1.-August-Rede 2007 auf dem Landsgemeindeplatz Zug

Bern, 03.08.2007 - Wenn Träume Wirklichkeit werden

Am heutigen 1. August vor genau 716 Jahren trafen sich auf dem Rütli Vertreter der drei Urkantone unter der Führung von drei starken Männern – von Werner Stauffa­cher, Walter Fürst und Arnold vom Melchthal. Sie haben dort bei Nacht und Nebel gemeinsam beraten, wie sie ihre Heimat von der Knechtschaft eines Tyrannen be­freien konnten. Sie hatten einen Traum, eine Vision, die Vision eines Lebens in Frei­heit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Sie schworen, gemeinsam für diese Vision zu kämpfen, und sicherten einander Hilfe und Unterstützung zu. Diesen ersten Eidgenossen verdanken wir unsere demokratische Kultur, die Art des Zusammenle­bens und unseren Nationalfeiertag. 

Zum Erfolg im Kampf gegen den habsburgischen Tyrannen hat auch Wilhelm Tell beigetragen, ein Einzelkämpfer zwar, der sich aber, im Interesse des Wohles Aller, den Eidgenossen mit den folgenden Worten zur Verfügung stellte „bedürft ihr meiner zu  bestimmter Tat, dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.“

Im Verlaufe der Geschichte unseres Landes haben immer wieder entschlossene Frauen und Männer gemeinsam für Visionen gekämpft und damit Grossartiges ge­leistet. Denken wir an die jüngsten Erfolge zweier Schweizer, mit denen diese die Weltelite überwunden haben: Ernesto Bertarellis Alinghi-Crew und Roger Federer. Wir sind zu Recht stolz auf die Siege unserer Landsleute, mit denen wir uns gerne als Schweizerinnen und Schweizer identifizieren. Sie sind leuchtende Beispiele, sie sind Vorbilder dafür, dass sich mit Entschlossenheit, Hartnäckigkeit, Vertrauen in sich und ihr Team Visionen verwirklichen lassen. 

Die Eidgenossen der Urkantone sowie die Alinghi- und Federer-Crew hatten ein Ziel vor Augen und sie waren vom Glauben beseelt, dass ungeahnte Dinge möglich sind, dass Visionen und Träume Wirklichkeit werden können. Sie vertrauten einander im Bewusstsein, dass sie nur gemeinsam stark sind. Sie waren und sind aber auch rea­listisch genug, zu wissen, dass der Weg zum Erfolg mühselig und lang ist. "…. Die Zeit bringt Rat. Erwartet's mit Geduld…" sagt in Schillers "Wilhelm Tell" der Schwyzer Itel Reding zu seinen Kollegen auf dem Rütli.  

  • Genau darüber möchte ich heute zu Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, spre­chen: nämlich von Glauben und der Zuversicht, dass ungeahnte Dinge möglich und dass Träume verwirklichbar sind;
  • vom gegenseitigen Vertrauen und vom Bewusstsein, dass wir nur gemeinsam stark sind und schliesslich·       
  • von der Einsicht, dass man trotz Träumen von der Realität ausgehen muss und es nicht nur Entschlossenheit, sondern auch Zeit und Geduld braucht, Ziele zu er­reichen.

  

Von der Kraft der Träume

 „Ja, man muss seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt keinen immerwährenden Traum“, hat Hermann Hesse geschrieben. Die ersten Eidgenos­sen, die Alinghi-Crew und Roger Federer haben ihren Traum gefunden, einen Traum, eine Vision, die für sie zur Mission wurde.  

Auch die Schweiz hat ihre Vision. Sie ist im Zweckartikel der Bundesverfassung um­schrieben:  "Die Schweizerische Eidgenossenschaft fördert die gemeinsame Wohl­fahrt, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes. Sie sorgt für Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern….". Diese Vision zu verwirkli­chen ist nicht nur die vornehme Aufgabe der Politikerinnen und Politiker, sondern aller Bürgerinnen und Bürger des Staates. Wir alle haben den verfassungsmässigen Auftrag, im Rahmen unserer Möglichkeiten zur Verwirklichung der staatlichen Vision beizutragen. "Jede Person nimmt Verantwortung für sich selbst wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben des Staates bei", heisst es im Artikel 6. Wenn alle davon überzeugt und zur Mitwirkung bereit sind, dann „…wird der Weg leicht“. Die Bundesverfassung gibt uns nicht nur Pflichten sondern auch Rechte und Chancen, vor allem die Chance, unseren eigenen Traum zu finden und zu verwirkli­chen und sie garantiert die dazu nötigen Rahmenbedingungen.

