Warum braucht die Schweiz mehr Freiheit?

Bern, 07.01.2011 - Referat von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, gehalten in Bad Horn.

Es gitl das gesprochene Wort!

Dass Freiheit in der Schweiz eine ganz besondere Bedeutung hat, lässt sich manchmal fast am besten an kleinen Beispielen zeigen. Zum Beispiel an der Abneigung gegen Fürsten und gekrönte Häupter, gegen alles, was nach unkontrollierter Macht aussieht. Als ein deutscher Investor neben dem Bundeshaus ein neues Hotel mit dem Namen „Zur Krone" bauen liess, gab man ihm zu verstehen, dieser Name komme hierzulande nicht so gut an. Und in Nachbarschaft zum Parlament schon gar nicht. Der Investor änderte darauf den Namen in „Berner Hof". Heute ist das ehemalige Hotel Sitz des EFD. Der Steinmetz hatte aber die Arbeit schon gemacht und noch heute prangt über dem Eingang eine in den Stein gemeisselte Krone.

Und manchmal habe ich fast das Gefühl, von der Krone färbe sich doch noch etwas obrigkeitliches Gehabe auf die Finanzverwaltung ab ...

Macht und Machtsymbole machen uns misstrauisch. Das zeigen das Zwanzgerli, das Zähnerli und das Föiferli: Dort trägt zwar eine hübsche junge Frau eine Krone. Aber darin, im Diadem, also im „Stirnband", steht ganz klein geschrieben: Libertas. Also: Freiheit. Ein subtiler, aber klarer Hinweis auf die Ordnung in unserem Land: Hier herrscht Freiheit!

Diese Anekdoten sind typisch für uns. Wenn es um Freiheit geht, reagieren viele Schweizerinnen und Schweizer empfindlich. Das ist nicht erstaunlich. Denn in unserer Geschichte ging es immer um die Freiheit. Über Generationen haben wir gelernt, dass Freiheit nie einfach da ist, dass Freiheit immer umstritten und bedroht ist. Freiheit muss immer aufs Neue erkämpft werden. Sowohl die freiheitliche Ordnung im Innern wie auch die Freiheit gegenüber fremden Mächten.

Wenn die EU jetzt den Ton gegenüber unserem Land verschärft, dann ist das unfreundlich, anmassend und auch bedrohlich. Aber es ist nichts Neues. Es ist einfach die Fortsetzung der jahrhundertelangen Geschichte der Schweiz. Das soll uns auch Mut und Optimismus geben. Denn geschichtlich gesehen war jede Beschimpfung, jede Drohung, jede Erpressung, jede Schikane und auch jede Verlockung und Verführung schon einmal da - und bislang hat die Schweiz die freiheitlichen Ordnung und auch die Freiheit des Landes bewahren können.

Es ist nicht etwa so, dass sich die Schweiz immer sofort und heroisch für die Freiheit entschieden hätte. Der Druck war manchmal gross, die Verblendung verbreitet. Um die Freiheit wurde immer gekämpft und gerungen. Manchmal waren auch die Anpasser, die Gegner der Freiheit im Vorteil, aber am Schluss haben sich bis jetzt diejenigen durchsetzen können, die für eine freie und freiheitliche Schweiz eintraten. 

Aber die Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unfreiheit geht weiter, sie wird nie abschliessend entschieden sein. Der imperialistische Satz Junckers vom „weissen Fleck" auf der Landkarte und vom „geostrategischen Unding" erinnert uns daran und rüttelt hoffentlich auf. Die Zeiten, da man einfach vor sich hinträumen und die Freiheit geniessen kann, sind historisch gesehen selten. Schweizer Geschichte ist auch abgesehen von den grossen Schlachten der alten Eidgenossen Freiheitskampfgeschichte - gegen Anfeindungen von Aussen (also gegen den Freiheitsneid anderer, weniger freier Staaten) und von Innen (gegen die Freiheitsmüdigkeit von Mitbürgern, die unsere Freiheit aus Bequemlichkeit oder Verblendung aufgeben wollen):

Freiheitsneid des Auslandes
Die freiheitliche Ordnung der Gesellschaft - die Bürgerfreiheit und die Volksrechte - und die Freiheit des Landes hängen zusammen. Die freiheitliche Ordnung lässt sich nur behalten, wenn wir ein freies Land sind. Und die Unabhängigkeit des Landes hat vor allem dann einen grossen Wert, wenn wir damit die Freiheit der Bürger sichern können.

