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Raumplanungsgesetz/Hilfe zur Selbsthilfe aber kein Freipass für die Zersiedelung

Es gilt das gesprochene Wort

Raumplanungsgesetz
Hilfe zur Selbsthilfe aber kein Freipass für die Zersiedelung!

Ansprache von Bundesrat Arnold Koller
Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements
an der Eröffnung der 56. OLMA, St. Gallen, den 8. Oktober 1998

[Anrede]
" Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer
Jugend empfangen hatten; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen,
wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen".  Das ist nicht das
treffende Wort eines Zeitgenossen. Nein, kein geringerer als Goethe hat
dies bereits vor 188 Jahren in seinen "Wahlverwandtschaften"
geschrieben. Und trotzdem ist das Zitat der heutigen Zeit auf den Leib
geschrieben und gerade in der Landwirtschaft von höchster Aktualität.

Goethes Ausspruch gilt auch für die OLMA. Nicht nur, weil sie fast alle
fünf Jahre umbaut. Auch sie muss sich ständig wechselnden Bedürfnissen
anpassen. Denn nur so bringt sie ihre Besucher auf den neuesten
Wissensstand. Von solchem Angebot macht das Publikum gerne und, wie ich
den Organisatoren und Ausstellern wünsche, auch ausgiebig Gebrauch.

Es freut mich daher ganz besonders, Ihnen allen die beste Wünsche und
Grüsse des Bundesrates zu überbringen und so seine Verbundenheit mit der
OLMA, mit der Ostschweiz und mit der schweizerischen Landwirtschaft zum
Ausdruck zu bringen.

Ein besonderer Gruss geht an den Gastkanton Thurgau, der im heurigen
Jubiläumsjahr 150 Jahre Bundesstaat den 200. Geburtstag seiner
Unabhängigkeit und Freiheit als Glied der Eidgenossenschaft begeht. In
seiner soliden Tüchtigkeit, in seiner von verschiedenen Autoren als
paradiesisch beschriebenen Landschaft, ist der Thurgau ein Stand, wo
Bodenverbundenheit und innovatives Unternehmertum sich wohltuend
ergänzen.

Meine Damen und Herren

Auch Bäuerinnen und Bauern müssen sich immer mehr als innovative
Unternehmer verstehen, denn nur so ist der ungeheure Wandel, dem die
Landwirtschaft zur Zeit unterworfen ist, überhaupt zu bewältigen. In
solch herausforderndem Wandel nicht zu resignieren, sondern eine Chance
für die Weiterentwicklung zu sehen, verlangt von den Bäuerinnen und
Bauern Innovationsgeist und Zukunftsglauben. Das muss man sie übrigens
nicht lehren; das wissen sie selbst am besten. Vor allem unsere jungen
Bäuerinnen und Bauern verlangen von der Politik aber zu Recht zu wissen,
wohin die Reise geht und dass die notwendigen Änderungen nicht Hals über
Kopf, sondern berechenbar und in angemessenen Fristen realisiert werden.

Der Gesetzgeber hat in kurzer Zeit für diese Transparenz und für
erträgliche Übergangsfristen gesorgt, indem er für die Weiterentwicklung
der Schweizer Landwirtschaft vier Leitplanken vorgegeben hat.

Zunächst das bäuerliche Bodenrecht, das die Spekulation in der
Landwirtschaftszone verhindert und nach dem Motto "Bauernland in
Bauernhand" die Selbstbewirtschaftung des Bodens fördert, hat
massgeblich dazu beigetragen, dass die landwirtschaftlichen Bodenpreise
seit dem Inkrafttreten des Gesetzes bis zu einem Drittel und mehr
gesunken sind und derart die Produktionskosten unserer Landwirtschaft
massgeblich gesenkt werden konnten.

Die zweite Leitplanke setzt das WTO-Abkommen mit seinem weltweiten
Liberalisierungsschub, das die Landwirtschaft - und das sei hier
öffentlich anerkannt - aus Einsicht in die Notwendigkeit der
Marktöffnung und in Solidarität mit der Industrie und dem
Dienstleistungssektor ohne Referendum akzeptiert hat.

