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Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus: Erklärung des Bundesrates

Erklärung des Bundesrates anlässlich der Veröffentlichung des
Berichts «Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus»
der Unabhängigen Expertenkommission

Der Bericht der Unabhängigen Expertenkommission (UEK)  stellt einen
grundlegenden Beitrag zum besseren Verständnis der schweizerischen
Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus dar. Der Bundesrat dankt
den schweizerischen und ausländischen Experten, die sich an den Arbeiten der
Kommission unter der Leitung von Professor Jean-François Bergier beteiligt
haben.

Eine überwiegende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung lehnte die
Rassenideologie der Nazis ab. Trotz der äusserst schwierigen Lage, in der es
sich befand, gelang es unserem Land, inmitten eines der Nazibarbarei
ausgelieferten Europas ein Hort der Freiheit und der Demokratie zu bleiben.
Der Bundesrat gedenkt in Dankbarkeit all jener, welche dazu beigetragen
haben, sei es am Arbeitsplatz, in der Armee oder zu Hause. Eine bedeutende
Zahl an zivilen und militärischen Flüchtlingen wurde in der Schweiz
aufgenommen. Der Bundesrat schliesst sich den Flüchtlingen an, die sich mit
Anerkennung und Achtung an jene Frauen und Männer erinnern, die ihnen
geholfen haben, hier Zuflucht zu finden und zu leben.

Der Bericht erinnert uns daran, dass die Schweiz in dieser dunklen Epoche
der Menschheitsgeschichte ihrer humanitären Tradition nicht in dem Masse
entsprochen hat, wie sie dies hätte tun können und müssen. Der Bundesrat ist
sich dessen bewusst. Er legt daher Wert darauf, die 1995 vom
Bundespräsidenten im Namen des Bundesrates ausgesprochene Entschuldigung in
Erinnerung zu rufen. Diese Entschuldigung behält im Licht des vorliegenden
Berichts ihre volle Berechtigung. Die Folgen damals getroffener Entscheide
sind durch nichts wieder gut zu machen, und uns bleibt nur, uns ehrfürchtig
vor dem Schmerz jener zu verneigen, welche unsagbarem Leid, der Deportation
und dem Tod ausgesetzt wurden, nachdem ihnen die Einreise in unser Land
verweigert worden war. Unsere damalige Asylpolitik war auch von Fehlern,
Unterlassungen und Zugeständnissen geprägt.

Der Bericht konzentriert sich auf die Rolle, welche die damaligen Behörden
und die Verwaltung bezüglich der Flüchtlingsfrage spielten. Die UEK hat sich
für eine kritische Betrachtungsweise dieses heiklen Themas entschieden und
die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt ihrer Nachforschungen
gestellt. Der Bundesrat ist sich bewusst, dass keine noch so umfassende
historische Forschung ein vollständiges Bild der Realität wiedergeben kann.
Dennoch hätte er es angesichts eines so umfangreichen Berichts als
wünschenswert erachtet, wenn bei der Würdigung der schweizerischen Politik
dem internationalen Umfeld stärker Rechnung getragen worden wäre.
Kennzeichnend für die Flüchtlingsproblematik zur Zeit des
Nationalsozialismus ist denn auch das kollektive Versagen der Asylpolitik
der damaligen Staaten, die unter Missachtung humanitärer und ethischer
Grundsätze zuliessen, dass Hunderttausende von Personen schutzlos der
Nazibarbarei ausgeliefert wurden.

