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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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ASYL/Medienkonferenz vom 20.10.1998

Sprechnotiz für Herrn Bundesrat Koller
Medienkonferenz vom 20. Oktober 1998

ANREDE

EINLEITUNG

Wie Sie den bisherigen Ausführungen, namentlich den Zahlenangaben
entnehmen konnten, befinden wir uns im Asylbereich in einer
ausserordentlichen Lage, die nach ausserordentlichen Massnahmen ruft.
Wenn der momentane Ansturm von Kosovo-Albanern auf unsere
Empfangszentren weiter anhält, werden wir im Monat Oktober über 5'000
Asylgesuche verzeichnen und damit alle bisherigen Höchstzahlen, auch
jene aus dem Jahre 1991, weit übertreffen. Sehr viele Kosovo-Albaner
sehen in ihrem Land zur Zeit keine sichere Zukunft mehr. In dieser
Situation ist es wichtig, unsere Bevölkerung über die Gründe dieser
Massenflucht zu informieren und auch darüber, wie wir damit umgehen; was
wir bereits getan oder in die Wege geleitet haben und was wir in der
unmittelbaren Zukunft zu tun gedenken.

DIE JUENGSTE ENTWICKLUNG

Als im März dieses Jahres der Kosovo-Konflikt eskalierte, mussten wir
mit einem Anstieg der Zahl von Asylsuchenden in der Schweiz rechnen. Wie
gross dieser zusätzliche Anstieg sein würde, konnte nur schwer
vorausgesehen werden. Die Ihnen vorhin präsentierten Zahlen zeigen klar
auf, dass der Zustrom ausserordentlich hoch ist. Zwei signifikante
Zahlen möchte ich nochmals in Erinnerung rufen: Von Januar bis Ende
September dieses Jahres wurden ca 57 % mehr Asylgesuche eingereicht als
in der entsprechenden Periode des Vorjahres. Von den Gesuchen des Monats
September fielen 63 % auf Staatsangehörige der Bundesrepublik
Jugoslawien; in rund 95 % der Fälle handelt es sich um Personen aus der
Provinz Kosovo. Die Zunahme der Gesuche ist somit klar durch den
Kosovo-Konflikt bedingt.

Zudem können wir nicht davon ausgehen, dass sich die Lage rasch wieder
beruhigt. Auch wenn im Kosovo das Holbrook-Abkommen umgesetzt wird und
es somit zur Stationierung von OSZE-Truppen kommt, fehlen in der Provinz
selbst und in den Nachbarstaaten wintersichere Unterkünfte. Auch mit
verstärkter Hilfe vor Ort, an der sich die Schweiz stark beteiligt, wird
es in naher Zukunft nicht gelingen, alle Kriegsvertriebenen in der
Region zu beherbergen. Das bedeutet, dass die im Gang befindliche
Fluchtbewegung mindestens noch bis zum Wintereinbruch anhalten wird.
Deshalb ist bei uns wohl erst auf den Jahreswechsel hin mit einer
Beruhigung der Lage zu rechnen. Bis Ende Jahr könnten es anstelle der
prognostizierten 32'000 also durchaus mehr als 40'000 Asylgesuche
werden. Die Lage ist ernst.

Mit diesem Trend steht die Schweiz in Europa inzwischen nicht mehr
alleine da. Ausser in Deutschland ist die Zahl der Asylgesuche in den
ersten acht Monaten dieses Jahres ausnahmslos in allen europäischen
Staaten - und zwar teilweise massiv - gestiegen. Und auch in der BRD
zeigt der Trend inzwischen wieder deutlich nach oben. Sicher sind wir
aber im internationalen Vergleich für Asylsuchende weiterhin
über-durchschnittlich attraktiv.

