Neue Herausforderungen bedingen Höchstleistungen

Thun, 23.05.2008 - Bundesrätin Doris Leuthard | Swiss Economic Forum 2008 – “HöCHstleistung”

Sehr geehrte Damen und Herren.
Der Schweiz geht es gut!
Die Confoederatio Helvetica - CH - hat beachtliche Leistungen erbracht.

  • Wir haben Märkte für uns erfolgreich geöffnet. Mit derzeit 19 Freihandelsabkommen sind wir weltweit bestens vernetzt.
  • Wir sind das drittreichste Land der Welt.
  • Der Arbeitsmarkt ist flexibel, der Arbeitsfriede ist intakt; bei uns wird nur an 1,5 Arbeitstagen pro 1000 Beschäftigte gestreikt.
  • Unsere Konsumenten legen Wert auf hochwertige Produkte und fairen Handel; die Pro-Kopf-Ausgaben liegen bei rund 32 Franken jährlich - 19- mal höher als in Deutschland.
  • Wir haben in Bildung und Forschung investiert und profitieren von aussergewöhnlichen Investitionsleistungen; 2007 gab die OECD bekannt, dass die Schweiz neben Japan die meisten Patente pro Million Einwohner angemeldet hat.

Dank einer grossen kollektiven und individuellen Leistungsbereitschaft sind wir zu einer mittleren Wirtschaftsmacht geworden - auch ohne Rohstoff-Reserven.

Meine Damen und Herren, wenn wir über Leistung sprechen, dann verbinden wir diese oft mit einem zu erwartenden Erfolg. Doch leider ist Leistung nicht immer von Erfolg gekrönt. Viele Persönlichkeiten leisten heute viel; grosse Erfolge streichen jedoch nur Wenige ein. Sisyphus hat viel geleistet, allerdings ohne Erfolg. Und einige Banker haben sich in den letzten Jahren ebenfalls viel geleistet; mit mässigem Erfolg. Wahre Leistung ist nicht vom Bonus am Ende des Jahres abhängig. Höchstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nachhaltig wirken.

Schon Perikles hat erkannt, dass man die Menschen besser nach ihrer Leistung beurteilen soll. Der Gewinnanteil oder ein Bonus darf zwar Triebfeder für aussergewöhnliche Leistungen sein. Anerkennung aber verdient die Leistung, die den Gewinn erst möglich macht. Anerkennung verdient, wer sich von Rückschlägen nicht so schnell unterkriegen lässt und hartnäckig sein Ziel verfolgt. Was am Schluss zählt ist die Einstellung zur Leistung und zur Arbeit.

HöCHstleistungen als Kombination von genialen Ideen, Fähigkeiten, Talent und Schaffenskraft zeichnen die Schweiz und die Schweizerinnen und Schweizer aus. Zum Glück haben wir nach wie vor viele Menschen bei uns, die genau diese Bedingungen mitbringen.

Die enorme Leistungsbereitschaft in einem Umfeld mit günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hat die Schweiz dahin gebracht, wo sie heute steht.Sie alle kennen die volkswirtschaftlichen Eckdaten der Schweiz. Sie alle wissen, dass wir in fast allen Ratings vordere oder vorderste Plätze besetzen.

  • Wir haben uns zu einer mittleren Wirtschaftsmacht emporgearbeitet, die Gehör findet.
  • Wir haben ein Bildungsniveau erreicht, das weltweit - auch bei Berufsmeisterschaften - einen Spitzenplatz einnimmt und rundherum anerkannt wird.
  • Wir haben soziale Strukturen, die den Menschen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder nach der Pensionierung Sicherheit bieten.

Allerdings stelle ich zunehmend eine Tendenz fest, die mir Sorgen bereitet. Wir haben uns dank diesen Höchstleistungen ein luxuriöses Polster zugelegt und dieser Luxus macht bequem. Luxus verführt dazu, die wichtigen Probleme zu verdrängen und sich in Unwichtigem zu verlieren. Luxus verführt dazu, dass wir die erarbeiteten Errungenschaften als selbstverständlich hinnehmen und uns der Anstrengungen nicht mehr bewusst sind, die für Wohlstand und Lebensqualität nötig sind.

Nehmen Sie die Frage der Fortsetzung und Ausdehnung der Personenfreizügigkeit. Das ist eine sehr wichtige Frage und ich bin froh über eine möglichst breite Debatte. Aber wir sollten das nicht zu einer parteipolitischen Profilierungsübung verkommen lassen. Vielmehr sollten wir uns am Nutzen der Personenfreizügigkeit für unsere Unternehmen und damit für den Wirtschaftsstandort Schweiz orientieren. Und dieser ist ausgewiesen: im letzten Jahr wurden dank dem Wirtschaftswachstum rund 86'000 Arbeitsplätze geschaffen. Deutlich stärker als früher konnten wir - insbesondere Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer - den konjunkturellen Aufschwung voll ausschöpfen, weil der Arbeitsmarkt nicht ausgetrocknet ist.

