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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Die neue BV als Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung

Es gilt das gesprochene Wort

Die neue Bundesverfassung als Grundlage
für eine nachhaltige Entwicklung

Referat von Bundesrat Arnold Koller
auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Solar 91

Colombier 1998

1.	Zur aktuellen Energiepolitik

Die Arbeitsgemeinschaft Solar 91 hätte für die Verleihung des
diesjährigen Solarpreises kaum einen besseren Zeitpunkt wählen können.
Die Energiepolitik ist zur Zeit in aller Munde, hat doch der Bundesrat
in den letzten Tagen einige Grundsatzentscheide dazu getroffen. Weil bei
der Information darüber nicht alles rund lief, ist auch ein wenig
Verwirrung entstanden. In der Hoffnung, diese Verwirrung nicht noch zu
vergrössern, möchte ich die wichtigsten Entscheide des Bundesrates kurz
erläutern.

Der Bundesrat will mittelfristig eine neue Finanzordnung mit
ökologischen Anreizen verwirklichen. Zum einen geht es ihm darum, durch
eine Energiesteuer die relativen Preise für die nicht erneuerbaren
Energien zu erhöhen und damit die Marktchancen der erneuerbaren Energien
zu verbessern, namentlich auch jene der Sonnenenergie. Zum andern will
er den Werkplatz Schweiz stärken, indem die Erträge der Energiesteuer
staatsquotenneutral zur Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden.
Als Übergangslösung und als flankierende Massnahme zur bevorstehenden
Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes befürwortet der Bundesrat die
rasche Einführung einer befristeten Energieabgabe. Sie soll zur
Förderung der rationellen Energieverwendung und der erneuerbaren
Energien eingesetzt werden. Da es sich um eine Finanzierungsabgabe
handelt, braucht es dafür eine ausdrückliche Verfassungsgrundlage. Um
fundiert zur Abgabenhöhe und zur Berücksichtigung der Wasserkraft
Stellung nehmen zu können, hat der Bundesrat die Ausarbeitung weiterer
Entscheidungsgrundlagen in Auftrag gegeben.

Mit diesen Entscheiden greift der Bundesrat einige im Parlament bereits
diskutierte Vorschläge auf, die als Gegenvorschläge zu zwei
Volksinitiativen - der Energie-Umwelt- und der Solarinitiative, dienen
sollen. Im übrigen hat er entschieden, die Abschaltung der bestehenden
Kernkraftwerke frühzeitig zu planen, die Option Kernenergie und deren
technische Weiterentwicklung indes nicht zu präjudizieren.

Die Energiepolitik des Bundesrates steht im Zeichen der nachhaltigen
Entwicklung. Der Grundsatz der Nachhaltigkeit hat in den letzten Jahren
einen immer höheren politischen Stellenwert erhalten. Im Bericht über
die Legislaturplanung 1995-1999 bekräftigte der Bundesrat seinen Willen,
"in allen politischen Bereichen die Erfordernisse einer nachhaltigen
Entwicklung zu berücksichtigen." Das Nachhaltigkeitsprinzip wurde auch
in den Diskussionen um die laufende Verfassungsreform ausführlich
behandelt. Die heutigen Veranstalter haben mich gebeten, mich mit
einigen Worten über dieses Reformvorhaben an Sie zu wenden.

2.	Notwendigkeit der Verfassungsreform

Gerade die Energiepolitik zeigt sehr anschaulich, dass der Verfassung
hierzulande ein im internationalen Vergleich ganz besonderer Stellenwert
im politischen Entscheidungsprozess zukommt. Verantwortlich dafür ist in
erster Linie das Instrument der Volksinitiative und die mit ihr
verbundene Möglichkeit des Gegenvorschlags durch Bundesrat und
Bundesversammlung. Denken Sie in bezug auf die Energiepolitik etwa an
die verschiedenen Initiativen im Bereich der Kernenergie, denken Sie
ferner an den 1983 am Ständemehr gescheiterten Energieartikel, an die
1984 abgelehnte Volksinitiative für eine sichere, sparsame und
umweltgerechte Energieversorgung und schliesslich an den 1990 von Volk
und Ständen gutgeheissenen neuen Artikel 24octies zur Energiepolitik.
Und wie erwähnt, stehen die nächsten Verfassungsdebatten zu
Energiefragen vor der Tür.

