Was Gotthelf und das Gurnigelbad mit der Grundversorgung zu tun haben

Bern, 01.11.2007 - Moritz Leuenberger beim 24. Bernischen Gemeindepräsidentenanlass zum Thema „Service public – wie viel brauchen wir, wie viel wollen wir?"

1.      Zuhause in der Gemeinde

„Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland". Wer kennt diesen Satz von Jeremias Gotthelf nicht? Und wer zitiert ihn nicht? Doch es ist wie bei einem Ankerbild: Was bei oberflächlicher Betrachtung als konservativ und brav erscheint, entpuppt sich bei gründlicherer Auseinandersetzung als leidenschaftliches Bekenntnis für eine zivilisierte und gerechte Welt.

Ankers Bilder verklären nicht einfach konservatives Bauerntum. Sie sind ein Plädoyer für die zivile Trauung, für den obligatorischen Schulunterricht, für die Chancengleichheit der Frauen und insbesondere für die Demokratie.

Ebenso ist Gotthelfs Satz bei näherer Betrachtung das Modell für einen Staat, der mit seinen Strukturen einen Ausgleich schaffen kann und muss, damit Ungerechtigkeiten und damit Neid und Missgunst vermieden werden, ein Modell, das auch für die Staatengemeinschaft gilt.

Unser Denken und Handeln wird zuhause geprägt, in der Familie, in der Gemeinde. Gotthelf drückt es so aus: „Nicht die Regenten regieren das Land", hat er geschrieben, „sondern Hausväter und Hausmütter tun es." So drängt es sich denn auf, dass ich Sie als das begrüsse, was Sie für unser Land im Grunde genommen alle sind:

Sehr geehrte Hausväter
Sehr geehrte Hausmütter

Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. Die Gemeinde ist die kleinste Zelle in der Demokratie. In jeder Gemeinde, ob sie gross oder klein sei, städtisch oder ländlich, spielt sich dasselbe ab wie auf der kantonalen Ebene, auf der Bundesebene und auch dasselbe wie auf globaler Ebene.

Die Politik in der Gemeinde ist genauso vielschichtig wie die grosse Weltpolitik. Vielleicht sind die Interessengegensätze, die Zielkonflikte in einer Gemeinde übersichtlicher, doch die Grundmuster sind stets dieselben. Und so wie jede Familie, jede Gemeinde im Interesse der eigenen Existenz und Stabilität sich strukturieren und dazu Interessengegensätze ausgleichen muss, so muss dies auch jeder Staat tun und so muss es die Weltgemeinschaft.

2.      Gotthelf und das Gurnigelbad

Der Begriff Service public gab es zu Gotthelfs Zeiten natürlich noch nicht und den „Bund" auch noch nicht. Aber den Grundgedanken des Service public gab es sehr wohl und es gab die Zeitung „Berner Volksfreund". Einer seiner Korrespondenten war Jeremias Gotthelf. In der Ausgabe vom 15. Dezember 1839 schrieb er über das Gurnigelbad:

„Der Gurnigel ist vor allem ein Heilbad für Kranke. Es ist aber ganz besonders das Heilbad für unsere Landleute, arme und reiche. Für diese soll es eingerichtet sein. Die armen sollen unbeschwert, unverstossen für ihr weniges Geld da sein können; die reichen wollen bequem, ungeniert sein, ungespottet, ungehetzt von Kellnern."

Heute würde man sagen: ungehetzt von Fotografen.

Als Gotthelf seinen Artikel publizierte, hatten Basler Investoren das Gurnigelbad bereits gekauft, und der Kanton Bern plante, ihnen zusätzlich ein Waldstück für Erweiterungsbauten zu verkaufen.

„Soll nun dieses Bad sich ganz anders gestalten, vornehmer werden, also auch theurer", warnte Gotthelf im „Berner Volksfreund", „so wird eine sehr grosse Klasse aus dem Gurnigel ganz vertrieben, und die Armen mögen zusehen, wie sie behandelt, ob sie noch geduldet werden. Statt Land abzutreten, möchten wir dem Staate anrathen, die 20 Jucharten einstweilen zu behalten."