Die dritte Leitplanke setzt die Agrarpolitik 2002, die den von Volk und
Ständen am 9. Juni 1996 mit überwältigendem Mehr angenommenen
Agrarartikel 31octies BV umsetzt. Sie dehnt die marktwirtschaftliche
Erneuerung auf den Agrarsektor aus, erhöht die Wettbewerbsfähigkeit der
Landwirtschaft und schafft Anreize für eine nachfragegerechte Produktion
sowie für ökologische Leistungen. Daraus resultiert eine höhere
Wertschöpfung, die den Bedarf nach Direktzahlungen in Grenzen hält. Das
Volk hat dieses agrarpolitische Konzept mit der wuchtigen Ablehnung der
Kleinbauerninitiative am letzten Abstimmungswochenende klar bestätigt.

Die vierte Leitplanke soll das revidierte Raumplanungsgesetz setzen,
indem es die raumplanerischen Vorgaben in der Landwirtschaftszone so
regelt, dass sich die Landwirtschaft den veränderten Rahmenbedingungen
besser anpassen kann. Gegen dieses Gesetz ist das Referendum mit 56'817
Unterschriften zu Stande gekommen und unser Volk wird darüber
wahrscheinlich im nächsten Februar zu entscheiden haben.

Was bringt die Revision des Raumplanungsgesetzes der Landwirtschaft und
was bedeutet sie für den Landschaftsschutz?

Erstens wird der Grundsatz "Wohnen bleibt Wohnen" im Gesetz verankert.
Damit wird einerseits der gelebten Wirklichkeit und andererseits
menschlicher Billigkeit Rechnung getragen. Heute müsste eine
Bauernfamilie, die ihren Betrieb aufgibt, bei korrekter Anwendung des
geltenden Rechts ihr Heimwesen verlassen und in eine in der Bauzone
gelegene Wohnung umziehen. Neu sollen solche Familien auch von Gesetzes
wegen am angestammten Ort bleiben dürfen. Zudem soll eine zusätzliche
Wohnung eingebaut werden dürfen, damit "Ferien auf dem Bauernhof"
angeboten werden können.

Zweitens reicht das Einkommen aus der Landwirtschaft immer häufiger
nicht mehr aus, um die Existenz einer Bauernfamilie zu sichern. Viele
Landwirtschaftsbetriebe sind daher auf ein Zusatzeinkommen angewiesen.
Ein landwirtschaftlicher Betrieb soll daher Bauten, die für die
Landwirtschaft nicht mehr benötigt werden, nicht nur für eigenes oder
fremdes Wohnen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch gewerblich
nutzen dürfen. In diesem engen, nebenbetrieblichen Rahmen darf in einem
Ökonomiegebäude beispielsweise eine kleine Schreinerei oder eine kleine
mechanischen Werkstätte betrieben werden. Diese Verbindung von
Landwirtschaft und Nebengewerbe ist nichts Neues und sie hat sich
traditionell bewährt. Ohne zusätzlichen Verdienst durch Stickerei,
Weberei, Strohindustrie oder die Einzelanfertigung von Uhren wären
zahllose Bauernbetriebe in der Ostschweiz, im Aargau oder im Jura
bereits im letzten Jahrhundert aufgegeben worden. So hat die
Landwirtschaft in schweren Zeiten aus eigener Anstrengung und Hand in
Hand mit Industrie und Gewerbe überlebt.
Drittens gelten alle Bauten, die für die Erzeugung landwirtschaftlicher
Produkte nötig sind, in der Landwirtschaftszone als zonenkonform. Dies
unabhängig von der Produktionsweise. Es dürfen also auch Bauten für die
sogenannte bodenunabhängige Produktion im Rahmen der ordentlichen
Verfahren bewilligt werden. Dabei stellt das breit angelegte
demokratische Planungsverfahren sicher, dass alle Betroffenen ihre
Anliegen frühzeitig einbringen können, wobei den Interessen des
Landschaftsschutzes besondere Bedeutung zukommt. So können räumliche
Fehlentwicklungen wirkungsvoll verhindert werden.

Meine Damen und Herren,

Entgegen der Behauptungen des Referendumskomitees ist das revidierte
Raumplanungsgesetz also  kein Freipass für die Zersiedelung der
Landschaft. Der verfassungsmässig und gesetzlich verankerte Grundsatz,
wonach Baugebiet und Nichtbaugebiet zu trennen sind, wie auch die
Anliegen des Landschaftsschutzes bleiben gewahrt. Das Gesetz bringt aber
eine für die Landwirtschaft unerlässliche Öffnung innerhalb klarer
Schranken. Das revidierte Raumplanungsgesetz und die Agrarpolitik 2002
verfolgen daher dieselben Ziele.

