Flexicurity: für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen sozialer Sicherheit und Flexibilität des Arbeitsmarkts

Bern 23. Mai 2008, 23.05.2008 - In der Schweiz schliessen sich Flexibilität des Arbeitsmarkts und soziale Sicherheit nicht aus. Die Sozialversicherungen bieten auch Personen in atypischen Arbeitsverhältnissen eine gute Absicherung gegen prekäre Lebensbedingungen. Die gegenwärtigen Reformen in den Bereichen AHV, IV und Familienpolitik gehen in die richtige Richtung, während bei der beruflichen Vorsorge Anpassungen ins Auge zu fassen sind. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie «Flexicurity: Bedeutung für die Schweiz», die das Bundesamt für Sozialversicherungen veröffentlicht hat.

Der Ansatz, der auf einer Verbindung der gegensätzlichen Anforderungen von Wirtschaft und Sozialstaat beruht, ist unter der Bezeichnung «Flexicurity» bekannt. Dieser Begriff – ein Zusammenzug von «Flexibility» und «Security» (Sicherheit) – wird derzeit auf internationaler Ebene diskutiert. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wollte mit dieser Studie herausfinden, wie es in der Schweiz um Flexicurity steht und ob Veränderungen erforderlich sind. Die Studie wurde von Ecoplan und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften durchgeführt. 

Ein vielversprechender Ansatz

Die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse ist in den Augen vieler Fachleute die beste Lösung für die gegenwärtigen Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Unkonventionelle Arbeitsformen sind bereits weit verbreitet. Dabei ist jedoch wichtig, dass diese nicht zu prekären Lebensbedingungen führen und die soziale Absicherung der betroffenen Personen nicht einschränken. Wie kann man Flexibilität des Arbeitsmarkts und soziale Sicherheit unter einen Hut bringen? Zu den diskutierten Ansätzen gehört das Flexicurity-Modell. Darunter versteht man ein System, das Flexibilität des Arbeitsmarkts und sinnvoll gestaltete soziale Sicherheit intelligent miteinander kombiniert.

Unterschiedliche Entwicklung der atypischen Arbeitsverhältnisse

Die Verfasser der Studie untersuchten die Lage und Entwicklung des Schweizer Arbeitsmarkts von 2002 bis 2006. In diesem Zeitraum entwickelten sich die atypischen Arbeitsverhältnisse unterschiedlich: Beobachtet wurde zwar eine Zunahme der befristeten Arbeitsverträge für über drei Monate, der Temporärarbeit und der Teilzeitarbeit, aber auch eine Stagnation der Arbeit auf Abruf und sogar ein Rückgang der Heimarbeit und der Scheinselbstständigkeit (bei der die selbstständigerwerbende Person nur einen einzigen Auftraggeber hat). Dabei fällt auf, dass gerade die Arbeitsverträge, die aus sozialer Sicht besonders problematisch sind (Arbeit auf Abruf ohne garantierte Mindeststundenzahl; Heimarbeit ohne vertragliche Bestimmung des Arbeitsumfangs; kurzfristiger Vertrag), in den letzten Jahren am deutlichsten zurück gegangen sind. 

Anwendung von «Flexicurity» in der Schweiz

Die Studie zeigt die Hauptprobleme der sozialen Absicherung sowie die Chancen und Risiken der verschiedenen Arbeitsformen auf. Sie kommt zum Schluss, dass das Schweizer Sozialversicherungssystem – auch wenn es noch einige Lücken aufweist – bei unkonventionellen Arbeitsverhältnissen eine gute Deckung bietet. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass nicht nur die Erwerbstätigen oder gar nur die Arbeitnehmenden der AHV und der Krankenversicherung unterstellt sind, wie das in anderen Ländern der Fall ist.Das BSV ist sich der Tatsache bewusst, dass in der beruflichen Vorsorge Anpassungen ins Auge gefasst werden müssen. Bei mehreren befristeten Verträgen mit demselben Arbeitgeber werden die einzelnen Arbeitseinsätze zusammengezählt, sofern die Unterbrechung dazwischen nicht länger als zwei Wochen dauert. Geplant ist, diese Frist durch eine Verordnungsänderung auf drei Monate zu verlängern. Noch zeichnet sich aber keine Lösung für Personen ab, die mehrere Arbeitseinsätze bei verschiedenen Arbeitgebern leisten.Das BSV wird den Verlauf der Diskussionen und die auf internationaler Ebene eingebrachten Vorschläge bei den nächsten Anpassungen der Sozialversicherungen berücksichtigen. 

Beitrag der Sozialversicherungen

In den Augen der Verfasser stellt die Schweiz ein klassisches Beispiel für «Flexicurity» dar. Warum soll man sich also noch für Flexicurity interessieren? Auch in der Schweiz erfordern sowohl der Arbeitsmarkt als auch die soziale Sicherheit ständige Anpassungen. Der Beitrag der Sozialversicherungen, der Familienpolitik oder der Sozialhilfe darf sich nicht auf Geldleistungen beschränken. Vielmehr muss man sich auch in diesen Gebieten aktiv für die Förderung der Erwerbsbeteiligung einsetzen. Die 5. IV-Revision stellt in dieser Hinsicht einen bedeutenden Kurswechsel dar. In diesem Zusammenhang sind auch die im Rahmen der 11. AHV-Revision vorgeschlagenen Massnahmen hervorzuheben. Die wichtigste Neuerung ist die Einführung des Rechts auf Vorbezug oder Aufschub einer halben Rente, und zwar in der 1. wie in der 2. Säule, damit jene, die das möchten, schrittweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden können. Erwähnenswert sind auch das Finanzhilfeprogramm für familienergänzende Kinderbetreuung und die Pilotprojekte zur Einführung von Kinderbetreuungsgutscheinen als neuem Beitragssystem.

Die besondere Situation von bestimmten sozialen Gruppen mit erschwertem Zugang zur Beschäftigung (z.B. Einelternfamilien, Jugendliche mit eingeschränkter psychischer Gesundheit, Personen ohne berufliche Qualifikation) verlangt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Rolle des Sozialsystems im Hinblick auf die Eingliederung dieser Personen in den Arbeitsmarkt. Das BSV will sich weiterhin für ein flexibleres Sozialsystem und sicherere Beschäftigungsmöglichkeiten für die sozial Schwächsten einsetzen.


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