Mit Pioniergeist und Willenskraft zum Erfolg

Brusio, 18.06.2010 - Bundespräsidentin Doris Leuthard | 100 Jahre Berninalinie

Sehr geehrter Herr Vize-Minister (Italien),
Sehr geehrter Herr Standespräsident
Sehr geehrter Herr Regierungsrat
Sehr geehrter Herr Gemeindepräsident/Sindaco
Sehr geehrte Vertreter der RhB
Liebe Damen und Herren

Bahnen und Brücken sind Meisterwerke der Technik und der Ingenieurskunst -  wie der hier in Brusio erstellte Kreisviadukt eindrücklich zeigt. Bahnen und Brücken sind aber noch mehr: Sie verbinden Dörfer und Täler, bringen Menschen unterschiedlicher Sprache und Herkunft einander näher - und fördern Handel, Wohlstand und Lebensqualität. Es freut mich daher sehr, dass ich heute mit Ihnen das 100-jährige Bestehen der Berninalinie feiern und Ihnen im Namen des Bundesrats dazu gratulieren darf.

Es fasziniert mich immer wieder zu sehen, was dank guter Ideen, Begeisterungsfähigkeit und Willenskraft möglich ist. Die vor 100 Jahren in Betrieb genommene Bernina-Linie ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Die Pioniere von damals haben mit grossem Mut, Risikobereitschaft und einer klaren Überzeugung gehandelt, wofür wir ihnen bis heute dankbar sind. Wo früher Säumer und Postkutschen unterwegs waren, entstand eine Bahn, die das Reisen im Gebirge schlagartig einfacher, schneller und sicherer machte. Ursprünglich nur als Touristenbahn geplant, reicht ihre Bedeutung heute weit über den damaligen Zweck hinaus: Ging es zu Beginn vor allem darum, Gästen aus England und Deutschland den Morteratsch-Gletscher mit der beleuchteten Eisgrotte zu zeigen, bietet die Bahn heute Gewähr für eine gedeihliche Entwicklung der Region. Sie ist zu einer wichtigen Lebensader geworden - und schafft  Identität.

Der Berninapass ist ein wichtiger Übergang zwischen Nord und Süd, zwischen der Schweiz und Italien, zwischen dem Engadin und dem Veltlin. Dank der Berninabahn sind die Täler enger zusammengerückt: Ein Ausflug nach Chur zu Verwandten und Bekannten ist für Sie, liebe Puschlaverinnen und Puschlaver, inzwischen selbstverständlich geworden und nicht mehr mit Mühsal und Strapazen verbunden. Die Berninabahn führt heute in rund vier Stunden ans Ziel - und zwar auch im Winter, wenn auf der Strasse über den Pass kein Durchkommen mehr ist. Mit der Bahn bleibt die Verbindung zur Aussenwelt selbst bei heftigem Schneetreiben erhalten. Mit ihr haben sich die Distanzen verkürzt - auch in den Köpfen.

Die Bahn bietet Familien seit Generationen Arbeit und Auskommen  und beglückt die aus aller Welt stammenden Touristen mit eindrücklichen Bildern. Wer einmal mit der roten Bahn unterwegs war, wird sie nie mehr vergessen. Wer sie sieht, weiss woher sie kommt - und wohin die Reise führt. Damit besitzt sie eine wichtige identitätsstiftende Rolle. Was für das Berner Oberland die spektakuläre Zahnradbahn aufs Jungfraujoch ist, ist für Sie hier die Berninabahn.

Die Bahn hat aber auch die Wirtschaft angekurbelt. Wie zahlreiche andere Strecken der Schweiz wurde sie von Privaten gebaut, die mit viel Pioniergeist und Mut ans Werk gingen. Sie sorgten dafür, dass die Bahn von Anfang an mit elektrischer Energie aus dem Lago Bianco betrieben werden konnte. Grüne, erneuerbare Energie wurde also schon lange bevor sie alle Welt entdeckte nutzbar gemacht! Bereits der Bau der Berninabahn und anderer Abschnitte gaben dem Kanton wichtige Impulse. Mit der Erweiterung des Netzes wurde auch der Handel gefördert, und davon profitierten insbesondere die anliegenden Gemeinden. Die Anbindung an die Bahn schaffte Stellen in Betrieb, Unterhalt und Zulieferung, belebte das Gewerbe und brachte den Dörfern wirtschaftlichen Aufschwung.

Das zahlt sich bis heute aus: Die Berninalinie sichert der Region Arbeitsplätze, Wohlstand und Lebensqualität. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet auch die 2008 erfolgte Aufnahme der Bernina-Express-Strecke ins Weltkulturerbe der Unesco - eine Auszeichnung, die mit viel Prestige verbunden ist. Sie wird künftig zweifellos noch mehr Gäste zum Verweilen in Ihrer Region einladen, die Marke "Bernina" ist somit verewigt.

Für mich ist klar: Die Berninalinie hat Zukunft  - sowohl als Touristenbahn als auch als Verbindungsstrecke zwischen Nord und Süd. Es erstaunt daher nicht, dass im Kanton Graubünden weitere Bahn-Projekte geprüft werden, etwa die Verlängerung der Bahnlinie vom Unterengadin ins Vinschgau oder eine Verbindung vom  Misox nach Chiavenna / Mailand. Damit sollen die Talschaften enger an die Metropolen angebunden werden. Solche Projekte bieten zweifellos Chancen. Es freut mich zu sehen, dass es auch heute nicht an Pioniergeist mangelt und dass der Kanton signalisiert hat, Abklärungen zur Machbarkeit solcher Projekte zu unterstützen.

Der Bund investiert ebenfalls in zukunftsweisende Verkehrsprojekte  - und so entsteht am Gotthard derzeit der längste Eisenbahntunnel der Welt: Ein grossartiges Bauwerk, mit dem Europa einen ebenso sicheren wie leistungsfähigen Schienenkorridor durch die Alpen erhält. Die Schweiz zaudert nicht, sie handelt. Erste Etappen sind erreicht, für den Herbst ist am Gotthard der Durchstich des letzten Teilstücks geplant, bald werden Züge durch den Tunnel donnern.

Das zeigt: Nicht nur die Berninalinie - Bahnen ganz allgemein haben Zukunft. Sie sind ökologisch sinnvoll. Wie zu Beginn des Eisenbahnzeitalters dürfte die grösste Herausforderung allerdings auch heute in der Finanzierung neuer Projekte liegen. "Das Kapital - wie bekannt - irrt nicht", hielt der aus Holland eingewanderte Bündner Bahnpionier Willem Jan Holsboer vor über hundert Jahren treffend fest. Es macht keinen Sinn, das Geld an den Bedürfnissen und Interessen der wichtigsten Kunden vorbei in Projekte zu stecken und allen Wünschen nachzugeben. Wir können nicht alles finanzieren - und auch die Fahrgäste nicht. Wir müssen Prioritäten setzen.

Um neue Bahnlinien und Infrastrukturprojekte zu verwirklichen, um Verkehr und Mobilität sinnvoll weiterzuentwickeln, ist es deshalb angezeigt, auf ein enges Zusammenspiel von Wirtschaft und Staat und auf unser bewährtes Nebeneinander von Schiene und Strasse zu achten. Das dient dem Gesamtwohl. Eine gute Verkehrserschliessung ist zu einem Standortfaktor geworden, der die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Regionen und Staaten gleichermassen beeinflusst. Machen wir uns auf, die Zukunft zu gestalten!



Es gilt das gesprochene Wort !


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
http://www.wbf.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-33701.html