Unsere Landwirtschaft ist heute zwingend auf Flexibilität angewiesen.
Sie steht wegen des weiterhin abnehmenden Importschutzes unter erhöhtem
Wettbewerbsdruck. Um auch im europäischen Kontext konkurrenzfähig zu
bleiben, muss die Landwirtschaft ihre Produktionsmethoden unbedingt dem
internationalen Markt anpassen können. Es geht nicht an, dass wir von
unserer Landwirtschaft zwar verlangen, sich gemäss unseren
WTO-Verpflichtungen vermehrt am Markt zu orientieren, ohne aber im
Inland die für die Erfüllung solcher Verpflichtungen erforderlichen
Rahmenbedingungen zu schaffen. Unsere Landwirte müssen daher, wenn sie
konkurrenzfähig bleiben oder wieder werden wollen, in der
Landwirtschaftszone auch bodenunabhängig produzieren können. Denn es
macht offensichtlich keinen Sinn, Hors-sol-Produkte über hunderte von
Kilometern aus dem Ausland zu beschaffen, ihre Produktion im Inland aber
zu verbieten.

Solches ermöglicht das revidierte Raumplanungsgesetz. Es wird aber nicht
dazu führen, dass Gewächshäuser und Tierfabriken überall wie Pilze aus
dem Boden schiessen und unsere Landschaft verschandeln.
Die Kantone haben es nämlich in der Hand, unter sorgfältiger Abwägung
sämtlicher Interessen und mit Blick auf die unterschiedliche
Empfindlichkeit der Landschaft grossflächige Landwirtschaftsgebiete der
herkömmlichen, also der bodenabhängig produzierenden Landwirtschaft
vorzubehalten. Masttierstallungen haben zudem den
gewässerschutzrechtlichen Bestimmungen sowie den strengen
tierschutzrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die staatliche
Agrarpolitik fördert sodann nur die bodenabhängige Produktion. Es wäre
in einer Marktwirtschaft aber verfehlt, wenn nur das als Landwirtschaft
gelten würde, was der Bund unter ökologischen Gesichtspunkten
subventioniert. Zudem werden Hors-Sol-Bauten nur dann erstellt, wenn
entsprechende Produkte von den Konsumentinnen und Konsumenten auch
tatsächlich nachgefragt werden.

Nebenerwerb aus nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeit gibt unseren Bauern
zusätzliche Flexibilität. Ein starkes und selbstbewusstes Gewerbe hat
davon nichts zu fürchten, denn der Flexibilitätsgewinn bei der
Landwirtschaft erfolgt nicht auf dem Buckel des Gewerbes.

"Gewerbeinseln" auf der grünen Wiese sind und bleiben auch in Zukunft
unzulässig: Gewerbebetriebe gehören in die Bauzonen und haben auf dem
günstigen Landwirtschaftsboden grundsätzlich nichts zu suchen.

Die Bewirtschaftung des Bodens bleibt für den Bauern nach wie vor die
Haupttätigkeit. Ohne sie kann er in der Landwirtschaftszone nicht
gewerblich tätig werden. Er muss auch den gesamten Betrieb, also den
landwirtschaftlichen und den nichtlandwirtschaftlichen Teil, selbst
führen. Neu-, An- oder Aufbauten zu gewerblichen Zwecken sind nicht
möglich. Zudem gelten etwa bezüglich Umweltschutz, Hygiene oder
Arbeitssicherheit in jeder Beziehung dieselben Vorschriften wie für
jeden anderen Gewerbebetrieb. Schliesslich kann ein Nebenbetrieb kraft
der strengen Vorschriften des bäuerlichen Bodenrechts auch nicht einfach
abgetrennt und dann als selbständiges Gewerbe auf der grünen Wiese
betrieben werden.