3.      Die Grundversorgung ermöglicht Gerechtigkeit

Heute sagen wir: Der gleichberechtigte Zugang aller Menschen zum Gesundheitswesen gehört zur Grundversorgung. Was Gotthelf vor 168 Jahren beim Gurnigelbad der Regierung höflich angeraten hat, ist zum Selbstverständnis des Sozialstaates geworden, - mitunter auch zum Selbstbewusstsein der Bezügerinnen und Bezüger. Ich erhalte fast täglich Reklamationen, etwa:

„Guten Tag Herr Leuenberger, was ist bloss mit der SBB los? Neben Speisewagen mit kläglichem Angebot und Wagenservice - die kommen immer erst kurz bevor ich aussteige - liegt vieles im Argen. 1. Die abgefackten schmutzigen Wagen. 2. Pünktlichkeit. PS: Gestern Nacht wollte ich ein Internet-Ticket lösen. Tote Hose auf dem Internet. Ich bin stinksauer!"

Service public verstehen viele als: „Das müesse sie üs gäh!". Doch Service public hat eine viel tiefere politische Bedeutung. Er ist ein Mittel, Gleichheit und somit auch Gerechtigkeit herzustellen.

Diese Erkenntnis haben wir auch in der Präambel unserer Bundesverfassung. Der Zweckartikel der Bundesverfassung fordert eine „möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern" und sie konkretisiert das in vielen weiteren Artikeln, bei der „Beseitigung von Nachteilen für Behinderte" etwa (Art. 8 Abs. 4) oder bei der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau (Abs. 3), denn - so in der Präambel: „die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen". Eine Gesellschaft ist so stark wie ihr schwächstes Mitglied.

In derselben Bundesverfassung garantieren wir aber auch die Freiheit jedes Einzelnen.

Das führt zu einem Widerspruch, zu einem Zielkonflikt. Freiheit und Gleichheit können nicht beide absolut zugesichert werden. Auch das hat Gotthelf erkannt. „O du Lehre von der persönlichen Freiheit", schrieb er, „wie ähnlich siehst du dem Grundsatz, dass der Stärkere Meister sei!"

Ein Staat, der die Freiheit aller Menschen garantieren will, kommt daher nicht darum herum, sie gleichzeitig einzuschränken. Die absolute Freiheit des einen bedroht die Freiheit des andern.

Heute versuchen deshalb fast alle Staaten, Gleichheit bis zu einem gewissen Level herzustellen. Was darunter ist, bezeichnen wir als Grundversorgung oder in der Schweiz auch als „Service public", wobei die beiden Ausdrücke nicht ganz deckungsgleich sind.

(So wie übrigens auch immer kontrovers ist, was denn service public und was Grundversorgung bedeuten.) In der EU ist die Rede von „Daseinsfürsorge" oder „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse". Das Ziel solcher Sockelleistungen ist in jedem Fall, Ausgleich und damit Gerechtigkeit herzustellen.

Zum Beispiel: Es gibt eine obligatorische Krankenversicherung mit definierten Leistungen für alle. Oberhalb dieses Niveaus herrscht die Freiheit, sich privat für mehr Komfort zu versichern. Oder: Es gibt ein dichtes Netz von öffentlichen Verkehrsmitteln, das allen erlaubt, sich frei zu bewegen. Oberhalb dieses Niveaus herrscht die Freiheit, mit dem Privatauto vorwärts zu kommen.

Die Grundversorgung ist also der realpolitische Kompromiss zwischen der Gleichheit und der Freiheit für alle.

4.  Gleichheit stabilisiert die Gesellschaft

Dieser realpolitische Kompromiss dient nicht nur den benachteiligten Menschen, damit es ihnen dank staatlicher Dienstleistung besser geht, sondern er dient der Stabilisierung der ganzen Gemeinschaft, also der Gemeinde oder dem Staat. Grosse soziale Unterschiede, Armut und Benachteiligung verursachen Neid, Streit und soziale Unruhe. Vermeiden wir solches Gefälle, ermöglichen wir also sozialen Zusammenhalt und schaffen damit solide Verhältnisse.

Das Wort solid ist mit Solidarität verwandt, die gemeinsame Wortwurzel zeigt: Solidarität ist nicht nur barmherzige Einsicht, sondern Stabilisierung der Gesellschaft. Das dient dann auch der Wirtschaft. Sie ist auf stabile soziale Verhältnisse angewiesen, anders kann sie nicht gedeihen.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit kurz auf die Bedeutung der Dienstleistungen der Gemeinde, der Gemeindeverwaltung und der Gemeindeinfrastruktur im Allgemeinen eingehen. Wir wissen, dass sich die Wirtschaft in den Oststaaten erst in jenen Regionen entwickeln konnte, wo eine Gemeindeinfrastruktur aufgebaut war. Darum gehörten Investitionen in die kommunalen Strukturen zu den ersten Handlungen, welche unter Bundeskanzler Kohl in der ehemaligen DDR getätigt wurden.