Der besondere Stellenwert der Verfassung in unserer täglichen
Sachpolitik hat zweifellos den Vorteil, dass sich die geltende
Bundesverfassung in vielen Fragen auf der Höhe der Zeit bewegt. Es gibt
indes auch eine Kehrseite. Die rund 140 Teilrevisionen, die Volk und
Stände seit der Totalrevision von 1874 gutgeheissen haben, sind
ausgesprochen punktueller Natur. Unsere Verfassung hat deshalb die
grosse zusammenhängende Linie verloren. Sie stellt heute vielmehr ein
unübersichtliches Konglomerat von Einzelbestimmungen unterschiedlichsten
Alters und Inhalts dar. Sie enthält zahlreiche Unklarheiten, Brüche,
Inkohärenzen und Lücken. Wenn Sie die aktuelle Verfassung zur Hand
nehmen, finden Sie darin kein Wort über die Meinungs- und
Versammlungsfreiheit, wohl aber Bestimmungen zu Brauteinzugsgebühren und
Auswanderungsagenturen.

Wegen ihrer inhaltlichen und formellen Mängel vermag die geltende
Bundesverfassung ihre Orientierungs-, Steuerungs- und
Integrationsfunktion nur noch unzureichend wahrzunehmen. Im Gegenteil,
sie ist gerade auch im Bereich der Energiepolitik Gegenstand
verfassungsrechtlicher Streitigkeiten unter Juristen und Politikern
geworden. Längerfristig kann das kein Staat und keine Rechtsgemeinschaft
ohne Schaden hinnehmen. Denn gerade in unserer pluralistischen
Gesellschaft hat die Verfassung ein Mindestmass an praktischer
Übereinstimmung und an politischer Homogenität zu sichern, indem sie
klare Zuständigkeiten schafft, alle Staatsorgane auf oberste Grundwerte
verpflichtet und verbindliche Spielregeln des politischen Prozesses
festlegt.

Mit der von der Bundesversammlung 1987 verlangten und vom Bundesrat
vorgelegten sogenannten Nachführung - oder besser: "mise à jour" -
sollen die Mängel der geltenden Verfassung beseitigt werden. Dies setzt
voraus, dass wir das ungeschriebene Verfassungsrecht in die geschriebene
Verfassung integrieren, eine übersichtliche Systematik schaffen,
verfassungsunwürdige Normen beseitigen und das Verhältnis des
Landesrechts zum Völkerrecht klären.

So bedeutungsvoll diese "mise à jour" für sich ist, darf sie nach der
Überzeugung des Bundesrates nicht der Endpunkt der Reformbemühungen
sein. Wir müssen insbesondere die Handlungsfähigkeit der Institutionen
stärken. Denn zum einen ist die systematische Weiterentwicklung der
bundesstaatlichen Institutionen in den letzten 150 Jahren eindeutig zu
kurz gekommen - denken Sie an den Bundesrat, die Bundesversammlung und
das Bundesgericht. Zum andern verlangt die Internationalisierung von
Wirtschaft und Politik heute höhere Rhythmen in der Entscheidfindung.

Der Bundesrat hat den Eidgenössischen Räten deshalb separate
Reformpakete zu den Bereichen Justiz und Volksrechte unterbreitet.
Andere systematische Reformvorhaben sind weit fortgeschritten oder
eingeleitet, so die Reform des Finanzausgleichs und die
Staatsleitungsreform. Dabei können Volk und Stände über jedes
Reformpaket einzeln abstimmen.

