Was kann der Staat? Was soll der Staat? Der Beitrag des Bundes zur wachsenden Schweiz

Bern, 20.01.2007 - Referat von Bundesrat Hans-Rudolf Merz an der Delegiertenversammung der FDP Schweiz vom 20. Januar 2007 in Genf

Es gilt das gesprochene Wort 

 

Von wem könnte folgender Rede-Ausschnitt stammen?

„Der Staat sollte sich auf Kernaufgaben konzentrieren und dem Markt so viel wie möglich überlassen. Regulierungen oder sonstige Eingriffe sollten auf Bereiche begrenzt werden, wo klares Marktversagen erkennbar ist. Vor diesem Hintergrund gilt: mehr Markt als bisher, aber mit einer starken Rolle des Staates! Märkte brauchen faire Regeln und einen klaren Rahmen, damit sie funktionieren. Beides setzt der Staat."

Das Zitat stammt vom deutschen Finanzminister Peer Steinbrück; dieser gehört ebenso der SPD an wie Vizekanzler Franz Müntefering, der sich für das Rentenalter 67 in Deutschland ausspricht. In der gleichen Rede vernehmen wir die beiden folgenden Sätze:

„Es wird keine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte geben ohne Wachstum; es gibt aber auch kein nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben."

Was ist hier geschehen? Wurden Texte verwechselt? Oder hat jemand Zeitalter ausgetauscht?

Nein. Tatsache ist vielmehr: nach dem Auf‑und‑Ab, nach Boom, Ölkrisen und Wirrungen in den Nachkriegsjahren kehren immer mehr Staaten und Regierungen zu den Wurzeln ihrer Erfolge zurück, nämlich zur sozialen Marktwirtschaft. Also zu unserem freisinnigen Konzept, dem wir seit jeher verbunden sind. Die deutschen Minister bekräftigen, was Volkswirtschafter wie Röpke, Müller-Armack oder Eucken entworfen und Politiker wie Ludwig Erhard verwirklicht haben.

Der Wettbewerb ist das Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung. Er beruht

  • erstens auf Prinzipien wie Privateigentum, Vertragsfreiheit, freiem Marktzugang und Preiskonkurrenz.
  • Die Marktwirtschaft verlangt zweitens aber auch nach einem starken Staat. Stärke und Schlankheit schliessen sich nicht aus. Im Gegenteil. Angesichts der globalisierten Welt, in welcher sich Gesellschaft, Wissenschaft und Politik nicht immer in der gleichen Geschwindigkeit bewegen, muss der Staat eine klare Rolle spielen. Er muss Gesetzgeber und Regulator sein und er muss hiezu die rationellsten Methoden finden. Soziale Marktwirtschaft ist ohne die Ordnungskraft des Staates nicht möglich.
  • Und schliesslich drittens muss die Marktwirtschaft sozial verpflichtet sein. Diese Forderungen widersprechen sich nicht, sie ergänzen sich.

Derweil werden Liberalismus und soziale Marktwirtschaft noch immer - aber weniger laut als auch schon - verteufelt. Semantisch geschieht dies, indem man ihnen den Mantel Neoliberalismus' umhängt, indem man von Wettbewerb, Preisstabilität und Wirtschaftsfreiheiten zynisch als der heiligen Dreifaltigkeit des Neoliberalismus spricht und indem man öffentliche Dienstleistungen als binnenmarktgefährdet erklärt. Eine auf Freiheiten und Tugenden beruhende Lebensordnung und eine auf dem Markt basierende Versorgung wird in die Rolle des Bösen verbannt. Der Sozialstaat steht für die Rolle des Guten.

Die neuesten Aussagen prominenter deutscher Sozialdemokraten lassen hoffen. Sie haben erkannt, dass das Land nach Jahren schwachen Wachstums wieder wachsen muss und sie wissen. dass ein Zuviel an Wohlfahrtsstaat in den Kollektivismus führt.

Es gibt jedoch noch eine ganz andere Ermunterung zum Wachstum, nämlich die Tatsache, dass Wachstum ein Naturprinzip ist. Hinter dem Arten‑ und Formenreichtum der Blüten verbirgt sich dieses universelle Prinzip. Wachstum in der Natur ist das Zusammenspiel vom genetischen Netzwerk und äusseren Signalen (wie Licht und Temperatur). Die Wahl der Signale und Anreize ist entscheidend für das Auslösen und für die Qualität des Wachstums.

Wo solche Anreize fehlen, findet Wachstum trotzdem statt. Nur ist es dann zu schwach. Wo solche Anreize zu stark sind, kommt es demgegenüber zu Wucher oder zu Missbildungen.