GRÜNDE FÜR DIE ATTRAKTIVITÄT DER SCHWEIZ

Den wichtigsten Grund dafür bildet die Tatsache, dass sich vor der
Einführung des Drei-Kreise-Modells aufgrund der Rekrutierungspolitik für
ausländische Arbeitskräfte eine grosse Kolonie von Staatsangehörigen aus
Ex-Jugoslawien in unserem Land gebildet hat. Man schätzt, dass rund
150'000 Kosovo-Albaner als Gastarbeiter ein Bleiberecht in unserem Land
haben. Viele fliehende Kosovo-Albaner haben daher Bekannte oder
Verwandte in der Schweiz. Unser Land ist also nicht zufällig eines der
Hauptzielländer für Kriegsvertriebene aus dem Kosovo. Und diese
Attraktivität lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Ein zweiter
Grund der besonderen Atttraktivität der Schweiz liegt in der
europapolitischen Isolierung unseres Landes. Als Ausgleichsmassnahme zum
freien Personenverkehr und zum Wegfall der Grenzkontrollen an den
Binnengrenzen haben die EU-Mitgliedstaaten 1990 das Dublin Abkommen
unterzeichnet. Dieses Abkommen ist am 1. September letzten Jahres in
Kraft getreten. Es bezeichnet den für die Behandlung eines Asylgesuches
zuständigen Mitgliedstaat. Hat der zuständige Staat ein Asylgesuch
abgelehnt, kann die betreffende Person nicht auf andere EU-Staaten
ausweichen und dort erneut ein Asylgesuch stellen. Damit soll verhindert
werden, dass Asylsuchende im EU-Raum nacheinander mehrere Asylverfahren
durchlaufen können. Obwohl das Abkommen noch nicht konsequent umgesetzt
werden kann (das Fingerabdrucksystem EURODAC funktioniert noch nicht),
hat es doch bereits Signalwirkung. Zunehmend betrachten viele
Asylsuchende die Schweiz in Westeuropa als einzige Alternative zum
EU-Raum.

Wir streben seit mehreren Jahren den Abschluss eines Parallelabkommens
mit der EU zum Dubliner Übereinkommen an. Wie Ihnen sicher bekannt ist,
macht die EU die Aufnahme von Verhandlungen über ein Parallelabkommen
mit der Schweiz neuerdings vom erfolgreichen Abschluss der laufenden
bilateralen Verhandlungen abhängig.

Um die durch unser Abseitsstehen bedingten Nachteile so weit wie möglich
aufzufangen, haben wir die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarstaaten
verstärkt. So verbinden wir die gegenwärtigen Verhandlungen mit
Frankreich, Italien und Österreich über eine verstärkte
grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Polizeibereich mit Gesprächen
über den Abschluss neuer Rückübernahmeabkommen. Wichtig ist in diesem
Zusammenhang, dass es diesen Herbst nach jahrzehntelangen erfolglosen
Bemühungen gelang, ein Rückübernahmeabkommen mit Italien zu
unterzeichnen. Wir rechnen damit, dass dieses für uns wichtige Abkommen
in der Frühjahressession 1999 vom Parlament ratifiziert werden kann.

Ein dritter Grund für die Attraktivität der Schweiz als Asylland besteht
im nach wie vor hohen Leistungsstandard, den die Schweiz im Vergleich
zum europäischen Umfeld in den Augen der Asylsuchenden of-fenbar bietet.
Obwohl im Fürsorgebereich Sparmassnahmen getroffen wurden und die
Fürsorgeleistungen rund 20 % unter denjenigen für Schweizerbürger
liegen, sind die Kosten nach wir vor hoch. Der schweizerische
Fürsorgestandard entspricht laut einer Studie, die eben erschienen ist,
ungefähr demjenigen der Bundesrepublik und der nordischen Staaten.
Einige europäische Länder hingegen beschränken ihre Leistungen entweder
zeitlich -(Italien zum Beispiel auf insgesamt 45 Tage) oder schliessen
ganze Kategorien von Asylsuchenden - beispielsweise solche mit
abgelehntem Asylgesuch und abgelaufener Ausreisefrist - grundsätzlich
von der Fürsorge aus. Dazu kommt, dass den Asylsuchenden in vielen
europäischen Ländern der Zugang zum Arbeitsmarkt grundsätzlich verwehrt
ist, während sie bei uns nach drei bis sechs Monaten arbeiten können,
sofern sie eine Stelle finden, für die weder Schweizer noch Ausländer
mit Jahresaufenthalts- oder Niederlassungsbewilligungen rekrutiert
werden können.
Aber nochmals: Zum überwiegenden Teil sind die brutalen Zerstörungen und
der bewaffnete Kampf gegen die UCK im Kosovo für die heutige Situation
verantwortlich. Deshalb appelliere ich an unsere Bevölkerung, den
Menschen, die nun in immer grösserer Zahl in grosser Not bei uns Schutz
suchen, Verständnis entgegenzubringen. In ihrer Situation würden auch
viele von uns flüchten.

