor allem sind gute und gesunde Produkte auch Lebensqualität.

Wert und Werte
Für das Gesagte gibt es eine Kurzformel in zwei Worten: Wert und Werte. Nahrungsmittel haben einen Wert. Den kann man ausdrücken in Franken und Rappen. Das ist die ökonomische Sicht. Diese allein wird aber etwas so Wichtigem wie Lebensmitteln nicht gerecht.

Denn Nahrungsmittel verkörpern auch Werte:

Schweizer Nahrungsmittel stehen für Sicherheit. Wir wollen uns nicht blindlings darauf verlassen, dass wir uns jederzeit problemlos über den globalen Markt versorgen können. 

Schweizer Nahrungsmittel stehen auch für den Willen zur Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Wir wollen nicht von andern abhängig und damit erpressbar sein.

Schweizer Nahrungsmittel stehen für Schweizer Qualität, für eine Verbundenheit mit der Heimat, für die schöne, gepflegte Landschaft, für artgerechte Haltung der Tiere, für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt, für einen gesunden Bauernstand, der Brauchtum und Traditionen lebt - ganz allgemein für einen emotionalen Bezug zu unserem Land, das uns seit Jahrhunderten „unser täglich Brot" gibt.

Ich bin der Meinung, bei Lebensmitteln sollten wir nicht nur auf den Wert schauen, sondern stärker die Werte beachten, für die sie stehen!

***

[1] United Nations Press Release, World Population to reach 10 billion by 2100 if Fertility in all Countries Converges to Replacement Level, New York, 3 May 2011

[2] http://www.fao.org/isfp/background/en/, nachgeschlagen am 17. Mai 2011


Adresse für Rückfragen

VBS Kommunikation
Bundeshaus Ost
CH - 3003 Bern


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport
http://www.vbs.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-39292.html