Schweizer Wappen

CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Homepage
Mail
Suche

Kommunikation schafft Gemeinsamkeit

Kommunikation schafft Gemeinsamkeit

Bundesrat Moritz Leuenberger an den 1. Bieler Kommunikationstagen,

Biel, 3. Mai 2002

 ____________________________________________________________________

Beim Wort Kommunikation denken viele - und ich nehme mich nicht aus - zuerst
einmal an das BAKOM, an die ComCom, an Kommunikationssatelliten, Digital-TV,
Gatekeeper, Un-bundling, Bitstreams und andere Phänomene, die nicht auf
Deutsch übersetzt, geschweige denn verständlich erklärt werden können.

Was aber ist Kommunikation eigentlich?

Sie ist durchaus auf Deutsch zu übersetzen und heisst Mitteilung;
kommunizieren bedeutet mitteilen: Ich teile jemandem eine Information, einen
Sachverhalt oder eine Meinung mit. So teile ich mit ihm das Wissen um diese
Information, und es entsteht eine Gemeinsamkeit.
Kommunikation schafft also Gesellschaft.

Eine Mitteilung erfolgt in erster Linie durch das Wort: "Im Anfang war das
Wort", steht im Jo-hannes-Evangelium. Mit anderen Menschen zu sprechen ist
eine Fähigkeit, die nicht alle beherrschen. Voraussetzung ist nämlich
zunächst die Fähigkeit, mit sich selbst sprechen zu können, ein
Selbstgespräch in Gang zu setzen, sich einen imaginären Gesprächspartner
vorzustellen und sich in seine Denkweise zu versetzen. Die Gemeinsamkeit
kann also erst aus der Einsamkeit entstehen. Wer nicht zu einem inneren
Dialog fähig ist, kann auch kaum mit anderen Menschen sprechen. Er kann
bloss Information weitergeben oder Befehle ertei-len. Das jedoch ist keine
Kommunikation und schafft keine Gemeinschaft.

Was zwischen zwei Menschen gilt, ist zwischen Medien und Zuhörer, Zuschauer
oder Leser nicht anders. "Im Anfang war die Presse, und dann erschien die
Welt", schreibt Karl Kraus. Medien können dialogisieren, können aufklären.
Sie können aber auch manipulieren oder indoktrinieren, was ebenfalls keine
Kommunikation ist, die Gemeinschaft herstellt. Die latei-nische
Schriftsprache, beispielsweise, diente im Mittelalter der Ausgrenzung und
zur Verhin-derung des gesellschaftlichen Dialogs. Der Kampf um die
Bibliothek in Umberto Ecos "Der Name der Rose" beschreibt die Versuche, eine
Demokratisierung kritischen Wissens zu ver-hindern.

Auch die kritische Phantasie musste im Zaum gehalten werden: mit strikten
Regeln, wie ein Gebäude oder ein Bild zu gestalten sei. Es ging nicht um den
Diskurs. Die Wandgemälde in den Kirchen hatten disziplinierende Funktion:
sie mussten die Gläubigen auf Kurs halten.

Gegen diese Einbahn-Kommunikation wehrte sich Martin Luther. Die Folge waren
die Bilder-stürme. Es war der Kampf gegen ein Massenmedium, das den Menschen
die Sprache ge-nommen hatte.

Politikdarstellung am Fernsehen

Wie ist das heute? Nehmen uns die neuen Gemälde, die allzeit präsenten
Fernsehbilder, ebenfalls die Sprache und das kritische Denken? Brauchen wir
einen neuen Bildersturm, einen gegen die flüchtige mediale
Berichterstattung, die auf Tempo und Überraschung setzt und welche beim
Zuschauer kein kritisch-hinterfragendes Selbstgespräch in Gang setzt?

Zwischen TV-Realität und demokratischer Politik bestehen grosse
Unterschiede, vor allem beim Tempo: Eine Demokratie, vor allem die direkte,
zeichnet sich ja gerade durch Lang-samkeit aus. Das Ziel ist, für möglichst
Viele tragbare Lösungen zu finden, darum führt der Weg zum Ziel
gezwungenermassen über Umwege: Gespräche, Kompromisse, Runde Ti-sche. Alle
wichtigen Verfassungsentscheide unseres Jahrhunderts sind in einem
mehrmali-gen Hin und Her zustande gekommen. Das gilt für die Sozialwerke,
das Frauenstimmrecht, das Steuersystem, den UNO-Beitritt.

