Wer hätte einem simplen Ordner eine derartige Rolle zugetraut!

Bern, 18.09.2008 - Grusswort von Bundesrat Samuel Schmid, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), anlässlich der Feier 100 Jahre Bundesordner Bern, Bundesarchiv.

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Arrigoni,
Sehr geehrter Herr Bigler,
Sehr geehrte Benutzerinnen und Benutzer des Bundesordners,
Meine Damen und Herren!

Natürlich komme ich mit dem Original-Bundesordner!
Mit marmoriertem Deckel und Schweizerkreuz.

Neuere Modelle haben an der Unterseite einen Kantenschutz aus Metall. Er heisst in der Fachsprache "Panzer-Rand". Das ist der eine Grund, weshalb der Bundesrat gedacht hat, er delegiere den Verteidigungsminister an den heutigen Anlass. Der andere Grund ist der, dass ich Seeländer bin, wie die Firma Biella auch. Um zu meinem Grusswort zu gelangen, muss ich vorerst den Tippklemmer bedienen. Das Geräusch ist uns so vertraut wie das unserer Wohnungstüre, wenn sie ins Schloss fällt.

Nun bediene ich die reinmetallene Hebelmechanik.
Sie bietet laut Werbung 100prozentige Verschluss-Sicherheit gegen Stoss, Schlag, Zug und Druck. Welcher Bundesrat wäre nicht froh um solche Sicherheiten. Und schon liegt das Manuskript vor mir! Diese paar Handgriffe macht man seit 100 Jahren so. Ich wünsche der Biella, dass man sie noch viele Jahre so machen wird.

Meine Damen und Herren, wir leben in einem Land bar jeglicher Sorgen! In welchem anderen Land würde sich die Regierung bei der Feier für einen Ordner vertreten lassen? Die Feier hier im Bundesarchiv mit bundesrätlichem Grusswort hat denn auch da und dort mediale Häme ausgelöst. Ich habe die betreffenden Artikel gelocht und in einem Bundesordner abgelegt. So hat alles seine Ordnung, selbst die Häme. Als Jurist bin ich ohnehin nach dem Grundsatz erzogen worden: "Was nicht schriftlich in den Akten ist, ist nicht in der Welt." So verschaffe ich der medialen Häme ausnahmsweise eine etwas längere Existenz. Wobei ein Bundesordner nichts aussagt über die Qualität seines Inhalts. Ich will ja nicht die Kritiker kritisieren. Aber sie haben wohl übersehen, dass es um viel mehr geht als um ein Kartonkonstrukt mit den Massen 28 mal 32 mal 7 Zentimeter. Obwohl in ihrem Büro, da würde ich drauf wetten, mehrere Bundesordner stehen …

  • Es geht zum Ersten um ein Kunstwerk, das - ähnlich wie zum Beispiel die Büroklammer - seine Genialität aus der Einfachheit schöpft. Ein Kunstwerk, das heute sogar als Mass-Einheit für die Komplexität von Gerichtsverfahren dient. Der Swissair-Prozess füllte 4'180 Bundesordner. Diese Menge kann man sich zwar nicht vorstellen, aber sie ist eindrücklich. Die Freisprüche und ihre Begründung füllten dann wohl noch ein paar Ordner mehr. Kann es sein, dass die Firma Biella jedem Gerichtsverfahren mit verhaltener Freude entgegenblickt? Das Kunstwerk hat auch etwas Verführerisches. Nicht nur, dass wir getrost nach Hause tragen können, was gelocht und klassiert ist. Was im Bundesordner abgelegt ist, ist auch rasch aus den Augen und damit aus dem Sinn.
  • Es geht zum Zweiten um ein Stück Schweiz. Genau so, wie es keinen Schweizer Haushalt gibt ohne Aromat, gibt es keinen Schweizer Haushalt ohne mindestens einen Bundesordner. Wir können daraus schliessen, dass die Schweizerinnen und Schweizer eine ordnungsliebende Nation sind. Der Rundordner, der auch in jedem Haushalt vorkommt, ist per se keine Konkurrenz, weil er trotz Abfalltrennung das Gegenteil von Ordnung schafft.
  • Es geht zum Dritten um ein Stück Geschichte. Das Historische Museum Bern hat letztes Jahr dem Berner Pioniergeist eine Ausstellung gewidmet. Das ging von Albert Einstein über Ursula Andress bis zu Michelle Hunziker. Von der Halen-Siedlung bis zum Wankdorfstadion. Von der Toblerone und dem Ragusa über die Ovomaltine bis zum Emmentaler. Von Züri West bis Gölä. Und dieser Berner Pioniergeist hat eben auch den Bundesordner hervorgebracht. Wobei fairerweise angemerkt werden muss, dass der Ur-Ordner eine deutsche Erfindung von 1886 ist. Aber der nachhaltige Erfolg war der gebührend helvetisierten Version vorbehalten.
  • Es geht zum Vierten um eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Der Bundesordner ist Swiss made und wird von einer klassischen seeländischen KMU hergestellt. Wenn selbst in Zeiten der elektronischen Ablage und des (angeblich) "papierlosen Büros" jedes Jahr über 12 Millionen Bundesordner abgesetzt werden, dann spricht das für das Produkt. Und für die Menschen, die dahinter stehen.