Hermann Hesse weist im zweiten Teil seiner Aussage darauf hin, dass es keinen immerwährenden Traum gibt. Er will damit sagen, dass ein Traum, eine Vision nur dann Sinn macht, wenn das notwendige Potenzial für ihre Verwirklichung und der unerschütterliche Wille vorhanden sind, die Vision umzusetzen. Es braucht beides: Eine realistische Einschätzung, was möglich ist, und die Vorstellungskraft, was sein soll. Es ist eine vielgehörte Klage, dass wir Schweizer uns nur allzu oft durch Klein­mut, Mangel an Selbstbewusstsein, Leistungswillen und Risikobereitschaft hervortun würden. Ich sehe das nicht so: Der Schweiz geht es gut und es geht ihr so gut, weil an vielen Orten, in allen Bereichen – in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Bildung, in Kultur und im sozialen Umfeld - und von allen Generationen mit Innova­tion, Tatkraft und Risikobereitschaft Hervorragendes geleistet wird.

 

Gemeinsam sind wir stark 

Werner Stauffacher, Walter Fürst, Arnold vom Melchthal und ihre Verbündeten haben auf dem Rütli geschworen, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam ihre Vision zu verwirklichen. Sie waren sich bewusst, dass sie nur gemeinsam stark ge­nug sind. Sie waren bereit, einander Vertrauen zu schenken, auch wenn sie nicht in allen Teilen die gleiche Meinung hatten. Sie waren bereit, auf einander Rücksicht zu nehmen und sich zu achten. Indem sie sich Vertrauen, Rücksichtnahme und Achtung schenkten, haben sie auch Vertrauen, Rücksichtnahme und Achtung erfahren. Auf dieser Erfahrung beruht die politische Kultur unseres Landes. Zu dieser Kultur müs­sen wir Sorge tragen. Die Willensnation Schweiz braucht alle – die Mehrheiten und die Minderheiten, die Rechten und die Linken, die Starken und die Schwachen. Ich bin überzeugt, dass die Schweiz auch in Zukunft erfolgreich sein wird, wenn alle be­reit sind, diese Werte weiterhin hochzuhalten.  

Ich bin mir bewusst, dass der Ausgleich zwischen den verschiedenen Meinungen, Interessen und legitimen Bedürfnissen in jeder Gemeinschaft schwierig ist. Das gilt für die Familie genauso wie für den Staat. Was den Staat betrifft, haben die Gründer unseres Bundesstaates diesen Interessenausgleich auf eine einzigartige Weise gere­gelt. Sie haben 1848 politische Institutionen geschaffen, die diesen Ausgleich ermöglichen: den Ausgleich zwischen den verschiedenen Kulturen unseres Landes, den Ausgleich zwischen den Mehr- und Minderheiten, den Ausgleich zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen den Kantonen und Gemeinden. Jedem Glied unseres Staates ist es nach wie vor möglich, seine Eigenheiten beizubehalten und doch zu einem gemeinsamen Ganzen beizutragen. Und jeder weiss, dass er manchmal bei der Mehrheit, manchmal aber auch bei der Minderheit ist. Auch das macht die Stabi­lität und damit die Stärke unseres Landes aus. 

 

Vom Weg zum Ziel 

Hermann Hesse lässt in seinem Ausspruch schliesslich durchblicken, dass der Weg leicht sei, wenn man nur seinen Traum gefunden hat. Heisst das auch, dass der Weg kurz sei? Ich denke, dass Hermann Hesse sehr wohl wusste, dass es Geduld, Aus­dauer und Zeit braucht, seinen Traum zu verwirklichen. Die Zeit ist nun aber im glo­balisierten, mit allen erdenklichen Kommunikationsmitteln vernetzten und vom Kon­sum geprägten Teil der Welt ein knappes Gut geworden - auch in die Schweiz. Alles muss sofort geschehen und sofort erreicht werden. Die Schweiz ist bekannt für ihre Uhren, doch ist sie es auch für den sinnvollen Umgang mit der Zeit? Setzen wir ge­nügend Zeit ein für das Nachdenken, für das Hinterfragen und Ausloten von Möglich­keiten? Setzen wir genügend Zeit ein für die Familie, die Pflege der Gemeinschaft, für die echte Erholung? 