3.	Stand der Arbeiten

Wie Sie wissen, sind die Arbeiten an der Verfassungsreform recht weit
fortgeschritten. Zur Genugtuung des Bundesrates haben sich sowohl die
vorberatenden Kommissionen wie auch die beiden Eidg. Räte mit grossen
Mehrheiten hinter das vorgeschlagene prozesshafte Vorgehen gestellt und
die Beratungen zügig vorangetrieben. Bei der "mise à jour" sind in der
Wintersession die wenigen noch verbleibenden Differenzen zu bereinigen.
Insgesamt setzte sich die Einsicht durch, dass die "mise à jour" nicht
eine blosse Schönschreibeübung, sondern ein politischer Akt ist. So
wirft zum Beispiel die Aufnahme von ungeschriebenem Verfassungsrecht
zahlreiche Wertungsfragen auf, denken Sie etwa an das Streikrecht. Zudem
war das Parlament auch willens, konsensfähige Neuerungen in die
nachgeführte Verfassung aufzunehmen, zum Beispiel eine Besserstellung
der Behinderten. Sehr wahrscheinlich können Volk und Stände im April
oder Juni 1999 über die neue Verfassung abstimmen.

Auch die Justizreform fand insgesamt eine gute Aufnahme. Der
Reformbedarf in diesem Bereich wurde allgemein anerkannt und
insbesondere der Ständerat teilt die Stossrichtung der Reformvorschläge,
die in erster Linie eine Entlastung des Bundesgerichts und einen
verbesserten Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger anstreben.
Umstritten ist hier vor allem die Einführung einer sogenannten konkreten
Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Ebene des Bundes.

Etwas ungewiss ist die Situation hingegen bei der Reform der
Volksrechte. Ausgehend von der Feststellung, das die Schweizerinnen und
Schweizer zu viel, aber nicht immer über das Wichtige abstimmen, schlägt
der Bundesrat zum einen neue Instrumente wie die allgemeine
Volksinitiative und ein Verwaltungs- und Finanzreferendum vor, zum
andern eine massvolle Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiative
und Referendum. Diese Vorschläge sind bereits in den
Verfassungskommissionen sehr umstritten. Überraschen darf dies jedoch
nicht, handelt es sich doch bei den Volksrechten um einen Herzteil
unseres Staates.

4.	Das Nachhaltigkeitsprinzip in der neuen Verfassung

In der Öffentlichkeit wird die Bedeutung des ersten Schrittes der
Verfassungsreform, der "mise à jour", oft unterschätzt. Die folgenden
Stichworte zeigen indes, dass die neue Verfassung eine ganze Reihe von
verfassungsrechtlichen Klarstellungen leistet. So finden die Bürgerinnen
und Bürger nun erstmals einen umfassenden Grundrechtskatalog in der
Bundesverfassung. Im Gegensatz zur geltenden Verfassung wird der
moderne, partnerschaftliche Föderalismus weit besser dargestellt.
Verbessert wird auch das Sprachenrecht, indem einerseits die
Sprachenfreiheit neu in den Verfassungstext aufgenommen, anderseits das
Territorialitätsprinzip stärker verankert wird. In der neuen Verfassung
erhält ferner der Sozialstaat eine adäquate verfassungsrechtliche
Darstellung, mittels einiger weniger Sozialrechte, der Sozialziele und
einer übersichtlichen Gliederung der Kompetenzartikel.

Ich möchte indes auch kurz darlegen, wo die Energiepolitik ihren Platz
in der neuen Verfassung gefunden hat. Der Energieartikel der geltenden
Verfassung ist wie erwähnt erst 1990 nach langen Auseinandersetzungen
von Volk und Ständen angenommen worden. Der Bundesrat hat bei allen
Bestimmungen, die erst in den letzten Jahren und oft nach zähem Ringen
in die Verfassung aufgenommen worden sind, ganz bewusst auf materielle
Änderungen verzichtet. Für die Energiepolitik hat er deshalb dem
Parlament mit Artikel 73 des Verfassungsentwurfs eine Bestimmung
vorgeschlagen, die bloss in redaktioneller Hinsicht vom geltenden
Artikel 24octies abweicht. Das Parlament ist ihm ohne grosse Diskussion
gefolgt.