Kurz und gut: Es gibt ausreichend Gründe, um des 100. Geburtstages des Bundesordners zu gedenken. Zu einer Gedenkfeier gehört immer auch die Frage: Was wäre, wenn…? Konkret: Wo stünde die Schweiz heute ohne die Erfindung des Bundesordners? Jonglieren wir mit einigen Zahlen: 1908 hatte die Schweiz eine Wohnbevölkerung von 3,7 Millionen Menschen. Heute sind es mehr als doppelt so viele: 7,6 Millionen. Die Zahl der Haushalte hat sich vervierfacht. 1908 beschäftigten die sieben Departemente weniger als 2'800 Beamte. Heute gibt es keine Beamten mehr, aber rund 36'000 Bundesangestellte. In diesen hundert Jahren wurde die Schweiz mit unglaublichen Infrastrukturprojekten überzogen, mit einem der weltweit dichtesten Schienen- und Strassennetze. Die ländliche Schweiz von 1908 ist hundert Jahre später eine Schweiz der Grossagglomerationen. Jede Bürgerin, jeder Bürger wird getragen von einem dichten, ausgebauten Netz an Sozialwerken.

Meine Damen und Herren, vergegenwärtigen wir uns, was diese atemberaubende Entwicklung innerhalb von nur vier Generationen benötigt hat an Planung, an Umsetzung, an Bau, an Unterhalt, an Kontrolle, an Abrechnung! Da kamen wohl Tausende, ja Hunderttausende von Tonnen Akten zusammen. Wo und wie wurden und werden denn diese gigantischen Aktenberge aufbewahrt? Wie behält man denn in diesen Aktenbergen die Übersicht? Wie schafft man es denn, in diesen Aktenbergen innert nützlicher Frist das richtige Dokument wieder zu finden? Sie kennen die Antwort, sie liegt hier auf dem Rednerpult: Dank dem Bundesordner! Und damit ist auch die Frage beantwortet, wo die Schweiz heute ohne die Erfindung des Bundesordners stünde. Ob sie so wäre, wie sie ist. Nein, wir feiern heute nicht einfach den 100. Geburtstag eines Kartonkonstrukts von 28 mal 32 mal 7 Zentimeter. Wir feiern eine Institution unseres Landes!

Wer hätte einem simplen Ordner eine derartige Rolle zugetraut!

Meine Damen und Herren, es gibt Gefühle, die lassen sich nicht präzise beschreiben. Mir geht es wohl wie Ihnen: Wenn ich ein Dokument gelocht habe, wenn ich es in den Bundesordner lege, wenn ich die reinmetallene Hebelmechanik schliesse und dem Tippklemmer mit sanftem Druck das satte "Plopp!" entlocke, dann, ja dann habe ich einfach ein gutes Gefühl.

Mit diesem unbeschreiblich guten Gefühl klassiere ich hiermit das bundesrätliche Grusswort zur 100-Jahr-Feier des Bundesordners und wünsche Ihnen einen unterhaltsamen Nachmittag!


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