Wozu diese Naturkunde‑Lektion? Was bedeuten diese Thesen auf die Volkswirtschaft übertragen?

Unser Liberalismus lebt von Anreizen. Er gibt uns Menschen mit anderen Worten die Motive für unsere Entfaltung. das heisst für den Beruf, die Familie, die Kultur, das Sozialverhalten.

Unser Liberalismus hat eine Struktur, das heisst der Staat muss stark und gleichzeitig schlank sein. Nur als Klammerbemerkung: der demokratische Rechtsstaat ist das Resultat des Liberalismus.

Unser Liberalismus lebt von Signalen, das heisst von unseren Tugenden, die wir leben. Diese sind Eigenverantwortung, Toleranz, Augenmass, Gemeinsinn und Fortschritt.

Wachstum ist also sowohl ein Erkenntnis‑ als auch ein Naturprinzip. Beide Prinzipien sind auf das Engste mit der freiheitlichen, liberalen Lebensordnung verbunden.

Wenn Wachstum offensichtlich in der Natur bei guten Anreizen, Strukturen und Signalen besser gedeiht, warum soll dies nicht auch für den Menschen gelten? Unsere liberale These lautet, dass Menschen und mit ihnen die Wirtschaft durch ein gutes Umfeld zu eigenem Wachstum animiert werden können. Der Staat soll jedoch das Wachstum nicht anstelle des Menschen selber organisieren und generieren, weil es dann - um beim Bild aus der Natur zu bleiben - zu schwach ausfällt oder Wucherungen oder Missbildungen provoziert. Eine solche könnte die Einheitskasse werden.

Stattdessen soll und kann der Staat:

  • Erstens Anreize schaffen (wie die Wiedereingliederungsmassnahmen der 5. IV-Revision und Reformen zugunsten der älteren Arbeitnehmenden, damit diese im Arbeitsprozess bleiben).
  • Zweitens Fehlanreize eliminieren (wie bei den Finanzflüssen im Staat dank NFA oder beim Abbau der Heiratsstrafe).
  • Drittens Regulierungen vereinfachen (damit Gewerbler, Bürgerinnen und Bürger den Verkehr mit den Behörden möglichst ohne fremde Hilfe bewältigen können).
  • Viertens formelle (nicht jedoch materielle) Harmonisierungen vornehmen (z.B. bei Bestimmungen zum Bau oder bei Rechtsverfahren).
  • Fünftens den Wettbewerb beaufsichtigen (das setzt Signale an die Akteure, dass sich Schweiss lohnen kann. Die schwarzen Schafe werden aus dem Verkehr gezogen.).

Staatliches Wachstum kann es punkto Nachhaltigkeit nicht mit dem Wirtschaftswachstum aufnehmen. Denn staatliche Investitionen erzielen im Verhältnis zu privaten nicht durchwegs dieselben volkswirtschaftlichen Effekte, auch wenn das Gegenteil immer wieder beschworen wird. In letzter Zeit wurden Studien vorgestellt,

  • wonach jeder investierte Franken in Sportstadien 8 weitere Franken an Investitionen auslöse;
  • oder wonach jeder Franken für die Entwicklungszusammen-arbeit das BIP allein unseres Landes um das anderthalbfache steigere;
  • oder wonach 55 Mio. Franken von EnergieSchweiz ein Investitionsvolumen von 800 Mio. Fr. auslösen; oder
  • oder wonach Schweiz Tourismus pro Marketingfranken 42Franken Umsatz erziele;
  • oder wonach pro Franken für Sozialleistungen zusätzlich zur vom Bedürftigen empfangenen Leistung bis 50 Rappen an die Gesellschaft zurückfliesse.
  • Dieselben Effekte werden bei der Standortförderung, der Gesundheitsprävention oder beim Verkehr noch und noch versprochen.

Man kann mir nicht weiss machen, dass es so etwas wie ein staatliches Perpetuum mobile gebe. Die wunderbare Geldvermehrung ohne Konsequenzen hat keine Notenpresse der Nationalbank geschafft, genauso wenig kann dies über Staatsausgaben erreicht werden.

Der Staat darf dem Volk und der Wirtschaft nicht zu viele Mittel entziehen, sondern diese sind bei den Akteuren zu belassen, die ja im Wettbewerb stehen und die bei geringer Steuerlast über längere Spiesse verfügen. Dies bedeutet auch, dass der Staat nicht alles kann und dass er den Mut zur Lücke haben muss.

Wachstum heisst nicht primär Geldausgeben. Ich weiss aus der Bundeskasse, dass bald bei jedem Bahnprojekt nicht nur die Investitionskosten nie zurückgezahlt werden, sondern selbst die Betriebskosten durch die Fahrpreise nie gedeckt werden können. Ich weiss auch, dass alles staatliche Geld zuerst anderswo abgezogen werden muss, wo es wohl mindestens so innovativ und produktiv eingesetzt worden wäre.