Unsere Freiheit hat darum immer zwei Seiten, eine innenpolitische und eine aussenpolitische. Wir können das in unserer Geschichte verfolgen: Freiheit strahlt aus, über die Landesgrenzen hinaus. Das führt zu Bewunderung wie auch zu Neid. Ausländische Regierungen, die ihren Bürgern weniger Freiheit geben, fühlen sich dadurch herausgefordert und verlangen einen Freiheitsabbau.

Die jüngere Geschichte der Schweiz ist darum auch eine Geschichte des Freiheitsneids, eine Geschichte der versuchten Einbindungen und Erpressungen. Immer wieder wird von Aussen eine Anpassung an die weniger grosse Freiheit anderer Systeme verlangt.

Das beginnt schon am Wiener Kongress 1815, als die Schweiz nach dem Zusammenbruch von Napoleons Reich wieder zum unabhängigen Staat wurde: Fürst Metternich war erster Diplomat und Aussenminister des Kaiserreiches Österreich-Ungarn. Durch sein Geschick führte er auf dem Wiener Kongress und danach auch in der europäischen Politik ganz eigentlich Regie.

Sein politisches Ziel war die Errichtung eines Europas, das von absoluten Monarchen regiert wurde: Gottesgnadentum statt Freiheit und Volksrechte.

Auf Metternichs Betreiben hin schlossen 1815 am Wiener Kongress die Monarchen von Österreich, Preussen und Russland die Heilige Allianz. Später (1818) trat Frankreich bei. Wir müssen uns das vorstellen: Alle grossen Mächte auf dem Kontinent schliessen sich zu einem Bündnis zusammen. Sie geben ganz Europa den Tarif durch und greifen mit Truppen ein, wo etwas nicht nach ihrem Willen läuft: In Italien und Spanien zum Beispiel werden freiheitliche Bürgerbewegungen mit Truppen niedergeschlagen.

Ein Land wie die Schweiz, das keinen Fürsten an der Spitze hat und das seinen eigenen Weg gehen will, passte da nicht ins Konzept. Das war eine unangenehme Situation für unsere Vorfahren. Es war eine permanente Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unfreiheit. Sowohl aussenpolitisch wie auch innenpolitisch: Es ging um die Unabhängigkeit des Landes, aber auch um die innere Ordnung. Immer wieder erhielt die Schweiz Vorschriften, wie die innere Ordnung zu gestalten sei.

Metternich bzw. die monarchischen Mächte nahmen offensiv Stellung zur Schweizer Politik und mischten sich ein, wenn es um Fragen unserer Bürgerfreiheit ging. Zensur und Pressefreiheit beispielsweise waren immer wieder ein Thema. Weil die Schweiz freiheitlichere Regelungen hatte als das monarchische Ausland, war sie permanent im Visier. 

Unter dem Druck der heiligen Allianz beschloss 1823 die Tagsatzung das Pressekonklusum. Das war eine Vorgabe an die Kantone, wie sie die Presse zu beaufsichtigen hatten. Das Konklusum entsprach den Vorgaben der Grossmächte, die Tagsatzung knickte ein. Aber die Kantone schwächten es dann in der Umsetzung ab, so gut es ging. Und 1829 wurde es dann nicht mehr erneuert.[1]

Zollmassnahmen als Druckmittel einzusetzen, ist keine neue Erfindung: Die Nachbarstaaten setzten auch ihre Wirtschaftsmacht ein. Es gab Zollschwierigkeiten mit Frankreich, dann auch mit dem von Preussen dominierten deutschen Zollverein.

Oder die Monarchen lancierten Gerüchte- und Drohkampagnen: Es wurde verbreitet, es stehe eine Invasion bevor, um die Schweiz zwischen Bayern und dem Königreich Sardinien-Piemont aufzuteilen. Und im Waadtland gingen Agenten zu Winzern unter dem Vorwand, ihren Wein degustieren zu wollen. Im Gespräch machten sie dann den Leuten Angst, die Franzosen zögen Truppen zusammen und würden bald einmarschieren.[2] Ziel war immer, die Schweiz einzuschüchtern und unter Druck zu setzen.