Die demokratische Politik mit ihrem grosszügigen Zeitbegriff, mit ihren
vielen Akteuren und mit ihren unübersichtlichen Fronten kann im Fernsehen
nur schwierig dargestellt werden. Wütende Chauffeure und schlitternde
Lastwagen auf schneebedeckter Fahrbahn entspre-chen eher der Logik des
Fernsehens als komplizierte Verhandlungen zwischen Bund, Kan-tonen und
Verbänden um Dosierungssysteme und Stauräume.

Doch die Politik kommt ums Fernsehen nicht herum. Politik ohne
Öffentlichkeit ist keine de-mokratische Politik. Zudem ist es ja nicht so,
dass politische Abläufe im Fernsehen nicht auch bildhaft dargestellt werden
könnten. Im Bildmedium Fernsehen steckt - wie übrigens auch in der
Boulevardpresse -demokratisches Potential, und ich anerkenne mit grossem
Respekt die Fähigkeit von TV-Profis, politische Sachverhalte Menschen nahe
zu bringen, die sich sonst nicht mit Politik befassen würden.

Fensehunterhaltung und demokratische Politik

Unterhaltungssendungen im Fernsehprogramm nähmen zu und dies führe
automatisch zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft. In dieses Klagelied
kann ich nicht einstimmen. Diese pessimistische Sicht erliegt dem
Kurzschluss, Unterhaltung stehe prinzipiell in Widerspruch zu
gesellschaftlichen Anliegen und fördere die Gleichgültigkeit gegenüber
politischen Frage-stellungen. "Man schaltet das Gerät ein, um abzuschalten",
seufzt Hans Magnus Enzensber-ger.

Das stimmt nicht. Wie Geschichten, Sagen und Märchen enthält auch die
Fernsehunterhal-tung nebst den vergnüglichen Anteilen immer auch Elemente
der gesellschaftlichen Selbst-beschreibung. Das hat sogar ein Gericht, das
deutsche Bundesverfassungsgericht, festge-stellt: "Es wäre einseitig,
anzunehmen, Unterhaltung befriedige lediglich Wünsche nach Zer-streuung und
Entspannung, nach Wirklichkeitsflucht und Ablenkung. Sie kann auch
Reali-tätsbilder vermitteln und stellt Gesprächsgegenstände zur Verfügung,
an die sich Diskussi-onsprozesse und Integrationsvorgänge anschliessen
können, die sich auf Lebenseinstellun-gen, Werthaltungen und
Verhaltensmuster beziehen."

Gerade die oft belächelten Soaps erfüllen diese gesellschaftliche Funktion.
In der "Schwarz-waldklinik" gibt Chefarztgattin Brinkmann nach der Geburt
ihres Kindes den Wiedereinstieg in den Beruf als Ärztin auf, als sich beim
Sohn Entwicklungsstörungen bemerkbar machen, und widmet sich ganz der
Betreuung des Kindes.

Diese Provokation von Frau Brinkmann rief die damalige deutsche
Familienministerin auf den Plan - im politischen Teil der Medien. Sie rügte,
die einseitige Darstellung transportiere veraltete Rollenklischees, erzeuge
negative Einstellungen gegenüber jungen berufstätigen Müttern und
verunsichere diese.

In der Schweiz gibt es "Lüthi und Blanc" und liefert auch Stoff für
politische Interventionen. Wenn es zum Beispiel vor dem Tessiner Grotto
regnen sollte, organisiert der Hotelierver-band unter Herrn Kneschaurek
garantiert eine Postkartenaktion gegen mich, da ich ja als Medienminister
auch für diese tourismusschädigende Ungeheuerlichkeit verantwortlich wäre.
Dagegen hat das VBS noch nicht Stellung genommen zu einer Sequenz, wo
rassistische Vorfälle in der Schweizer Armee gespielt wurden.

Neue Technologien: Wird alles anders?

Doch all diese Gedanken über positive und negative Folgen der
Fernsehunterhaltung sollen sich ja sowieso bald erübrigen. Behauptet wird,
die Tage des Fernsehens seien gezählt. Me-diennutzung geschehe künftig
interaktiv, das Publikum werde zum Programmdirektor, stelle sich aus einer
Vielzahl an Angeboten sein Programm selbst zusammenentsprechend und
konsumiere dieses persönliche Menü dann, wenn es Zeit habe.

Solche Prophezeiungen gab es schon vor 25 Jahren, aber die Realität zeigt,
dass trotz der Neuen Medien laufend mehr Fernsehen geschaut wird.

Wie ist es beim Internet? Ist die Hoffnung berechtigt, es eröffne jedermann
die Möglichkeit, sich seine Informationen selbst zusammen zu suchen und sich
nicht mehr von Medien vor-schreiben zu lassen, was wichtig sei; und es
eröffne jedermann die Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit zu äussern,
was zu einem Demokratisierungsschub führe? Und wird es den Familienkreis
endgültig in einzelne Individuen auflösen, diesen Familienkreis, den das
Fern-sehen zunächst zum Halbkreis aufgebrochen

hat (damals als familienzerstörend beklagt, heute bereits nostalgisch
verklärt)?

