Kunstgrenze - Aufbruch zu einer neuen Grenzkultur

Bern, 30.04.2007 - Ansprache von Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz zur Einweihung der Kunstgrenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz am 28. April 2007.

Es gilt das gesprochene Wort! 

Sehr geehrte Herren Stadtväter

Liebe Landsleute und liebe Nachbarn 

Ich danke Ihnen von Herzen für die freundliche Einladung und freue mich, mit Ihnen in der ganzen Pracht Ihrer herrlichen Bodenseelandschaft ein Werk zu feiern, das in einzigartiger Weise eine Grenze setzt und gleichzeitig Grenzen sprengt. Ein Werk auch, welches das Verhältnis des Menschen zur Grenze in besonderer Weise bereichert und im wahrsten Sinne des Wortes kultiviert.

Das Wort Grenze weckt in uns die unterschiedlichsten Assoziationen. Der Mensch liebt seine Grenzen. Er versucht ständig, in ihre Nähe zu kommen und empfindet Hochgefühle, wenn er dorthin gelangt. Und er hasst sie, wenn es ihm nicht gelingt, sie zu überwinden, und ihm die Grenze zum dumpfen Käfig wird. Die ganze Geschichte der Menschheit ist durchzogen vom Traum der Entgrenzung, von Ikarus, dem die umgeschnallten Wachsflügel zerschmolzen, als er in seinem Grenzüberschreitungstaumel sich zu hoch gegen die Sonne aufschwang, bis hin zu Einstein, der die Grenzen von Zeit und Raum durchbrach.

Der Wille zur Entgrenzung ist aber nur ein Aspekt. Ein anderer ist: Wir brauchen Grenzen. Eine Gesellschaft ohne Grenzen und ohne Respektierung der Grenzen ist nicht lebensfähig. Eine symbiotische Partnerschaft, die Grenzen nicht akzeptiert, funktioniert auf Dauer nicht. Eine Familie, in der dem Einzelnen keine klaren Grenzen gesetzt werden, gerät in ein zerstörerisches Chaos, das die unbegrenzte Freiheit zum Gefängnis macht. Das genau Gleiche gilt für die Gemeinde, den Staat und die Völkergemeinschaft.

Unsere im deutschen Grundgesetz und in der schweizerischen Verfassung verbrieften Grundfreiheiten sind denn auch zu Recht begrenzt. Wir können sie nur so weit und so lange wahrnehmen, als die Grundfreiheiten anderer dadurch nicht beeinträchtigt werden.

Grenzen und der gute Umgang mit ihnen sind also nichts Einengendes, sondern etwas höchst Vitales. Grenzen schaffen Raum für Individualität und die freie Entwicklung identitätsstiftender Kräfte.

Allerdings ist dieser Freiraum nicht billig zu haben.  Er setzt Spielregeln voraus, die von den Beteiligten gefunden und eingehalten werden müssen. Wie schwierig das ist, zeigen die Staatsgrenzen. Sie sind, wie die Geschichte eindrücklich zeigt, sehr veränderlich, und den meisten Veränderungen gingen blutige Konflikte voraus. Wo der Umgang mit Grenzen nicht gelingt, nehmen Staatsgrenzen eine feindselige Form an, sie werden bewaffnet, verbunkert, vermint, sie verdichten sich zu unüberwindlichen Mauern und Todeszonen, sie werden zur Bankrotterklärung menschlicher Vernunft. Europa ist durchzogen mit blutgetränkten Staatsgrenzen, an denen unendlich viele Hoffnungen zerbrachen, Familien auseinander gerissen wurden und menschliche Tragödien sich in erschreckender Dichte aneinanderreihten.  