Die neuen Nutzungsmöglichkeiten in der Landwirtschaftszone sind aber ein
wichtiger Anreiz, dass Bauten, die in ihrer Substanz noch erhalten sind,
nicht dem Verfall anheimgestellt, sondern sinnvoll weiterverwendet
werden. Zudem besteht gerade dort, wo Bauten die Landschaft massgeblich
prägen - ich denke insbesondere an die Streusiedlungsgebiete wie bei uns
im Appenzellerland, im Toggenburg und im Fürstenland - häufig auch aus
Gründen des Landschaftsschutzes ein eminentes Interesse daran, die
bestehende Bausubstanz zu erhalten. Der Handlungsbedarf wird klar, wenn
man bedenkt, dass die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe innert der
letzten zehn Jahre von rund 99'000 auf rund 79'500 geschrumpft ist und
dass sich dieser Trend gemäss einer Studie von Prof. Rieder mit 1,5% pro
Jahr fortsetzen wird. Es ist auch offensichtlich, dass sich aus
Umnutzungen und den damit verbundenen Umbauten, insbesondere für das
Baugewerbe neue Chancen eröffnen.

Die Gegner der Revision behaupten, das revidierte Raumplanungsgesetz
führe zu einer Zersiedelung der Landschaft. Die gegenteilige Gefahr,
dass sich die berechtigte Umnutzung nicht mehr für die Landwirtschaft
benötigter Bauten auserhalb des Gesetzes, ohne klare Leitlinie
entwickelt, erscheint dem Bundesrat grösser, als wenn wir den Mut haben,
eine vernünftige, gesetzlich kontrollierte Öffnung zu erlauben und dann
auch konsequent durchsetzen. Mit dem Konzept der Multifunktionalität der
Landwirtschaft trägt das Gesetz sogar zusätzlich zur Erhaltung der
Landschaft und des Erholungsraumes bei. Neu wird nämlich festgelegt,
dass die Landwirtschaftszone nicht nur der Sicherung der
Ernährungsbasis, sondern auch der Erhaltung der Landschaft und des
Erholungsraumes sowie dem ökologischen Ausgleich dient.

Die Revision des Raumplanungsgesetzes ist aber auch ein
volkswirtschaftliches Muss. Sie bietet der Landwirtschaft in einer Zeit,
in der Subventionen aus übergeordnetem Interesse weiter gekürzt werden
müssen, Hilfe zur Selbsthilfe. Es gilt, Begrenzungen der
Eigenverantwortung, der Eigeninitiative und der Kreativität abzubauen.
So gesehen eröffnet das revidierte Raumplanungsgesetz unseren Bauern
neuen unternehmerischen Spielraum.

Schliesslich - und dies liegt mir als Vorsteher des Eidgenössischen
Justiz- und Polizeidepartements naturgemäss besonders am Herzen - gilt
es die nicht oder nur noch mangelnd gewährleistete Rechtssicherheit
wieder herzustellen. Denn gelebte Praxis und Gesetz klaffen heute leider
immer mehr auseinander. Dem können und dürfen wir nicht tatenlos
zusehen. Wir dürfen das Feld auch nicht ausschliesslich den Gerichten
überlassen. Ihre Aufgabe ist die Einzelfallgerechtigkeit. Die
massgeblichen Leitlinien aber muss der Gesetzgeber festlegen. Die
Revisionsvorlage schafft die nötige Klarheit und steckt den Rahmen
dessen, was künftig zulässig sein soll, deutlich und transparent ab.

Meine Damen und Herren,

Das Raumplanungsgesetz bietet der Landwirtschaft Hilfe zur Selbsthilfe.
Es ist Teil der vom Volk grossmehrheitlich mitgetragenen und
zukunftsträchtigen Agrarpolitik 2002. Es ist kein Freipass für
schrankenlosen Eigennutz, sondern ein zeitgemässer Akt der Solidarität
mit der sich in herausforderndem Wandel befindlichen Landwirtschaft. Es
ist ausserdem ein vernünftiger Kompromiss zwischen den Forderungen nach
grösstmöglicher Flexibilität und überholten Schranken, die sogar die
Erhaltung der bestehenden Bausubstanz verhindern würden.

Die OLMA, als Schweizer Messe für Landwirtschaft, ist eng mit dem
Schicksal der Bauernsame verbunden. Volk und Stände haben in den letzten
Jahren wichtige Entscheide für die künftige Entwicklung der
Landwirtschaft in unserem Land gesetzt. Es gilt dies nun zu nutzen. Denn
wie die vergangene Abstimmung gezeigt hat, sollen nach dem Willen
unseres Volkes die Bäuerinnen und Bauern nicht Bezüger staatlich
garantierter Renten, sondern innovative und umweltbewusste Unternehmer
sein. Gleiches wünscht der Bundesrat auch der jung gebliebenen OLMA.