Die vom Bericht gewählte Betrachtungsweise führt überdies dazu, dass
unleugbare historische Gegebenheiten in den Hintergrund gedrängt werden, so
etwa die Ängste, welche die auf der Schweiz lastende Bedrohung weckte, die
Ungewissheit hinsichtlich der Zukunft oder die Notwendigkeit, den
Wirtschaftsaustausch mit dem Ausland aufrechtzuerhalten, um das Überleben
des Landes zu sichern. Man weiss jedoch, dass diese Situation und diese
Ängste die Schweiz dazu bewogen haben, Konzessionen einzugehen. So falsch es
wäre, im Rahmen dieser historischen Aufarbeitung nur die positiven Aspekte
der damaligen Ereignisse hervorzuheben, so verfehlt wäre es, nur die
negativen Punkte zu betonen. Das Verhalten der offiziellen Schweiz während
dieses schwierigen Kapitels unserer Geschichte ist vielmehr im ständigen
Bestreben nach Objektivität zu prüfen, im Lichte des vorliegenden Berichts
sowie der zahlreichen vorangegangenen Forschungsarbeiten. Der Bundesrat
ermutigt die Historiker, auf diesem Weg fortzufahren, und hofft, dass sich
die Mitbürgerinnen und Mitbürger eingehend mit unserer Geschichte
auseinandersetzen werden. Die Arbeiten der UEK enthalten erstmals einen
juristischen Teil in Form eines von Professor Walter Kälin erstellten
Rechtsgutachtens im Anhang des Berichts. Diese Studie bestätigt, dass die
Behörden im wesentlichen in Übereinstimmung mit dem während des Krieges
geltenden Vollmachtenregime sowie den Normen des Völkerrechts, die damals
den weltweiten Standard bildeten, gehandelt haben. Dieser Befund entbindet
indes die Schweiz - wie andere Staaten auch - nicht von der Pflicht, sich
mit der moralischen Dimension ihres damaligen Verhaltens
auseinanderzusetzen.

Die internationale Staatengemeinschaft hat die Lehren aus den erheblichen
Lücken des damaligen Völkerrechts gezogen und seither zahlreiche Regeln in
diesem Bereich ausgearbeitet. Der Bundesrat weist insbesondere darauf hin,
dass mit dem Übereinkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951
ein präziser rechtlicher Rahmen zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus
geschaffen wurde. In jüngerer Vergangenheit wurde das
Non-refoulement-Prinzip allmählich als Norm des Völkergewohnheitsrechts, von
der keine Abweichung erlaubt ist, anerkannt. Die Schweiz hat sich dieser
Entwicklung angeschlossen, wobei sie diese mitunter durch entscheidende
Impulse mitgestaltet hat, namentlich im Bereich des humanitären
Völkerrechts. Heute ist die Schweiz Vertragsstaat der wichtigsten
Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte. Ferner ist sie Depositarstaat
der Genfer Abkommen über das humanitäre Völkerrecht. Gleichzeitig hat die
Schweiz die zur Einhaltung des Non-refoulement-Prinzips erforderlichen
Massnahmen getroffen und die materiellen und personellen Ressourcen
bereitgestellt, um ein faires Asylverfahren mit richterlicher Ueberprüfung
zu gewährleisten. Schliesslich verfügt sie über eine moderne Strafnorm, die
jegliche Form von Rassendiskriminierung ahndet.

Der durch einen solchen Bericht ausgelöste Bewusstwerdungsprozess darf uns
nicht dazu verleiten, die Verantwortlichen von damals auf der Basis heutiger
Empfindungen zu verurteilen. Er sollte im Gegenteil unseren Blick auf die
Zukunft lenken, damit die Fehler der Vergangenheit niemals wiederholt
werden. Für den Bundesrat ist dies ein Anlass, um das Engagement unseres
Landes im Dienste der Menschenrechte zu bekräftigen. Die Schweiz ist
gewillt, in Zusammenarbeit mit den übrigen Staaten weiterhin ihren Beitag
zur Fortentwicklung einer internationalen Rechtsordnung zu leisten, welche
den Schutz der Einzelperson vor jeglicher Form der Verfolgung und Gewalt
vorsieht. In diesem Sinne beabsichtigt der Bundesrat, seine
Unterstützungsmassnahmen zur Sensibilisierung in den Bereichen
Menschenrechte und Prävention von Rassismus zu verstärken. Er wird die
Modalitäten dieser Unterstützungsmassnahmen in den kommenden Monaten in
Zusammenarbeit mit den Kantonen und den interessierten Organisationen
konkretisieren.

Unser Land hat die Pflicht, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend als eine
der treibenden Kräfte bei der Erfüllung der immensen Aufgabe zu wirken,
welche die Förderung der Achtung der Menschenwürde und des Friedens zwischen
den Völkern darstellt. Dieser Herausforderung sind wir jedoch nur dann
gewachsen, wenn wir die Lehren, die wir aus den Tragödien unseres
Jahrhunderts gezogen haben, stets in Erinnerung behalten. Diese
Erinnerungsarbeit sind wir dem Andenken an die Opfer, aber auch und
insbesondere uns selbst und unseren Nachkommen schuldig.

Bern, 10.12.1999