UEBERLAGERUNG DER BEREITS EINGELEITETEN MASSNAHMEN

Ich erinnere daran, dass wir bereits im letzten Jahr steigende
Asylgesuche zu verzeichnen hatten und deshalb rasch Massnahmen ergriffen
oder für dieses Jahr ins Auge fassten. Zur Erhöhung der Effizienz im
Asylwesen und zur Bekämpfung erkannter Missbräuche haben wir folgende
Massnahmen getroffen:

- Wir haben den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen im
Asylbereich am vergangenen 1. Juli in Kraft gesetzt;.
- Wir haben die Totalrevision des Asylgesetzes verabschiedet;
- Wir haben die personellen Ressourcen des Bundesamtes für Flüchtlinge
und der Schweizerischen Asylrekurskommission im Juni um 155 Stellen
erhöht;
- Wir haben Herkunftsanalysen eingeführt, um falsche Angaben von
Asylsuchenden zu ihrer Staatsangehörigkeit aufzudecken;
- Wir haben das Grenzwachtkorps um 100 Stellen verstärkt;
- Wir haben auf der internationalen Ebene im Zusammenhang mit Kosovo
eine Burden-sharing Konferenz postuliert;
- Wir haben zusammen mit den Kantonen ein Massnahmenpaket
"Wegweisungsvollzug" beschlossen.

AUSSERORDENTLICHE MASSNAHMEN

Der massive Zustrom von Vertriebenen aus dem Kosovo stellt Bund und
Kantone nun vor neue, vordringliche Herausforderungen. Nach dem Ausbruch
des Kosovo-Konflikts im März dieses Jahres war uns klar, dass die
Asylgesuche im Herbst weiter steigen würden. Noch im gleichen Monat
haben wir die Kantone aufgefordert, die nötigen Vorkehren zu treffen.
Gleichzeitig haben wir Massnahmen eingeleitet, um die Kapazitäten in den
Empfangsstellen zu erhöhen. Damit ist es uns gelungen, die Bettenzahl zu
verdoppeln und die Verfahrenskapazitäten in den Empfangsstellen zu
vervierfachen. Im September haben wir die Planung für weitere
Notunterkünfte in Bronschofen, Rüti und Riggisberg eingeleitet. Diese
sind noch vor Ende dieses Monats bezugbereit, was die zusätzliche
Unterbringung von ca 500 Personen ermöglichen wird.

In der letzten Woche hat sich die Lage nochmals verschärft. Um die Zahl
der Verfahren in den Empfangsstellen weiter zu erhöhen, wurde für
Asylsuchende aus dem Kosovo, die ihre Identitäspapiere vorweisen, eine
vereinfachte Registrierung beschlossen. Das wird uns erlauben, pro Monat
ca 1 000 Personen mehr auf die Kantone zu verteilen als bis-her. Im
übrigen haben wir gestern abend in Kreuzlingen eine zusätzli-che
Notunterkunft mit 150 Plätzen eröffnet.

Die jetzige Situation lässt sich mit zivilen Mitteln allein nicht mehr
bewältigen. Ich habe dem Bundesrat deshalb beantragt, die Armee für die
Betreuung und Unterbringung von Asylsuchenden einzusetzen. Wir werden
uns damit morgen befassen und Sie nach der  Sitzung informieren.