Weil die Schweiz freiheitlicher war, als das übrige Europa, kamen immer wieder verfolgte Liberale und Republikaner aus Nachbarstaaten in unser Land. Hier konnten sie reden und schreiben, was in ihrer Heimat verboten war. Zum Beispiel der italienische Freiheitskämpfer und Nationalheld Guiseppe Mazzini, nach dem heute in jeder italienischen Stadt ein Platz oder eine Strasse benannt ist. Wer in der Schweiz ein Aufenthaltsrecht erhalten und wie er sich hier betätigen dürfe, wurde dann zu einer internationalen Angelegenheit. Nicht selten drohten andere Länder mit Krieg. Denn die Schweiz war eine Freiheitsinsel, die den absolutistischen Staaten missfiel. In der Sprache der Monarchen: „Ein Revolutionsherd". Sie fürchteten, dass das Beispiel der freien Schweiz ihre Untertanen begeistern könnte ...  

Dass Metternich nicht viel von einer freien Schweiz hielt, zeigt ein Instruktionsschreiben aus dem Jahr 1846 für einen kaiserlichen Gesandten, in dem Metternich die Schweiz so beschreibt: „Höchst trübe ist sicher das Bild, welches uns die heutige Schweiz bietet. Es ist jenes einer im gewaltigen Fortschritt begriffenen allgemeinen Auflösung; einer moralischen Fäulnis, die, im Volksgeiste immer mehr sich verbreitend, auch den Grund des eidgenössischen Staatslebens untergräbt und dem morschen Gebäude bei der ersten Veranlassung den materiellen Umsturz droht."[3]

Das ist so in etwa die schwülstige Version des 19. Jahrhunderts für den Begriff „geostrategisches Unding" ... Und es zeigt, wie die Grossen und Mächtigen für den freiheitlichen Sonderweg eines Kleinstaates kein Verständnis haben und uns auch schlecht verstehen können, weil sie in den Kategorien der Macht denken, wir aber in den Kategorien der Freiheit.

Dass die Mächtigen die Freiheit nicht verstehen, zeigt gerade dieses Beispiel so treffend: Metternich war ja sonst ein blitzgescheiter Analyst politischer Machtverhältnisse, aber das „morsche Gebäude" und den Umsturz sah er am falschen Ort: Nur zwei Jahre nach dieser Einschätzung kam 1848 das grosse Jahr der freiheitlichen Aufstände, die fast überall in Europa die Monarchen beinahe vom Thron stiessen. Es begann im Februar in Paris, danach breiteten sich die Freiheitsaufstände des Bürgertums über den ganzen Kontinent aus. Die Herrscher mussten Zugeständnisse machen und Kompromisse eingehen. Oder sie setzten ganz auf Gewalt gegen die eigenen Bürger: Ungarn zum Beispiel konnte der österreichische Kaiser nur halten, weil ihm der verbündete russische Zar Truppen zur Hilfe schickte. Morsch waren die unfreien Systeme, nicht die freie Schweiz.

Kaum hatte sich die Lage beruhigt, war es der König von Preussen, der sich im Neuenburger-Handel von 1857 einmischte: Der Kanton Neuenburg war ein Schweizer Kanton, aber das Regierungsoberhaupt war der preussische König. 1848 gaben sich die Neuenburger eine freiheitliche, damals sagte man radikale, Verfassung. Als Neuenburger Royalisten dagegen putschen wollten, griffen eidgenössische Truppen ein und stellen die Ordnung wieder her. Da drohte Preussen mit Krieg.

Die Schweizer waren sich aber einig, dass man die freiheitliche Ordnung der Neuenburger nicht einer Gewaltdrohung opfern wolle und trafen ebenfalls Vorbereitungen für einen Krieg. Das wirkte. Schliesslich verzichtete der König von Preussen auf alle Rechte an Neuenburg. 

Dann entstand 1871 das Deutsche Kaiserreich und damit wurde die Frage gestellt, ob auch die Schweiz beitreten müsse oder ob sie als kleines Land weiterbestehen könne. Solche Beitritts-Argumente tönen immer gleich: Begeisterung für etwas Neues und Grosses, andererseits Angst, im Kleinstaat zu kurz zu kommen. 