Weil es um die Stabilität der Gesellschaft geht, steht die Grundversorgung gerade bei den wichtigsten Bereichen nicht einfach nur zur Verfügung. Sie muss auch in Anspruch genommen werden:

  • Der Primarschulunterricht ist obligatorisch. Alle Kinder sollen eine Basisausbildung bekommen, damit sie aktiv an der Demokratie (und am Arbeitsmarkt) teilhaben können. Es darf niemand die Freiheit haben, seine Kinder nicht zur Schule zu schicken.
  • Obligatorisch sind ebenfalls die allgemeine Krankenversicherung, die AHV, die Arbeitslosenversicherung, die IV. Denn es geht nicht nur um individuelle Rechte, es geht auch um den Zustand einer ganzen Gesellschaft. Die Gemeinschaft darf niemanden fallen lassen, umgekehrt darf niemand die Freiheit haben, ein menschenunwürdiges Leben zu führen, weil dies die ganze Gemeinschaft infrage stellen würde.

5. Umfang und Form des Service public

Die Grundversorgung oder der Service public werden als solche kaum bestritten. Heftige Debatten entzünden sich aber an der Frage, wie gross der Umfang sein solle und wie sie am besten zu organisieren sei. Sie widmen Ihre heutige Tagung ja dieser Frage.

Zum Umfang der Grundversorgung: Wir führen homerische Diskussionen über das Angebot der Post, über das Bahnnetz, über den Umfang der Grundleistungen der Krankenkassen etc.

Diese Diskussionen zeigen: Die Ausgestaltung der Grundversorgung ist nie ein für alle Mal hergestellt, sie ist nicht statisch. Mit der Gesellschaft wandeln sich auch die Bedürfnisse, auch Chancengleichheit muss deswegen stets neu definiert werden. Das Existenzminimum war einst ein Stück Brot, ein Tisch, ein Stuhl und ein Bett.

Heute gehört dazu ebenso selbstverständlich die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben, also Kino- und Theaterbesuche, Telefon und Internetzugang.

  •  Je höher also der durchschnittliche Lebensstandard, desto höher auch die Grundversorgung;
  • Je höher die genutzten Freiheiten oberhalb des Grundversorgungs-Levels, desto höher auch der Anreiz, sich mit diesen Spitzen zu vergleichen und sich ihnen zu nähern.
  • Zum Beispiel ADSL: Der Bundesrat hat diese Technologie in die Grundversorgung aufgenommen, so dass sie auch ländlichen Gebieten zugute kommt, weil sie in weiten Kreisen und in Städten zum Durchschnitt gehört.
  • Die Übertragung eines wichtigen Fussballspieles gehört zur Grundversorgung. Es gibt eine Liste von „Ereignissen von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung" die allen zugänglich sein müssen. Das Fussballendspiel der WM zB darf nicht nur via Pay-TV verbreitet werden.
  • Es gibt parlamentarische Vorstösse, wonach die Versorgung mit Handyantennen entlang den Autobahnen und Zuglinien zur Grundversorgung gehören muss.
  • Zeitungstransporte: Der Bundesrat fand, sie gehörten nicht zur Grundversorgung. Das Parlament war anderer Meinung. Der Kompromiss: die grossen Mitgliederzeitungen, zB COOP- und Migros-Zeitungen, profitieren nicht von der Vergünstigung, Regionalzeitungen und kleine Mitgliederzeitungen hingegen schon.
  • Oder die Flugverbindung ins Tessin: Der Bundesrat hat auch darüber diskutiert und ist zum Schluss gekommen: Wenn der Markt die Fluglinie Agno - Bern nicht mehr garantiert, wird der Bund mitfinanzieren müssen.

Oder E - Goverment: Hier ist die Schweiz im internationalen Vergleich am Schluss aller Ratings. Ich habe nach den Gründen dieser erstaunlichen Bewertung geforscht. Eine Erklärung ist, dass die Leistungen der Gemeindem auf die klassische Weise, also die Bedienung am Schalter oder die Abfertigung von Gesuchen per Post, derart effizient sind, dass viele Einwohner das Bedürfnis nach elektronischem Ersatz offenbar gar nicht haben.