Nun noch die naheliegende Frage: Was kann die Finanz- und Steuerpolitik zum Wachstum beitragen? Im Vordergrund und zum Nutzen von Investoren, Steuerzahlenden und der nächsten Generation stehen gesunde Staatsfinanzen ohne Schuldenspirale. Dazu kommt ein optimales Steuerwesen. Ich verweise auf zwei Beispiele:

  • Bei der Unternehmensbesteuerung geht es letztlich um die Beseitigung von Steuerärgernissen. Negative Anreize zum Wachstum werden beseitigt, positive Anreize zum Risikokapital gesetzt.
  • Dank geplanten Vereinfachungen bei der Mehrwertsteuer wird das Gewerbe beim Arbeiten und nicht beim Ausfüllen der Steuererklärung schwitzen.

Erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs zu zwei aktuellen Fragen unserer Steuerpolitik: nämlich den kantonalen Steuerregimes und der Aufwandbesteuerung.

Wir müssen unsere geografischen Nachteile - der fehlende Meeranstoss, die nicht vorhandenen Bodenschätze, der kleine Binnenmarkt - kompensieren. Die mausarme Schweiz hat innert weniger Generationen den Weg an die Weltspitze geschafft. Einer der Gründe ist der Steuerwettbewerb.

Die OECD hat vor wenigen Jahren unserem Steuersystem bescheinigt, dass es keine „harmful tax practices" - also keine schädlichen Steuerpraktiken - aufweist. Mit anderen Worten: Die OECD bescheinigt uns den fairen Steuerwettbewerb.

Dieselbe tat bisher auch die EU. Die kantonalen Steuerregimes und die Aufwandbesteuerung waren nämlich in Kraft, bevor unser Land das Freihandelsabkommen von 1972 und seither die bilateralen Abkommen verhandelt hat. Jetzt soll plötzlich einiges anders sein. Die Beziehungen zur EU sind heute so intensiv, dass Meinungsverschiedenheiten nicht ausbleiben können. Wir dürfen uns deshalb durch die aktuelle Suche mit der Lupe nach selektiven Steuervorteilen nicht irritieren lassen. Wir haben nichts zu verbergen.

Die Ausgangslage ist klar. Unsere Kantone besitzen die verfassungsmässige Steuerhoheit. Zwischen diesen findet kein ruinöser Steuersenkungswettlauf statt. Nirgends im Land verludern die Infrastrukturen und werden Staatsaufgaben vernachlässigt. Volk, Parlament und Regierung beschliessen im demokratischen Prozess eine attraktive Kombination von öffentlichen Leistungen bei möglichst geringer fiskalischer Belastung. Die formelle Steuerharmonisierung sichert den fairen Wettbewerb unter den Kantonen, der Finanzausgleich die Solidarität. Ich kann den Finanzministern der ganzen Welt nur empfehlen, unseren Föderalismus mitsamt dem Steuersystem zu übernehmen.

Bei den Diskussionen über die kantonalen Steuerregimes handelt es sich um einen Angriff auf unsere Souveränität. Dabei behandeln diese Regimes alle Unternehmen, ob in- oder ausländisch, gleich. Haben Verwaltungsgesellschaften und Gemischte Gesellschaften in unserem Land eine nur sehr beschränkte Geschäftstätigkeit - nehmen also die Infrastruktur nur bedingt in Anspruch - ist es nichts als richtig, wenn der Fiskus dies berücksichtigt. Ansonsten entfernt er sich von einer verursachergerechten Besteuerung.

Eine ganz andere Frage ist dagegen die international nicht unübliche Aufwandbesteuerung. Diese ist beschränkt auf Personen ohne Erwerbstätigkeit im Land, die im Gegenzug auch auf keine Doppelbesteuerungsabkommen zurückgreifen dürfen. Weder EU noch OECD stellen diese Besteuerungsart natürlicher Personen in Frage. Es handelt sich vielmehr um eine hausgemachte Debatte.

Sowohl bei den kantonalen Steuerregimes wie bei der Aufwandbesteuerung stehen wir international gut da. Es gibt keinen Grund, unsere Position zu verschlechtern oder zu gefährden.

Ich komme zum Schluss:

Die Ideen des Liberalismus und die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft sind die besten, die einzig nachhaltigen Voraussetzungen für volkswirtschaftliches Wachstum. Ein starker, aber schlanker Staat mit gesunden Finanzen ist eine wichtige Stütze für den Fortschritt in Gesellschaft und Wirtschaft.


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Eidgenössisches Finanzdepartement
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