Gottfried Keller schrieb 1871 als Zürcher Staatsschreiber das Mandat für den Bettag. Darin machte er sich Sorgen, wie die Eigenständigkeit und Freiheit der Schweiz in Frage gestellt wird: „So scheint das republikanische Prinzip, welches unser bürgerliches Dasein von jeher bedingt hat, mehr zu vereinsamen als Unterstützung zu finden." Tiefgreifende Umwälzungen in Europa hatten junge, grosse Nationalstaaten in unserer Nachbarschaft entstehen lassen. Zehn Jahre zuvor hatte Cavour das Königreich Italien geschaffen. Und nun, 1871, nach dem deutsch-französischen Krieg schien die Zukunft dem neuen deutschen Kaiserreich zu gehören.

Keller berichtet uns von Zweiflern und Spöttern: „Lächelnde, wenn auch unberufene Stimmen lassen sich hören: Was willst Du kleines Volk noch zwischen diesen grossen Völkerkörpern und Völkerschicksalen mit deiner Freiheit und Selbstbestimmung?"[4]

Und in einem politischen Aufsatz nahm Gottfried Keller Stellung zur Frage, ob die Schweiz zum Deutschen Reich gehöre und stellte klar: „Der Nationalcharakter der Schweiz besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Sage des Landes, noch sonst in irgend etwas Materiellem, sondern er besteht in der Liebe zur Freiheit."[5]

Rückblickend können wir feststellen: Die Geschichte des 19. Jahrhunderts war für die Schweiz ein Ringen um Freiheit, innenpolitisch wie aussenpolitisch. Und das 20. Jahrhundert sieht nicht anders aus:

Im ersten Weltkrieg wurde die Passivität und das Abseitsstehen der Schweiz kritisiert. Vor allem in der Deutschschweiz gab es eine grosse Bewunderung für das Deutsche Kaiserreich als grosse Wirtschafts- und Militärmacht. Dass es im Vergleich mit der Schweiz ein grosses Freiheitsdefizit hatte, wurde auch in unserem Land von vielen übersehen.

Carl Spitteler trat dieser unüberlegten Begeisterung für das Reich entgegen und pochte auf Schweizer Werte, auf Freiheit und Unabhängigkeit. Der spätere Literaturnobelpreisträger wählte im Dezember 1914 klare Worte. In seiner berühmten Rede „Unser Schweizer Standpunkt" sagte er:

„Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind unsere Brüder. Der Unterschied zwischen Nachbar und Bruder aber ist ein ungeheurer. Auch der beste Nachbar kann unter Umständen mit Kanonen auf uns schiessen, während der Bruder in der Schlacht auf unserer Seite kämpft."[6]

Und Spitteler warnte vor Grossmächten und übertriebener Staatsverherrlichung. Er wählt klare Worte: Staaten sind keine „sentimentalen Mächte" sondern „Gewaltmächte". Und: „In der Tat lässt sich die ganze Weisheit der Weltgeschichte in einem einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, so viel er kann."[7]

Nach dem ersten Weltkrieg folgte der Druck Deutschlands und Italiens vor und während des 2. Weltkrieges. Wieder ging es um Freiheit und Unfreiheit. Und wieder gab es Leute, die die Freiheit zugunsten des Neuen und Grossen aufgeben wollten.

Anpasser gab es beispielsweise im diplomatischen Korps. Während des zweiten Weltkrieges schrieb der Schweizer Gesandte in Berlin: „Die grosse Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland für lange die entscheidende Kontinentalmacht sein wird und Italien die Mittelmeermacht, muss in unserer Aussenpolitik berücksichtigt werden. Die Schweiz muss ihre Neutralitätspolitik auf die Freundschaft Deutschlands und Italiens stützen."[8]

Der Schweizer Oberst Gustav Däniker verfasste 1941 eine „Denkschrift über Feststellungen und Eindrücke anlässlich eines Aufenthaltes in Deutschland". Darin schreibt er: „Es lässt sich im Grunde alles darauf zurückführen, dass in Europa seit Jahren eine Entwicklung eingesetzt hat, die wir nicht nur nicht verstehen wollen, sondern gegen die wir in engster Anlehnung an die Gegner eines neuen Europa in Gegensatz getreten sind. Wir bilden uns merkwürdigerweise hierbei auch sehr viel darauf ein, fernerhin als Querschläger durch ein neues Europa zu fliegen." Und er kritisiert „die trügerische Hoffnung, wir könnten in Zukunft in allen Teilen das bleiben, was wir immer waren."[9]