Zeit zu haben für das gemeinschaftliche Engagement ist auch Grundlage für unsere direkte Demokratie. Sie lebt davon, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger die Zeit für ein politisches und gesellschaftliches Engagement nehmen. Die direkte Demokratie braucht aber nicht nur die Zeit der Bürgerinnen und Bürger, sie braucht auch Zeit, um gemeinsam demokratische Lösungen zu finden, um alle Beteiligten auf dem ge­meinsamen Weg zum Ziel zu führen. Die Kunst der Demokratie besteht darin, den richtigen Weg und das richtige Tempo zu finden - ohne dabei das Ziel aus den Au­gen zu verlieren. 

Wenn wir für die Erarbeitung einer Lösung die nötige Zeit einräumen, tragen wir dazu bei, dass einmal beschlossene Regelungen von Dauer und dass alle Beteiligten da­von überzeugt sind, dass ihre Befolgung richtig ist. Von dieser Rechtsüberzeugung bezieht der Staat seine Legitimität und die Gesellschaft die Grundlagen des Zusam­menlebens. Auch damit müssen wir sorgfältig umgehen. Wir dürfen die Grundwerte unseres demokratischen Rechtsstaates und seine Institutionen nicht mutwillig ge­fährden, etwa durch Verhöhnung oder durch einen politischen Schlagabtausch, in­dem der politische Gegner zum Feind abgestempelt und ihm Unfähigkeit und schlechte Absicht in die Schuhe geschoben wird, nur um sich damit selbst zu profilie­ren – vermeintlich zu profilieren. Ich bin sicher, dass sich die Wählerinnen und Wäh­ler damit nicht ködern lassen und aufgrund von sachlichen Kriterien entscheiden. Die Wählerinnen und Wähler werden dies auch bei den National- und Ständeratswahlen vom kommenden Herbst tun.

 

Die Regierung  

Ich habe, sehr verehrte Damen und Herren, von Vorbildern gesprochen. Ein Vorbild für mich ist auch „Die Regierung“. Damit meine ich für einmal nicht den Bundesrat, sondern die Künstlergruppe, die wir im Anschluss an meine Ansprache hören dürfen. Die Regierung – die mich schon wegen dem bedeutungsvollen Namen fasziniert - verkörpert auf vorbildliche Weise das, was ich Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, auf den Weg mitgeben möchte. Dank dem unerschütterlichen Glauben von 7 Personen – eben den Regierungsmitgliedern – ist etwas entstanden, was niemand vorher erahnte: Es wurden grosse Talente erkannt und entwickelt – gemeinsam, im gegenseitigen Vertrauen auf die Stärken und in der Akzeptanz der Schwächen eines jeden Einzelnen. Die Regierungsmitglieder bewiesen, dass mit Geduld, Achtsamkeit, Achtung und Toleranz, aber auch mit Innovationskraft, Unvoreingenommenheit und Risikobereitschaft grosse Leistungen möglich sind. Alle Beteiligten waren bereit, sich im Interesse des Ganzen immer wieder zurückzunehmen Und sie nahmen sich die Zeit, alle aufs Schiff zu bringen, das von Kapitän Heinz Büchel und seiner starken Frau mit Bedacht, Sorgfalt und Gemeinsinn zielstrebig gelenkt wird. Die Regierung ist damit zu jener „verschorenen“ Gemeinschaft geworden, welche die Eidgenossen vor 716 Jahren auf dem Rütli vor Augen hatten. Vor dieser eindrücklichen Leistung habe ich eine grosse Achtung. "Die Regierung" ist nicht nur für mich ein Vorbild, sie ist es für alle, die ihre Musik und Schauspielkunst miterleben durften – und vielleicht könnte sie es auch sein für "politische" Regierungen, die ja auch vom Prinzip einer solchen Kollegialität ausgehen!   

Nun aber: Bühne frei für „Die Regierung“ und ihre Kunst. Ich wünsche Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, viel Vergnügen und eine schönes 1. August-Fest.

 


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