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«Die Chance packen»

«Die Chance packen»

Die Schweiz braucht Wachstum. Voraussetzung dafür seien offene Märkte,
sagt Bundesrat Deiss. Morgen wirbt er in St. Gallen für Schengen und
die Personenfreizügigkeit.

Interview: Sankt-Galler Tagblatt
Walter Langenegger, Georg Farago

In der Ostschweiz ist die Skepsis gegenüber Schengen/Dublin gross. Das
zeigt sich etwa daran, dass die Ostschweizer Polizeidirektoren am
Anfang mehr Mühe hatten als andere, die Einschränkung der kantonalen
Polizeihoheit zu akzeptieren.

Joseph Deiss: Die Sicherheitsexperten sagen, dass Schengen gut für uns
ist, und stellen sich dahinter: etwa die Verbände der Kripochefs und
der Polizeibeamten sowie das Grenzwachtkorps. Auch die Konferenz der
Polizei- und Justizdirektoren ist dafür. Dennoch kann ich die Sorgen
der Menschen verstehen, denn optisch geht an den Grenzen der Schlagbaum
auf. Tatsächlich verbessern wir mit Schengen aber die Sicherheit. Dank
der Beteiligung am Schengener Informationssystem SIS wird künftig nicht
mehr aufs Geratewohl gefahndet, sondern gezielt.

Dennoch: Mit dem Beitritt zu Schengen/Dublin verpflichtet sich die
Schweiz, EU-Recht zu übernehmen. Ist das ein Souveränitätsverlust oder
nicht?

Deiss: Nein. Wir treten gar nicht bei, wir assoziieren. Wir werden also
nicht gezwungen, Änderungen des Schengener Systems zu übernehmen.
Dennoch erhalten wir an den gemischten Ausschüssen eine Mitsprache. Als
Nichtmitglied werden wir zwar nicht abstimmen dürfen. Aber die
Erfahrung zeigt, dass die Entscheide in gegenseitigem Einvernehmen
gefällt werden. Und falls uns etwas zu weit ginge, könnten wir immer
noch aus der Kooperation aussteigen.

Bleiben wir beim Stichwort SIS: Damit registriert werden sowohl der
jugendliche Ausreisser als auch der gemeingefährliche Tenorist. Sind
wir auf dem Weg zum europäischen Schnüffelstaat?

Deiss: Haben Sie das Gefühl, die EU sei ein Schnüffelstaat? Das SIS
führt nicht zum Schnüffelstaat, sondern zur Verbesserung der
Fahndungseffizienz und damit der Sicherheit. Ein Beispiel: Jemand, der
am Vormittag in Holland wegen eines Verbrechens registriert wird, kann
schon am Nachmittag in Italien gestoppt werden. Mit dem System, das wir
heute haben, sind wir chancenlos.

Stichwort Dublin: Von diesem Abkommen erhofft sich die Schweiz eine mit
der EU koordinierte Asylpolitik. Doch bereits heute gehen die
Asylzahlen zurück - und das ganz ohne Dublin.

Deiss: Trotzdem ist es besser, wenn wir zusammenarbeiten. Sind wir
nicht dabei, werden abgewiesene Asylbewerber zu uns kommen, wenn sie
ihre Möglichkeiten in der EU wegen des Erstasylabkommens ausgeschöpft
haben. So einfach ist das. Ausserdem gibt es keine Garantie dafür, dass
die Spannungen in Europa oder anderswo nicht wieder zunehmen und die
Asylzahlen wieder ansteigen.

Schengen ist kein wirtschaftspolitisches, sondern ein
Sicherheitsprojekt. Wieso setzen sich die Wirtschaft und Sie als
Wirtschaftsminister so sehr dafür ein?

Deiss: Sicherheit ist einer der wichtigsten Standortfaktoren für die
Wirtschaft. Ein Unternehmen sucht primär Sicherheit, wenn es sich in
einem Land niederlassen oder Handel treiben will.

Aber in der Schweiz haben wir doch alles andere als ein
Sicherheitsdefizit...

Deiss:... aber wir können die Sicherheit
noch verbessern. Hinzu kommt: Sie als Ostschweizer sind näher an der
Grenze als wir in Bern. Sie wissen, dass die Wirtschaft profitiert,
wenn das Prozedere an der Grenze erleichtert wird. Ausserdem garantiert
uns die Assoziierung mit Schengen gegenüber der EU unser Bankgeheimnis.
Und schliesslich profitiert der Fremdenverkehr, indem Touristen in der
EU nicht zusätzliche Visa für den Besuch unseres Landes beantragen
müssen.

Aber das Prozedere an der Schweizer Grenze bleibt doch wegen der
Warenkontrolle weiterhin bestehen?

Deiss: Richtig. Weil wir nicht in der EU- Zollunion sind, werden an den
Grenzen bei berechtigtem Verdacht Warenkontrollen und damit auch
Personenkontrollen durchgeführt werden. Doch insgesamt wird es
einfacher.

Ebenso vehement wie für Schengen setzt sich die Wirtschaft für die
Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Länder ein.
Was ist so wichtig daran: Der Zugang zu den neuen Märkten im Osten?
Oder die Möglichkeit, zu tiefen Löhnen Personal aus dem Ausland zu
rekrutieren?