Oder nehmen Sie die derzeitige Diskussion über die Weiterentwicklung der WTO. Heute streiten wir allen Ernstes darüber, ob wir den Grenzschutz für Agrarprodukte hochhalten und sogar aus der WTO austreten sollen. Wir sollen der Welt den Rücken zukehren! Eine absurde Vorstellung für eine Volkswirtschaft, die jeden zweiten Franken im Ausland verdient und deren Unternehmen dank der WTO unter klaren Bedingungen und einklagbaren Regeln mit hoher Rechtssicherheit in 151 Länder exportieren können. Kurz: Unser Land ist auf das multilaterale WTO-Regelwerk angewiesen.

Wenn wir als Wirtschaftsstandort im Wettbewerb bestehen wollen, dann müssen wir zwei Tendenzen zwingend unterbinden:

  • Erstens dürfen wir uns nicht einigeln und uns gegenüber Europa und der Welt abschotten.
  • Zweitens dürfen wir uns nicht auf dem luxuriösen Sofa der satten Bequemlichkeit ausruhen.

Wir müssen uns im Gegenteil noch stärker für den Weltmarkt öffnen und uns noch mehr anstrengen und verbessern. Das wird mit Sicherheit nicht einfach werden. Wer heute und morgen mit HöCHstleistungen an der Spitze bleiben will, der muss laufend optimieren, nach neuen Ansätzen suchen, seine Teams zu Höchstleistungen motivieren.

In der Politik braucht es grössere Anstrengungen, weil die Staaten näher zusammenrücken.

  • Heute stehen Länder wie Indien oder Brasilien an der Schwelle zur „ersten Welt".
  • Heute steckt China noch in einem grossen Entwicklungsprozess und dürfte im Jahr 2015 zum Welt-Standort Nummer 1 für Investoren werden.
  • Heute liegt die EU beim Bruttoinlandprodukt noch vor den USA und vor China; gemäss Schätzungen des Staatssekretariates für Wirtschaft werden im Jahr 2015 die USA Europa überholen, Indien wird vom Platz 8 auf Platz 6 vorrücken und die Schweiz wird von 12 auf 14 rutschen.

Es wird aber auch nicht einfacher, weil andere Völker auf dieser Welt hungriger sind. Die Menschen in diesen Ländern sind vom unbändigen Willen nach Höchstleistung beseelt, weil sie es zu Wohlstand bringen wollen. Deshalb arbeiten Chinesen 7 Tage in der Woche. Ihr Streben nach Erfolg zeigt sich in den enormen Wachstumszahlen. Aber es gibt in diesem Wettkampf für uns nicht nur Krampf und Schweiss; es gibt auch Spass und neue Chancen. Der Eintritt neuer Teilnehmer am Weltmarkt eröffnet uns auch Möglichkeiten, und die gilt es zu nutzen.

Mit dieser Politik und dieser Einstellung eines jeden Einzelnen konnten wir uns im internationalen Wettrennen vorne positionieren. Dank Swissness und Handelsdiplomatie sind wir zu Globalisierungs-Gewinnern geworden. Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer decken mit neuen Produkten und Dienstleistungen den Markt ab. Mit unserer Aussenwirtschaftsdiplomatie haben wir mit der ganzen Welt ein starkes Fundament gelegt. Darauf können wir heute noch bauen.

In Zukunft sind wir aber mit weitaus grösseren Herausforderungen konfrontiert.

Das verlangt neue HöCHstleistungen. Ich denke an die zunehmende, weltweite Ressourcenverknappung insbesondere in den Bereichen Erdöl, Metall, Agrarrohstoffe und Wasser. Die Faktoren, die zur heutigen Situation geführt haben, sind eindeutig:

  • Erstens ist es die hohe Nachfrage nach Rohstoffen und Lebensmitteln in Schwellenländern wie China und Indien sowie die Förderung von Bio-Treibstoffen.
  • Zweitens sind es rückläufige Fördermengen und Missernten.
  • Drittens dürften spekulative Anlage-Strategen zur Preis-Hausse beigetragen haben.

Albert Einstein hat an Niels Bohr geschrieben: „I cannot believe that god plays dice with the cosmos." Ich bin überzeugt: Gott würde nie würfeln. Aber ich habe den Verdacht, dass gewisse Leute nach dem Flop auf den Finanzmärkten jetzt den Handel mit Ressourcen als Würfelspiel betrachten.