Während des Kalten Krieges war die Freiheit doppelt bedroht: Aussenpolitisch die militärische Bedrohung durch den Warschauer Pakt, innenpolitisch durch Sympathisanten des Sozialismus und Marxismus. So pflegte die SP Kontakt zur DDR, Delegationen besuchten einander gegenseitig und man tauschte brüderliche Grüsse unter Genossen aus. Eine Einladung von 1984 an Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands SED verwendet die Grussformel „Mit sozialistischen Grüssen" und trägt die Unterschrift des damaligen Parteipräsidenten Helmut Hubacher.[10]

Am 21. April 1986 sprach Peter Vollmer, Vizepräsident der SP Schweiz, als offizieller Vertreter der SP und in deren Namen am Parteitag der SED in Ostberlin:

„Es ist mir eine grosse Ehre und Freude, hier vor diesem Auditorium eine Grussadresse überbringen zu können. Wir haben die Einladung ... des Genossen Erich Honecker ... gerne angenommen."

„Wir in unserem eigenen Lande, obwohl wir Regierungspartei sind, stehen in einer sehr kritischen Distanz, ja in klarer Opposition zu unserem ökonomischen System. Und auch zu der politischen Heuchelei, wie sie in der westlichen Demokratie immer wieder zum Ausdruck kommt."

„Ich war beeindruckt von der Rede Eures Generalsekretärs, des Genossen Erich Honecker, über den Leistungsausweis Eurer Ökonomie und Eurer Gesellschaft. Als Vertreter der SPS und als Gast an Eurem Parteitag bin ich aber auch beeindruckt zu sehen und zu spüren, wie die Menschen hier in diesem Land für Frieden und Gerechtigkeit eintreten und wie sie mit ganz konkreter Arbeit einen Beitrag für eine menschengerechtere Welt und Gesellschaft leisten." Die Rede wird mit anhaltendem starken Beifall quittiert.[11]

Gleichzeitig druckte der sowjetische Generalstab Karten 1:50‘000 für die ganze Schweiz, aber nicht für touristische Zwecke, es sei denn man verwechsle Invasionen und Exkursionen.

Als es um den Beitritt zum EWR ging, redete die politische und wirtschaftliche Elite die Unabhängigkeit unseres Landes schlecht.

So hiess es etwa: „Eine Ablehnung würde starke wirtschaftliche, soziale und politische Erschütterungen auslösen und zu einer Schwächung der Volkswirtschaft mit negativen Konsequenzen für Arbeitsplätze und Investitionen führen."[12] Im Abstimmungsbüchlein für den 6. Dezember 1992 schrieb der Bundesrat von der „Gefahr einer Isolation der Schweiz in Europa", die es abzuwenden gelte.[13] Und Staatssekretär Blankart drohte: „Nach fünf Jahren Alleingang würden wir aus wirtschaftlichen Gründen die EG auf den Knien bitten, uns um jeden Preis als Mitglied aufzunehmen."[14]

Auch die Gegenwart ist nichts anderes als eine Fortsetzung dieser ewigen Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unfreiheit.

Wir sind wie immer in der Geschichte auch heute wieder mit Forderungen und Anmassungen konfrontiert, die unsere Freiheit einschränken:

Ein Teil unserer Freiheit ist der Schutz der Privatsphäre. Dazu gehört auch das Bankkundengeheimnis. Jetzt fordern ausländische Staaten, dass wir diesen Schutz aufgeben oder relativieren.

Es gehört zu unserer Freiheit, dass wir unsere Steuerordnungen selbst festlegen. Die EU setzt uns unter Druck und verlangt, dass wir uns ihren Vorstellungen anpassen.

Ein ganz wichtiger Teil unserer Freiheit ist, dass das Volk (oder in seiner Stellvertretung das Parlament) Recht setzt. Wenn das Volk der Souverän ist, ist es gar nicht anders möglich, als dass das Volk zumindest mit dem Referendum das letzte Wort hat. Jetzt fordert die EU, dass wir mit ihr darüber verhandeln, wie wir unser Recht automatisch dem EU-Recht anpassen.  