Auf die Trostlosigkeit und die Sinnlosigkeit, zu der ein lebensfeindlicher Umgang mit Grenzen geführt hat und immer noch führt, ist die Kunstgrenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen, zwischen Deutschland und der Schweiz,  zwischen  der Europäischen Union und der Schweiz   eine höchst lebensvolle und begeisternde Antwort. Wo noch vor kurzem ein Drahtverhau an die traurige Geschichte europäischer Grenzen erinnerte, steht jetzt eine Serenität und Vitalität ausstrahlende Reihe von Kunstwerken. Und es sind nicht irgendwelche Kunstwerke, sondern ins Abstrakte gesteigerte Sinnbilder, welche zentrale Aspekte menschlichen Seins darstellen. Das militärische „Halt, zurück!“ hat sich zur freundlichen Einladung verwandelt. Diese Kunstgrenze betont nicht das Trennende, sie feiert vielmehr  gute Nachbarschaft.

Vor der Kunst sind wir alle gleich, aber Kunst ist alles Andere als gleichmacherisch. Jede Person, die ein Kunstwerk betrachtet, schafft es neu. Sie sieht es durch ihr eigenes, einzigartiges Temperament, sie schaut es mit einem Blick, der angereichert ist durch ihre eigene, unverwechselbare Geschichte und eine Lebenserfahrung, wie es keine zweite gibt. So entsteht beim Betrachten eines Kunstwerks in jedem Menschen ein ebenso eigenständiges, unverwechselbares Kunstwerk, wie der betrachtende Mensch selbst unverwechselbar ist.

Wer Kunst betrachtet, setzt sich immer etwas Neuem aus, das vielleicht nicht den gewohnten Denkbahnen und Vorstellungen entspricht, und das dazu zwingt, die eigenen Grenzen zu überwinden. Kunst verlangt, dass wir Dinge nicht aus der gewohnten, sondern aus neuen Perspektiven betrachten, dass wir unseren Standort zugunsten eines anderen verlassen, ganz nach dem so ungeheuer wichtigen und richtigen Satz: Der Kopf denkt anders, je nachdem, wo die Füsse stehen. Damit gibt uns Kunst die Möglichkeit, die Begegnung mit dem Anderen, das uns immer etwas Angst macht, zu üben, auch die Begegnung  mit Menschen anderer Staatsangehörigkeit, anderer Kultur oder anderer Religion.

Das ist das, was mich an der Kunstgrenze so begeistert, dass sie aus einem Niemandsland einen Raum der Begegnung schafft. Sie hemmt die Dynamik des Lebens nicht, sondern ist vielmehr ein Fanal des Aufbruchs, eines Aufbruch, der zur Entwicklung einer neuen, Frieden stiftenden Grenzkultur führen soll.  Insofern ist die Kunstgrenze ein Symbol des neuen, friedlichen Europas. Wir befinden uns hier auch an der Grenze zwischen  der Europäischen Union und der Schweiz, und ich nehme diese Grenze in ihrer Ausprägung als Kunstgrenze  als ein gutes Omen dafür, dass es der EU und der Schweiz gelingen wird, auch in Zukunft ihre Beziehungen offen, respektvoll und fruchtbar zu gestalten und den Dialog zu pflegen.  Für diese Kunstgrenze, sehr verehrten Anwesende, für dieses Zeichen anregender nachbarschaftlicher Begegnungen möchte ich herzlich danken:

  • Kreuzlingen und Konstanz und ihrer Bevölkerung, die einen Boden guter Nachbarschaft  geschaffen haben, auf dem  ein solches Projekt gedeihen konnte,
  • Oberbürgermeister Horst Frank und Stadtammann Josef Bieri, die in grossem Verantwortungsbewusstsein in beispielhafter Weise gutes Einvernehmen vorgelebt haben,
  • und schliesslich dem Künstler Johannes Dörflinger, der mit seinem Werk ein weithin sichtbares und weithin wirksames Zeichen des Aufbruchs geschaffen hat.

Ich glaube, Deutschland und die Schweiz dürfen stolz darauf sein, dass zwei ihrer Städte eine Grenze geschaffen haben, die nicht trennt, sondern verbindet, die nicht diktiert, sondern anregt. Mögen diesem einzigartigen Beispiel viele andere, überall in der Welt, folgen und dazu beitragen, dass eine neue Grenzkultur entsteht, die mehr für den Frieden leistet als jede waffenstrotzende Befestigung.

 


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