Die andere Kernfrage ist, wie die Grundversorgung organisiert werden soll: Muss der Staat sie selbst erbringen? Oder reicht es, wenn er dafür sorgt, dass sie erbracht wird?

Sie führen diese Diskussion im Kanton Bern unter anderem am Beispiel der Frage, ob die BKW zwingend der öffentlichen Hand gehören muss, damit die Stromversorgung gewährleistet ist. Im UVEK stellt sich dieselbe Frage bei der Swisscom, es kommen auch immer wieder Forderungen, die Post oder die Suva zu privatisieren. Sie kennen auch die Kontroverse in Deutschland um den Börsengang der Deutschen Bahn.

Auch diese Diskussionen und die dabei gefundenen Lösungen schwanken mit den politischen Moden, sind also immer auch von ideologischen Überzeugungen geprägt, welche zwischen den beiden Polen „starker Staat" und „freier Markt" hin und her wogen. Es gibt auch kulturelle Unterschiede zwischen der Romandie und der deutschsprachigen Schweiz, zwischen Frankreich und Grossbritannien.

Wenn dabei um Monopol, Liberalisierung, Privatisierung als solche gestritten wird, ist es eine ideologische Debatte. Doch die Kernfrage muss immer sein: Wie wird die GV am besten erbracht. Das kann auch der Markt sein: Essen, Trinken, Wohnen gehört zur Grundversorgung. Der Staat greift mit Regeln über das Existenzminimum erst ein, wenn der Grundanspruch nicht mehr für alle gewährleistet ist.

Der Markt kann es durchaus, gelegentlich macht er sogar etwas, was der Staat von sich aus nicht täte. Diese Tagung zum Beispiel organisieren zwei Privatunternehmen. In anderen Fällen ist es aber sinnvoller, einen Auftrag beim Staat zu behalten, statt ihn auszulagern.

Wenn wir dem Markt eine Aufgabe in der Grundversorgung anvertrauen, braucht es in der Regel flankierende Massnahmen, die dafür sorgen, dass der Wettbewerb tatsächlich funktioniert und die Dienstleistungen in der nötigen Qualität erbracht werden. Dazu müssen Aufsichtsorgane geschaffen werden, und wir erleben es im Telekombereich, aber auch im Postmarkt, bei den Bahnen: Die Regulationsbehörden sind gross und teuer.

6. Vom Vaterland zu Mutter Erde

Die Erkenntnis, wonach allzu grosse Unterschiede Instabilität schaffen und somit auch die Privilegierten, auch die Starken gefährden, gilt für den ganzen Globus. Ein Blick nach Afrika, Asien, Südamerika, auf die sozialen Unterschiede, auf die Armut und die Benachteiligungen in anderen Regionen der Welt zeigt dies, und ein zweiter Blick auf die Flüchtlingsströme, die auch zu uns nach Europa führen, zeigt dies ebenfalls. Das Bemühen um weltweite Grundversorgung ist heute ein Imperativ.

Wasser für alle, Brot für alle, Bildung für alle, Energie für alle, Telekommunikation für alle, Gesundheitsversorgung für alle: das sind nicht nur moralische Verpflichtungen. Wir brauchen die Grundversorgung in armen Kontinenten auch für die Stabilität unserer eigenen Gesellschaft. Die Geschichte lehrt und die Gegenwart bestätigt: Ökonomische Ungleichheiten führen zu Spannungen, zu Terrorismus und Krieg. Über die Migration finden sie den Weg zu uns.

Auch deswegen gibt es eine UNO-Charta, auch deswegen gibt es die Millennium Global Goals zur Bekämpfung der Armut und auch deswegen gibt es ein Kyoto-Protokoll und die Bemühungen um seine Fortsetzung, damit der Klimawandel nicht weltweites Elend und Migration bewirkt.

Der Einsatz in internationalen Organisationen wird genährt aus den Erfahrungen und Leidenschaften, die alle zuhause in ihrem Staat und in ihren Gemeinden geschärft haben. Unzählige Citoyennes und Citoyens arbeiten am Gleichgewicht der Gemeinschaft Tag für Tag mit ihrem freiwilligen Einsatz in Vereinen, im Sport und in kulturellen Einrichtungen, bei der Feuerwehr, in der Politik, in der Nachbarschaftshilfe. Hier, im Hause der Gemeinde, bildet sich das Fundament der Solidarität, hier wird sie handfest gelebt und in die Welt getragen.

In der Gemeinde muss beginnen, was leuchten soll in aller Welt.


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