Die Geschichte macht Endlosschlaufen, wiederholt sich immer: Freiheitsneid des Auslandes setzt uns unter Druck - und aus Freiheitsmüdigkeit gibt es Innern Leute, die dazu applaudieren.

Freiheitsmüdigkeit im Inland
Natürlich wird nie direkt gefordert, der Bürger sei in Ketten zu legen. Immer wird eine schön tönende Begründung vorgeschoben.

Wenn wir diese Ereignisse aus der Geschichte ansehen, dann sind es eigentlich immer die gleichen Argumente, die als Vorwand und Fassade dienen:

  • Mehr Gerechtigkeit
  • Mehr Effizienz
  • Mit der Zeit gehen, Anbruch eines neuen Zeitalters

Das zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte, seit Schweizer Jakobiner in der Helvetischen Republik den strikten Zentralismus einführen wollten.

Dieser rote Faden finden wir auch in der Literatur. Karl Schmid hat Freiheitsmüdigkeit und sogar Freiheitsüberdruss in seinem legendären Werk „Unbehagen im Kleinstaat" abgehandelt. Er zeigt, wie gerade bei Intelektuellen die Suche nach absoluter Gerechtigkeit oder die Hoffnung auf ein neues, modernes Zeitalter so stark sind, dass sie zum Rausch werden, der sie für die Freiheit der Schweiz blind macht. Jakob Schaffner glaubte an eine ganz neue Epoche und huldigte in seiner Dichtung zuerst den Kommunisten, dann den Nazis.[15] Max Frisch warf der Schweiz mangelnden Sinn für Gerechtigkeit vor; er spielte sich als moralische Autorität auf und klagte die Schweiz literarisch an.[16] Dabei nähert er sich selbst linken Ideen an, welche die Freiheit des Einzelnen im Kollektivismus auslöschen.

Gerechtigkeit, Effizienz, mit der Zeit gehen: Ich möchte deshalb zuerst immer einmal hinter die Kulisse schauen, wenn ich diese Begründungen höre.

Und man hört sie oft in Bundesbern. Meistens kann man sie so übersetzen:

  • Mehr Gerechtigkeit heisst mehr und neue Gesetze
  • Mehr Effizienz heisst mehr Staatspersonal
  • Mit der Zeit gehen heisst Souveränität ans Ausland abtreten

Dazu ein paar aktuelle Beispiel:

Völkerrecht:

Jährlich schliesst die Schweiz hunderte von internationalen Verträgen ab. 2008 waren es - je nach zählweise, manche Verträge hängen zusammen - etwa 330 neu Verträge, die allein der Bundesrat bzw. die Departemente abgeschlossenen haben (Änderungen an bestehenden Verträgen nicht mitgezählt.). Die Verträge, die das Parlament genehmigt hat, kommen da noch dazu.[17]

2008 war kein Ausnahmejahr. 2009 waren es etwa 370 Verträge, die der Bundesrat und die Departemente abgeschlossen haben.[18] Für 2010 ist man noch am Zählen, irgendwann im Mai oder Juni ist man dann soweit und publiziert darüber wieder (wie jedes Jahr) ein dickes Buch.

Natürlich sind nicht alle diese Verträge von grosser Tragweite. Und natürlich sind sie nicht alle gegen unsere Interessen. Etliche aber sind es, wenn wir nur an die über hundert Schengen-Übernahmen denken, die auch darunter fallen.

Und das ist nur die Hintergrundmusik: Zu dieser Vielzahl von bundesrätlichen Verträgen kommen noch die ganz wichtigen und weitgehenden, die vom Parlament genehmigt werden müssen. Auch da herrscht eine hohe Beschlusskadenz.

In jedem Fall ist daran zu denken, dass jeder Vertrag, den wir eingehen, eine Bindung, eine Verpflichtung bedeutet. Und mit jeder Bindung wird der eigene Handlungsspielraum enger, die Freiheit also kleiner. Das mag manchmal durchaus gerechtfertigt sein, es ist aber wichtig zu prüfen, was die Gegenleistung für den Spielraumverlust ist - es ist ein wenig so, wie es Schiller für die Heirat geschrieben hat: Drum prüfe, wer sich ewig bindet ... Der Wahn ist kurz, die Reu‘ ist lang.[19]

Nebst den Verpflichtungen, die wir vertraglich gegenüber andern Staaten oder überstaatlichen Organisationen eingehen, ist die Schweiz daran, sich zusätzlich selbst zu binden, weil Politiker und Verwaltungsjuristen das sogenannte Völkerrecht über unsere Verfassung und unsere Volksrechte stellen.