Nach ausführlichen Debatten in den Räten ist auch der Grundsatz der
Nachhaltigkeit in der neuen Verfassung verankert worden. Der Bundesrat
und die klare Mehrheit des Parlamentes sind der Meinung, das Prinzip
einer umfassend verstandenen nachhaltigen Entwicklung sei als wichtige
Handlungsmaxime in der Verfassung ausdrücklich zu erwähnen. Im Ergebnis
haben sich die beiden Kammern darauf geeinigt, den Grundsatz der
Nachhaltigkeit in der Präambel sowie in Artikel 2 über den Zweck der
Eidgenossenschaft anzusprechen. Wenn es im neuen Zweckartikel nun
heisst, die Schweizerische Eidgenossenschaft fördere die nachhaltige
Entwicklung, so bezieht sich das auf die ökologische, wirtschaftliche
und soziale Entwicklung unseres Landes, ferner zum Beispiel auch auf die
Finanzpolitik.

In der Herbstsession 1998 konnten indes die Differenzen zu diesem Aspekt
noch nicht vollständig bereinigt werden. Offen blieb, ob der Abschnitt
über Umwelt und Raumplanung mit einer Bestimmung über die Nachhaltigkeit
speziell im ökologischen Bereich eingeleitet werden soll, wie der
Ständerat dies wünscht, oder ob die umfassende Bestimmung von Artikel 2
genüge. Der Bundesrat würde diese Ergänzung des Ständerates begrüssen.

Max Imboden hat 1966 in seiner bekannten Schrift zur
"Verfassungsrevision als Weg in die Zukunft" festgestellt, dass der
Erfolg einer Verfassung davon abhängt, inwieweit es ihr gelingt,
Leitbilder und symbolträchtige Institutionen hervorzubringen. Ich denke,
dass gerade auch neuen Verfassungsbegriffen wie der "nachhaltigen
Entwicklung" eine derartige Leitbildfunktion innewohnt, die für die
künftige Ausrichtung unserer Politik wegweisend sein soll.

5. Nachhaltige Entwicklung in der Praxis

Die Bundesverfassung kann allerdings nur eine Grundlage schaffen für
eine nachhaltige Entwicklung. Der Grundsatz der Nachhaltigkeit muss in
allen Politikbereichen sowohl in der Gesetzgebung wie in der Praxis
umgesetzt werden. Nehmen Sie als Beispiel die Verkehrspolitik. Zur
Bewältigung des wachsenden Personen- und Güterverkehrs sind wir auf ein
vielseitiges Verkehrssystem angewiesen, das sich auf die Standbeine
Strasse und Schiene stützt. Gleichzeitig müssen wir der Umweltbelastung,
die insbesondere durch den Strassenverkehr verursacht wird, Grenzen
setzen. Die Verkehrspolitik von Bundesrat und Parlament liegt auf dieser
Linie. Das Volk hat sie mit der Annahme der LSVA bestätigt. Am kommenden
29. November geht es nun darum, die Finanzierung wichtiger Bauvorhaben
des öffentlichen Verkehrs sicherzustellen: der Bahn 2000, der NEAT, der
Hochgeschwindigkeitsanschlüsse in der Ost- und Westschweiz und der
Lärmsanierung der Bahnen. Ein Ja zu dieser Vorlage bedeutet ein Ja zu
einer nachhaltigen Verkehrspolitik.

Einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Energie- und Umweltpolitik
leisten auch die heutigen Veranstalter. Die Möglichkeiten der
Sonnenenergie insbesondere im Warmwasser- und Heizbereich sind immer
noch wenig bekannt und wenig genutzt. Die jährliche Verleihung des
Solarpreises gibt hier bewusst Gegensteuer. Denn die preisgekrönten
Solaranlagen machen deutlich, wie mit Sonnenenergie die lokale
Energieversorgung umweltschonend verbessert werden kann und wie dabei
bestehende Gebäudeflächen - auch unter architektonischen Gesichtspunkten
- optimal genutzt werden. Den Preisträgern wie den Veranstaltern möchte
ich an dieser Stelle für ihren Innovationsgeist herzlich gratulieren.
Und ich hoffe sehr, dass die heute ausgezeichneten Projekte und Anlagen
für die Weiterentwicklung der Solartechnik ebenfalls eine
Leitbildfunktion übernehmen werden.