Deiss: Ohne Personenfreizügigkeit schwächen wir den
Wirtschaftsstandort, weil wir auf die Wachstumsmärkte im Osten
verzichteten. Die Schweiz würde für die Unternehmen weniger attraktiv.
Sie würden abwandern - und damit auch Arbeitsplätze. Zwar ist nicht
ganz auszuschliessen, dass durch die Perso-nenfreizügigkeit kurzfristig
auch Druck auf den Arbeitsmarkt entsteht. Mittel-und langfristig wird
die Arbeitslosigkeit aber abnehmen, nicht zunehmen.

Viele trauen solchen Prognosen aber nicht. Das zeigen etwa die
Meinungsumfragen: Nur 50 Prozent wollen derzeit ein Ja zur
Personenfreizügigkeit einlegen.

Deiss: Wir nehmen das Thema nicht auf die leichte Schulter. Deshalb
haben wir bei der Erweiterung der Personenfreizügigkeit eine
Übergangsfrist bis 2011 ausgehandelt. Bis 2011 wird also eigentlich
nichts passieren und die Zuwanderung sehr gering bleiben.

Danach aber geht die Zuwanderung los?

Deiss: Das ist sehr unwahrscheinlich. In Mittel- und Osteuropa herrscht
ein kräftiges Wachstum. Bis 2011 werden sich diese Länder
wirtschaftlich stark weiterentwickelt haben. Umgekehrt werden wir wegen
der demografischen Entwicklung bald froh sein, wenn junge Arbeitskräfte
aus dieser Region zu uns kommen. Und schliesslich darf nicht vergessen
werden, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf flankierende
Massnahmen zum Schutz von Arbeitsbedingungen und Löhnen geeinigt haben.

Die Schweiz hat schon bei der Personen-freizügigkeit mit den «alten»
EU-Ländern flankierende Massnahmen beschlossen. Allerdings erwiesen
sich diese Vorkehrungen nicht als besonders griffig.

Deiss: Doch. Nur mit der Umsetzung hat es in einigen Kantonen gehapert.
Darum haben wir die Umsetzung verschärft. Das hat genützt.

Dennoch: Die Schweiz erlebte jüngst eine beträchtliche Zuwanderung von
gut qualifizierten Arbeitskräften vor allem aus Deutschland. Damit
gerät das Lohn-gefüge auf breiter Front unter Druck.

Deiss: Diese Zuwanderung beruht auf einem Anfangsdruck und wird
mittel-und langfristig abnehmen.

Der Druck auf die Löhne wird mit der Grenzöffnung aber vermutlich eine
Tatsache, gleichzeitig bleiben die Preise hoch. Droht uns ein
Kaufkraftverlust?

Deiss: Nicht nur die Löhne werden einem Wettbewerb unterliegen, sondern
auch die Preise. Ich gehe davon aus, dass die Kaufkraft unter dem
Strich erhalten bleibt.

Was passiert, wenn die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit abgelehnt
wird?

Deiss: Dann provozieren wir eine Krise mit unserem wichtigsten
Handelspartner, der EU. Wir würden nicht nur die Personenfreizügigkeit
in Frage stellen, sondern das gesamte Paket der Bilateralen I, weil sie
miteinander verknüpft sind. Ob Brüssel tatsächlich alles aufkündigen
würde, wissen wir nicht. Sicher ist: Die EU wird nicht akzeptieren,
dass die Personenfreizügigkeit nur für die 15 bisherigen Länder gelten
soll.

In einem solchen Fall müsste die Schweiz nochmals verhandeln. Ist das
schlimm?

Deiss: Wissen Sie, woran mich das erinnert? An die SVP und die Auns
während der EWR-Kampagne. Wir würden doch als gute Handelspartner in
Brüssel günstige Verträge abschliessen, hiess es damals. Zwölf Jahre
haben wir dadurch verloren und leiden unter der tiefsten Wachstumsrate.
Sollen wir noch einmal zehn Jahre drauflegen, während uns die Felle
davonschwimmen? Wenn das die Perspektive der Schweiz sein soll, dann
mache ich mir wirklich Sorgen.

Das heisst, Sie führen unsere Wachstumsschwäche aufs EWR-Nein zurück?

Deiss: Der EWR hätte uns nicht nur mit der EU möglichst freie
Wirtschaftsbeziehungen gebracht, sondern uns darüber hinaus gezwungen,
im Inneren Reformen zu realisieren. Ohne EWR war der Leidensdruck für
interne Reformen nicht vorhanden, und wir haben alles hinausgeschoben.
Über alles gesehen: Das Nein zum EWR war ein Irrtum. Umso mehr gilt es
jetzt, die Chance zu packen.

Erreichen wir mit Schengen/Dublin und der Personenfreizügigkeit ein
Niveau, das jenem des EWR vergleichbar ist?

Deiss: Nein, so weit sind wir noch lange nicht. Nicht geregelt ist etwa
der ganze Dienstleistungssektor, der 70 Prozent der Arbeitsplätze
ausmacht.

Zum Schluss ein Ausblick: Muss die Schweiz letztlich doch in die EU, um
wieder Wachstum zu haben?

Deiss: Wir sind in einer komfortablen Lage: Für einen Beitritt stehen
wir nicht unter Zugzwang, und gleichzeitig halten wir uns alle Optionen
offen. Mit Schengen/Dublin und der Personenfreizügigkeit verfolgen wir
einzig und allein die bilaterale Schiene. Nichts mehr und nichts
weniger.