Im Parlament sind Vorstösse hängig, die eine Einschränkung der direkten Demokratie, also unserer Freiheit, zugunsten von diffusen Völkerrechtsgrundsätzen fordern, die man beliebig interpretieren kann.

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates hat den Bundesrat beauftragt zu prüfen, wie der Entscheid betreffend Gültigkeitserklärung einer Volksinitiative vor der Unterschriftensammlung gefällt werden kann. Es geistert immer wieder die Idee durch die Verwaltung, dass sie Volksbegehren möglichst früh beurteilen, allenfalls sogar als völkerrechtswidrig erklären können soll. Dieser Bericht befindet sich in der Schlussredaktion. Er wird die Frage der Ungültigkeitsgründe wie auch die Frage der Vorprüfung einer Volksinitiative umfassen. Im ersten Quartal 2011 will der Bundesrat voraussichtlich davon Kenntnis nehmen.

Macht der Verwaltung:

Wenn ich sehe, was im Bundesrat alles beschlossen wird und in welche Richtung die Verwaltung drängt, immer mehr Regeln, mehr Zentralismus, mehr Kontrolle, Für- und Vorsorge des Staates, dann kommt mir manchmal eine Befürchtung des grossen französischen Freiheitsphilosophen Tocqueville in den Sinn.

In seinem berühmten Werk „Demokratie in Amerika" äusserte er sich damals zu Gefahren, die der Demokratie und Freiheit drohen und die heute geradezu hellseherisch tönen. Er meint, dass „alles in Europa ... dahin zu wirken scheint, dass die Vorrechte der Zentralgewalt sich unbegrenzt vermehren und das Einzeldasein mit jedem Tag schwächer, untergeordneter und ungeschützter wird."[20]

Er sieht den Vorsorge- und Bevormundungsstaat voraus, der von einer grossen, bürokratischen Verwaltung gesteuert wird und in dem der Bürger entmündigt ist:

„Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge ... Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine ... Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllten ... Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmässig, vorsorglich ... Sie will ... alleiniger Betreuer und alleiniger Richter sein, sie sorgt für die Sicherheit [der Menschen], ermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass; könnte sie nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen? Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener, sie beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schliesslich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst."[21]

Entwaffnungsinitiative:

Bei der Entwaffnungsinitiative geht es nicht in erster Linie ums Sturmgewehr. Es geht um viel mehr. Es geht auch da um unsere freiheitliche Ordnung. Die Frage ist: Glauben wir weiterhin an die Selbstverantwortung des Bürgers? Unsere Freiheit beruht auf diesem Glauben an die Mündigkeit und Selbstverantwortung des Bürgers. Darum sind wir Bürger der Souverän. Wer nicht an den mündigen Bürger glaubt, der glaubt konsequenterweise auch nicht daran, dass das Volk die oberste Instanz sein soll. Denn er ist ja der Meinung, der Bürger sei verantwortungslos und gehöre bevormundet. Darum geht es bei dieser Abstimmung letztlich um unsere Freiheit und Demokratie. Das ist nicht etwa übertrieben, sondern Realität: Die Diskussion darüber, ob und wieweit Volksentscheide umzusetzen sind, zeigt, wie gewisse Kreise uns Bürgern misstrauen und uns geringschätzen ...

Fazit: Der Freiere überlebt oder warum die Schweiz mehr Freiheit braucht
Man muss nicht soweit gehen wie amerikanische Politologen, die einen fast auf den Dollar genau berechenbaren Zusammenhang zwischen dem Grad an Demokratie und Freiheit einerseits und dem Pro-Kopf-Einkommen andererseits herstellen.[22]

Aber die Schweiz beweist, dass sie sich auf die Dauer Freiheit auszahlt, in Wohlstand, in Stabilität und natürlich in Lebensqualität. Auch wenn im Moment das Nachgeben vielleicht einfacher wäre.

Die Geschichte lehrt, dass uns die Freiheit zwar immer Neid und Anfeindungen gebracht hat und dass die Schweizer Geschichte eine Geschichte des dauernden Kampfes um die Freiheit ist; die Geschichte lehr aber auch, dass uns die Freiheit speziell und speziell erfolgreich gemacht hat.