Mit dem Aufkommen neuer Medien werden unerfüllbare Hoffnungen verbunden. Das
ist nicht neu. Das gab es schon beim Aufkommen des Fernsehens. Wer mag sich
nicht mehr an die Lobpreisungen auf das damals neue Medium als
Bildungsinstitution erinnern? Und heute ist selbst der Telekolleg
verschwunden.

Kommt dazu, dass ein neues Medium oft nicht so genutzt wird, wie sich das
die Erfinder vor-gestellt haben: So stellte Graham Bell das neu erfundene
Telefon an der Weltausstellung in Philadelphia von 1876 als ein Medium vor,
welches den Zuhausegebliebenen ermöglichen sollte, ein Konzert mitzuhören.
Von Gesprächen von Haus zu Haus war damals nur am Rand die Rede.

Oder wer hätte sich vor ein paar Jahren, als das damalige Autotelefon
aufkam, gedacht, dass SMS-Nachrichten zum wichtigsten Kommunikationsmittel
der Jugend werden? (Und manchmal auch der Bundesräte, wenn sie sich in einer
Sitzung einsam fühlen)

Die Medienentwicklung folgt offenbar nicht bloss kalkulierter Strategie von
Technikern und Produzenten, sondern scheint von der spontanen Innovation
oder Spielfreude des Konsu-menten abzuhängen. (Sie ist nicht kalkulierbar:
In Frankreich setzte sich seinerzeit Jahre das Minitel durch, es erschwerte
dem Internet die Verbreitung und hält sich noch heute. Video-tex, das
Pendant zum Minitel in der Schweiz, hingegen steht bereits im Museum. Warum
mögen Franzosen etwas, das Schweizern fremd ist? Ich weiss es nicht.)

Schliesslich lehrt uns die Erfahrung, dass ein neues Medium bestehende
Medien in der Re-gel nicht ersetzt, sondern ergänzt.

Das Radio ist dem Fernsehen nicht gewichen; es hat sich aber im Verlaufe der
Zeit geän-dert. Die Zeit, da Radio Beromünster mit seinen Gotthelfhörspielen
die halbe Bevölkerung von der Strasse lockte, ist längst vorbei. Radio
entwickelt sich zum Begleitmedium, oder wir brauchen es, um uns rasch über
das Neueste zu informieren.

Sogar in Stein gemeisselte Botschaften gibt es noch heute. Das Aufkommen des
Papyrus hat die Steintafel nicht verdrängen können, obwohl auf Papier viel
leichter zu schreiben und es auch einfacher zu transportieren war. Aber
Stein ist bis heute das einzig richtige Medium geblieben an Orten, wo über
Jahre hinweg gegen Wind und Wetter verkünden soll, wer da begraben liegt.

Die neuen interaktiven Medien beeinflussen unsere Gesellschaft nachhaltig.
Aber nicht, in-dem sie die traditionelle Mediennutzung ersetzen. Nein, es
ist die zwischenmenschliche Kommunikation, die sie verändern.

"Bei jedem Brief, den man schreibt", schrieb Franz Kafka an Milena, "trinkt
ein Gespenst die Küsse aus, bevor er ankommt, vielleicht sogar bevor er
abgeht, so dass man schon wieder den nächsten schreiben muss."

Heute muss niemand mehr warten: Kaum sind Fax, Email oder SMS abgeschickt,
trifft schon die Antwort ein. Gefühle können direkt über Kontinente
ausgetauscht werden, und schon manche zwischenmenschliche Beziehung dürfte
so zustande gekommen sein, die vorher im Warten auf die Post erlahmte.
Heinrich Heine hat die Liebe einst als eine Art Elektrizität be-schrieben
mit der Folge, dass gelegentlich Tränen gleichzeitig in Potsdam und in
Aegypten fliessen würden. Gewiss gibt es demnächst Literaturwissenschafter,
die feststellen, dass Heine eher der SMS-Typ und Poet, Kafka dagegen eher
der Brief-Typ, also der Literat sei.

Die neue, schnelle Kommunikation hat auch Einfluss auf die Schriftkultur:
Gerade bei SMS-Dialogen oder in Chatrooms nähert sich die Schrift der
gesprochenen Sprache an. Sie wird flüchtig, aber auch spontaner, und es
entwickeln sich neue Schriftzeichen, die Gefühle aus-drücken sollen und die
von einem Computer bereits direkt in ein Bild verwandelt werden: ein
Doppelpunkt und anschliessend eine rechtsschliessende Klammer bedeuten: Es
geht mir gut, der Computer übersetzt die beiden Zeichen direkt in ein ?
(genannt smily). Oder - mit linksseitiger Klammer - in ein ? (genannt
Bundesratsgesicht).