ECKPFEILER DER SCHWEIZERISCHEN ASYLPOLITIK

Ich bin überzeugt, dass wir - wie bereits 1991, als wir 42 000
Gesuchseingänge zu verzeichnen hatten - auch die nun eingetretene,
schwierige Situation erneut meistern werden. Das bedingt aber, dass wir
alle am gleichen Strick ziehen und nicht in Panik machen. An folgenden
für den Bundesrat wichtigen Eckpfeilern der Asylpolitik wollen wir
festhalten:

1. Erklärter Bestandteil der humanitären Verpflichtung der Schweiz ist
eine Flüchtlings- und Asylpolitik, die verfolgten und schutzbedürftigen
Personen Zuflucht gewährt. Und dass die Vertriebenen aus dem Kosovo zur
Zeit schutzbedürftig sind, steht erfreulicherweise auch in der
Oeffentlichkeit ausser Diskussion. Wer das nicht einsieht und mit feigen
Anschlägen auf Asylzentren oder Notunterkünfte reagiert, verdient
strafrechtlich verfolgt und bestraft zu werden.

2. Die Hilfe vor Ort, d. h. im Kosovo oder den Nachbarländern ist die
beste Hilfe. Die Schweiz hat sich hier bereits stark engagiert und will
ihre Hilfe noch verstärken.

3. Klar muss auch von Anfang an sein, dass es sich bei den meisten
Vertriebenen um einen Schutz für beschränkte Zeit handelt, weil sie -
ähnlich wie im Fall Bosnien - nach der Befriedung des Landes in ihre
Heimat zurückkehren müssen.

4. Die Schweiz nimmt zur Zeit, weil sie aus den genannten Gründen für
Kosovo-Albaner besonders attraktiv ist, verhältnismässig mehr
Vertriebene aus diesem Lande auf als andere Staaten. Aber auch unsere
Mittel sind beschränkt, und wir sind daher auf eine grössere
internationale Solidarität angewiesen. Angesichts des Ausmasses des
Flüchtlingsstroms fordern wir das UNHCR erneut auf, eine internationale
Kosovo-Konferenz für eine bessere Verteilung der Lasten aus dem
Kosovo-Konflikt einzuberufen.

5. Das Kosovo-Problem wie das Asyl-Problem generell werden wir nicht in
geordnete Bahnen lenken können, wenn es nicht gelingt, unter den
Protagonisten der Asylpolitik - Kantone, Parteien, Hilfswerke, Kirchen -
ein Feld gemeinsamer Grundsätze zu finden, auf deren Einhaltung sich
alle verpflichten. Ich werde deshalb in den nächsten Wochen eine Reihe
Gespräche führen, mit dem Ziel, eine Plattform des Konsenses zu finden.
Eine erste Aussprache werde ich mit einer Delegation der zuständigen
Regierungsräte in den Kantonen nächste Woche pflegen. Anschliessend
gedenke ich die Hilfswerke und die Vertreter der Kirchen zu empfangen.
Natürlich schätze ich es sehr, dass parallel dazu auch die Parteien die
Initiative ergriffen haben und sich über mögliche gemeinsame Lösungen zu
den sich stellenden Problemen im Asylbereich aussprechen werden. Diese
Reihe intensiver Gespräche sollen Themen wie Unterbringung,
Fürsorgestandard, Finanzierung, Verfahren und Rückkehr betreffen.

In diesem Zusammenhang bedaure ich, dass gegen das totalrevidierte
Asylgesetz und den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen im Asyl-
und Ausländerbereich das Referendum ergriffen worden ist. Denn der
kommende Abstimmungskampf wird den nötigen Konsens und die Meisterung
der schwierigen Probleme leider erschweren.

Die politisch Verantwortlichen müssen nichts desto trotz gemeinsame
tragfähige Lösungen erarbeiten. Wir sind dies der humanitären Tradition
unseres Landes und Tausenden von schutzbedürftigen und verfolgten
Menschen schuldig. Wir Politiker sind das auch unserem Volke schuldig,
denn es hat klar gezeigt, dass es zweierlei will: Menschen in Not
grossmütig helfen und Missbräuche effizient bekämpfen.