Dabei besteht wegen der steigenden Preise zumindest aus Schweizer Sicht noch kein Grund zur Panik. Der Markt funktioniert. Höhere Preise haben den positiven Nebeneffekt, dass die Menschen aus dem Trott aufwachen und nach neuen, innovativen Technologien sowie effizienteren Nutzungsmöglichkeiten Ausschau halten. Auch das ist Leadership, ist Höchstleistung, in dem man frühzeitig reagiert und intelligente, neue Wege sucht.

Dennoch müssen wir die Ärmel hochkrempeln.

  • Die Erdöl-Förderindustrie muss alle verfügbaren Reserven anzapfen. Es lohnt sich, in Kanada Erdölsand abzubauen oder in Mexiko neue Offshore-Förderanlagen zu bauen.
  • Die verarbeitende Industrie - auch die KMU's in der Schweiz - muss ihre Arbeitsabläufe unter die Lupe nehmen und konsequent effizientere, neue und innovative Produktionsprozesse suchen.
  • Die Politik schliesslich muss Märkte öffnen und Handelshemmnisse sowie überflüssige Regulierungen abbauen, damit nicht nationale Schranken, Absprachen oder gar Kartelle den Wettbewerb verfälschen.

Handeln wir heute nicht, haben wir morgen, spätestens aber übermorgen, ein grösseres Problem. Einerseits, wenn unserer auf Erdöl und Stahl aufgebauten westlichen Überfluss-Gesellschaft plötzlich die Grundlage fehlt. Anderseits, wenn immer mehr Menschen am Hungertuch nagen und ihr Überleben in den Industriestaaten suchen.

Über die heute dringend benötigte Nothilfe hinaus braucht es eine nachhaltige Entwicklungspolitik. Es braucht neue Anbaumethoden, eine Erhöhung der Produktivität, Landreformen. Nur so können die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern genügend Produkte anbauen und diese zu guten Preisen verkaufen. Nur so haben die Menschen in ihren Heimatländern wieder Perspektiven; und wir schaffen gleichzeitig neue Absatzmärkte - auch für unsere Produkte.

Meine Damen und Herren, in Zukunft sehen wir uns vor grosse Herausforderungen gestellt. Die Weltbevölkerung wächst - jährlich um rund 70 Millionen Menschen - und damit und mit dem steigenden Wohlstand wächst auch der Bedarf an Nahrung und Rohstoffen. Gleichzeitig nimmt mit der Öffnung der Märkte und dem freien Handel die Angst vor der Globalisierung, vor neuen Playern zu.

Das heisst jedoch nicht, dass wir unser Handeln jetzt der Fieberkurve der Börse ausrichten und nur auf die nächsten Quartalsabschlüsse schielen sollten. Und erst recht nicht heisst es, vor Angst erstarren. Mit einer Langfrist-Strategie müssen wir uns den Herausforderungen stellen. Vertrauen wir dabei auf die individuelle und kollektive Leistungsbereitschaft in Schule und Beruf. Verbessern wir die Rahmenbedingungen

  • für unsere Kinder, indem wir sie fördern und fordern;
  • für Bildung und Forschung, damit das Innovationspotential noch besser ausgeschöpft werden kann;
  • für die Wirtschaft, damit der administrative Wildwuchs - auch eine Art von Sisyphus - gestoppt und mit der Öffnung der Märkte neue Absatzchancen entstehen können;
  • für die Bevölkerung, indem wir eine hohe Lebensqualität und Sicherheit bieten.

Das allerdings ist nur möglich, wenn Wirtschaft und Politik am gleichen Strick ziehen. Wenn wir gestalten. Wir sind es, die die Welt verändern. Wir sind es, die etwas bewegen können. Konkret gefordert sind Sie und ich in den nächsten Monaten, wenn es um die Fortführung und Ausdehnung der Personenfreizügigkeit, eine Marktöffnung im Agrar- und Lebensmittelbereich gegenüber Europa oder unsere Positionierung in der WTO geht. Überlassen Sie das Feld nicht nur den Skeptikern und den ewig Unzufriedenen. Werden Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer, die an sich, ihre Produkte und an unser Land glauben, sicht- und hörbar, sonst trifft dann in Abwandlung zu Michail Gorbatschow plötzlich zu: Wer sich im Büro verkriecht, den bestraft der Markt!

Ich danke Ihnen für Ihre öffentliche Präsenz und für Ihr Engagement.

 

Es gilt das gesprochene Wort !


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Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
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