Politische Folgen

"Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen
Windmühlen" sagt ein chinesisches Sprichwort.

Gegen neue Medien nützen staatliche Mauern nichts. Die neuen Technologien -
etwa Satel-litenübertragung oder Internet - orientieren sich nicht mehr an
Staatsgrenzen und lassen die nationalstaatliche Politik oft leer laufen. Der
Staat verfügt zwar nach wie vor über hoheitliche Verfügungsgewalt. Er ist
aber zu langsam, um rechtzeitig wirkungsvolle Massnahmen treffen zu können.

Gibt es eine Medienpolitik, welche mit Windmühlen den Wind des Wandels
nutzt?

Mit der Revision des Radio- und TV-Gesetzes versuchen wir es, indem wir klar
trennen zwi-schen privaten Veranstaltern und öffentlich-rechtlichen. Wer ein
Mehrheitspublikum an-spricht, hat dies ausschliesslich über Werbegelder zu
finanzieren; wer einen Leistungsauf-trag erfüllt - es kann auch ein
regionaler sein -, hat Anrecht auf Gebührengelder. Nur so können wir in der
Schweiz mit ihren vielen Sprachen und Kulturen TV-Programme erhalten, die
auch Minderheiten berücksichtigen.

So, wie die biologische Vielfalt eine Voraussetzung für die Evolution
lebender Organismen darstellt, braucht es kulturelle und politische
Vielfalt, damit sich eine demokratische Gesell-schaft laufend erneuert. Denn
neue Entwicklungen werden in Gang gesetzt durch unbe-kannte und zunächst
minderheitliche Positionen, die noch nicht mehrheitsfähigen sind.

Neuartige Verantwortung übernimmt der Staat auch bei der
Kommunikationsinfrastruktur. Die Zeiten sind vorbei, wo der Staat das
einzige Telekommunikationsunternehmen der Schweiz betrieben hat. Und die
Zeiten, wo alle damit zufrieden waren, auch.

Die Aufgabe des Staates ist, die Grundversorgung der Bevölkerung zu
organisieren und zu garantieren. Er tut dies, indem er einerseits dem Markt
die Möglichkeit gibt, Leistungen an-zubieten, und anderseits dafür sorgt,
dass diejenigen Leistungen gesichert werden, die für Gesellschaft und
Demokratie wichtig sind, welche der Markt aber nicht - oder nicht für alle -
erbringt.

Der Staat hat also den Zugang zu den neuen Kommunikationsmitteln
chancengleich mög-lichst allen zu ermöglichen - einerseits technisch,
anderseits durch Bildungsoffensiven. Denn nur, wer mit dem Internet
umzugehen weiss, kann seine Fähigkeiten und sein Wissen aus-bauen. Wer
keinen Netzanschluss hat oder den Umgang mit dem Computer nicht be-herrscht,
gerät in Gefahr, auch den Anschluss an die Gemeinschaft zu verlieren.

Die Schweiz hat hier nicht nur Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger
des eigenen Landes zu übernehmen. Sie muss auch die digitale Kluft zwischen
Norden und Süden ver-ringern. Die Schweiz wird sich im Rahmen des
Weltgipfels über die Informationsgesellschaft, der im nächsten Jahr in Genf
stattfinden wird, dafür einsetzen, dass ein Aktionsplan zustan-de kommt, der
Wege aus der globalen digitalen Spaltung weist.

Mitteilungs- statt Teilungsgesellschaft

Kommunikation schafft Gesellschaft - auch unter neuen sozialen und
technischen Bedingun-gen. Jede Anstrengung, Kommunikation herzustellen, ist
eine Anstrengung für eine lebendi-ge und lernfähige Gesellschaft.

Die Mitteilungsgesellschaft ist nichts Statisches, sondern eine Aufgabe. Ihr
Ziel ist Einbinden statt Ausgrenzen, Integrieren in einem weiten Sinne, jede
Form von Sprachfähigkeit zu för-dern: Jene mit sich selbst, jene mit einem
Gegenüber, jene zwischen verschiedenen Kultu-ren und unterschiedlichen
Lebensstilen.

Sprachfähigkeit führt zu Wissen. Wissen ist Macht. Unsere Aufgabe ist es,
die Sprachfähig-keit aller zu begünstigen.

Wissen ist zu teilen. Dadurch entsteht Gemeinsamkeit. Und Gemeinsamkeit ist
die tiefere Bedeutung jeder Kommunikation.