Es ist ja schon erstaunlich, wie gut unser Land dasteht und wie gut es im Allgemeinen auch in der Vergangenheit Krisen meistern konnte.

Darwin hat geschrieben, dass der Fitteste überlebt. In Anlehnung daran kann man sagen: Der Freiere überlebt (vorausgesetzt er kann sich gegen Aggressionen wehren). Wenn wir uns das Europa der letzten hundert Jahre ansehen, haben wir ein eigentliches Biotop der Gesellschaftsmodelle. Die Systeme sind gekommen und gegangen. Vom Gottesgnadentum der Donaumonarchie über rote und braune Diktaturen bis zur Brüsseler Bürokratie. Die Experimentierfelder waren grosse Länder mit Ressourcen. Die meisten dieser Modelle haben sich trotzdem als wenig stabil erwiesen.

Die Schweiz dagegen ist im Vergleich dazu eine Erfolgsgeschichte, unsere freiheitlichere Ordnung ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Das zeigt, wo wir politisch die Prioritäten setzen müssen. Nie dürfen wir uns am Freiheitsniveau anderer Staaten orientieren. Wir müssen freiheitlicher sein. Gleich lange Spiesse kann nicht das Ziel sein. Mit gleich langen Spiessen verliert ein kleines Land. Die Schweiz gäbe es schon lange nicht mehr, wenn die Eidgenossen am Morgarten mit den gleich langen Spiessen angetreten wären wie die Habsburger. Sie konnten sich durchsetzen, weil sie gewandter, flexibler und anders auftraten als die Grossmacht Habsburg. Wenn die Grossen mit Spiessen kommen, dann rollen wir Steine den Hang hinunter und wehren uns mit Hellebarden.

Übertragen auf heute heisst das: Wir müssen unseren eigenen erfolgreichen Weg gehen. Unseren freiheitlichen Weg.

Denn ich glaube, dass der Satz vom „geostrategischen Unding" auf alle Systeme zutreffen mag, ausser auf eines: Das freiheitliche Modell der Schweiz. Vorausgesetzt, wir haben die Kraft und den Mut, uns die Freiheit weiterhin zu bewahren.


Quellenangabe:

[1] Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947, S. 30
[2] Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947, S. 30ff.
[3] Arnold Winkler, Metternich und die Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte, 1927, S. 60
[4] Gottfried Keller, Mandat für den Bettag, 1871
[5] zit. nach G. Craig, Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830 - 1869, München 1988, S. 235
[6] Carl Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt, 14. Dezember 1914, zit. nach Ausgabe Rascher, Zürich 1915, S. 7
[7] Carl Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt, 14. Dezember 1914, zit. nach Ausgabe Rascher, Zürich 1915, S. 11
[8] Hans Frölicher an Pilet-Golaz, 11. Juni 1940, zit. nach Markus Somm, General Guisan. Widerstand nach Schweizer Art, Bern 2010, S. 100
[9] zit. nach Jürg Stüssi-Lauterburg, Freier Fels in brauner Brandung, Zollikofen 2009, S. 73
[10] Erwin Bischof, Honeckers Handschlag, Bern 2010, S. 105
[11] Erwin Bischof, Honeckers Handschlag, Bern 2010, S. 310
[12] Inserat der Schweiz. Handelskammer, Vorort, 1992
[13] Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, Erläuterungen des Bundesrates
[14] Staatssekretär Franz Blankart, Weltwoche, 26.11.1992
[15] Karl Schmid, Unbehagen im Kleinstaat, in: Gesammelte Werke, Bd. IV., Zürich 1961/65, S. 219[16] Karl Schmid, Unbehagen im Kleinstaat, in: Gesammelte Werke, Bd. IV., Zürich 1961/65, S. 233ff.
[17] Bericht über die im Jahr 2008 abgeschlossenen internationalen Verträge
[18] Bericht über die im Jahr 2009 abgeschlossenen internationalen Verträge
[19] Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke
[20] Alexis de Tocqueville, Demokratie in Amerika, München 1976, S. 799
[21] Alexis de Tocqueville, Demokratie in Amerika, München 1976, S. 814f.
[22] Niall Ferguson, Politik ohne Macht, München 2001, S. 336


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