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Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Medienkonferenz zur Verfassungsreform

Es gilt das gesprochene Wort

Medienkonferenz zur Verfassungsreform
29. Juni 1998

Votum von Bundesrat Arnold Koller

Am 27. Juni 1994 habe ich an einer Pressekonferenz erklärt: "Der
Bundesrat hat beschlossen, das Projekt Totalrevision der
Bundesverfassung wieder in Angriff zu nehmen. Er gedenkt, im Jahre 1995
einen Vorentwurf für eine neue Bundesverfassung vorzulegen und bei
positiver Aufnahme dem Parlament 1996 eine entsprechende Botschaft zu
unterbreiten (...), so dass auf 1998 - dem 150-Jahr Jubiläum unseres
Bundesstaates - eine entsprechende Vorlage verabschiedet werden kann."

Vier Jahre später können wir  mit Genugtuung festhalten, dass dieser
ambitiöse Zeitplan bisher eingehalten werden konnte, was für politische
Projekte dieser Grössenordnung selten ist. Mindestens die Nachführung
und die Justizreform sollten vom Parlament noch in diesem Jahr zuhanden
der Volksabstimmung verabschiedet werden können. Es ist wichtig, dass
darüber noch in dieser Legislatur abgestimmt werden kann. In Frage
kommen der April- und Junitermin 1999.
Ich möchte daher dem Parlament, vor allem den Mitgliedern und
Präsidenten der beiden grossen Verfassungskommissionen, für die grosse
geleistete Arbeit bestens danken.

Beurteilung der Lage

Ich habe wiederholt festgestellt, dass auf der einen Seite zu viel, auf
der anderen Seite zu wenig von der Verfassungsreform erwartet wird. Die
einen wünschen sich einen visionären Wurf, der künftige Entwicklungen
möglichst vorweg nimmt. Dies vermag keine Verfassung zu leisten. Die
Verfassung kann nicht dem politischen Willen der Mehrheit vorauseilen.
Selbst revolutionäre Verfassungen werden post eventum geschrieben. Die
andern sehen in der Verfassungsreform weiterhin eine nutzlose
Schönschreibeübung. Sie unterschätzen damit die Schwächen der geltenden
Verfassung und damit auch Bedeutung der "mise à jour". Zudem verkennen
sie, dass die Nachführung im Konzept des Bundesrates auch als
Initialzündung für weitreichende materielle Reformen dient.

Die bisherigen parlamentarischen Beratungen haben die Richtigkeit des
gewählten Konzepts der Verfassungsreform bestätigt. Die Nachführung des
geltenden geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsrechts als Start
und Rahmen für den ganzen Prozess der Verfassungsreform hat sich als
notwendig, wenn naturgemäss nicht begeisternd erwiesen. Eine materielle
Totalrevision im klassischen Sinn, wo in einem einzigen Aufwisch die
Lösung aller hängigen verfassungsrechtlichen Probleme angepeilt wird,
hätte in der heutigen Zeit politisch keine Chance. Das haben die
Beratungen der beiden Reformpakete "Justiz" und "Volksrechte" klar
gezeigt.

Die Nachführung wurde anfänglich, obwohl Sie ja ein Mandat des
Parlamentes aus dem Jahre 1987 darstellt, vielfach als Prokrustesbett
empfunden. Mit dem Fortschritt der Beratungen hat sich in allen
politischen Lagern immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass nur eine
konsequente und transparente Einhaltung dieses Prinzips zum Erfolg
führen kann, dies jedenfalls in politisch sensiblen Fragen.

Das mag mit ein Grund sein, dass die staatspolitische Bedeutung der
nachgeführten Verfassung zur Zeit unterschätzt wird. Wenn man
beispielsweise bedenkt, dass das Parlament am 1996 revidierten
Sprachenartikel vier Jahre gearbeitet hat und jetzt in kürzerer Zeit
einen umfassenden Katalog der Grundrechte, die massgeblichen
Sozialziele, den heute gelebten Föderalismus und auch das Sprachenrecht
in verbesserter Form erarbeitet hat, dann wird einem die ganz andere
Dimension dieses Unternehmens Verfassungsreform bewusst.

Ich möchte den Eigenwert der Nachführung am Beispiel des Sozialstaates
kurz erläutern. In der geltenden Verfassung ist der moderne Sozialstaat
kaum erkennbar. Sie finden im wesentlichen bloss einige verstreute
Kompetenzartikel. Die neue Verfassung macht die Sozialstaatlichkeit
gleich dreifach sichtbar: durch die Sozialrechte, die Sozialziele und
den Aufgabenkatalog. Die Sozialrechte begründen einklagbare Ansprüche
des Einzelnen. Die neue Verfassung kennt das Recht auf Hilfe in Notlagen
(Art. 10), die unentgeltliche Rechtspflege (Art. 25 Abs. 3) und das
Recht auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art.
16a). Die Sozialziele (Art. 33) gewährleisten keine konkreten, klagbaren
Ansprüche, es handelt sich vielmehr um Aufträge zur gesetzgeberischen
Ausgestaltung. Erst das Gesetz gewährt dann Ansprüche im Bereich der
Gesundheit, der Arbeit, der Schutz der Familie, der Förderung der Jugend
usw. Die Sozialziele sind nicht zufällig ausgewählt, sondern betreffen
die elementaren Aspekte des menschlichen Lebens. Als wichtiger Grundsatz
wird in Artikel 33 gleichzeitig der Vorrang der Eigeninitiative
verankert. Im Kapitel über die Kompetenzen findet sich schliesslich ein
Abschnitt über Wohnen, Arbeit, soziale Sicherheit und Gesundheit (Art.
99ff.). Auch er macht die soziale Dimension unseres Bundesstaates
sichtbar. Dieses Beispiel zeigt anschaulich, wie die neue Verfassung
Transparenz und Klarheit schafft.

Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit
Lassen Sie mich zum Schluss ein Wort zur Öffentlichkeitsarbeit sagen.
Von Beginn weg war es unser Ziel, die Bürgerinnen und Bürger in das
Projekt Verfassungsreform einzubeziehen und sie umfassend zu
informieren. Die Bundesversammlung hat diese Linie weitergezogen. Wir
sind uns bewusst, dass wir mit unseren Bemühungen noch keinen
durchschlagenden Erfolg erzielt haben. Die Bedeutung der Vorlage
verlangt indes, dass wir den gesetzlichen Informationsauftrag weiterhin
konsequent wahrnehmen. Die frühzeitige Sensibilisierung der
Öffentlichkeit für das Thema ist denn auch das wichtigste Ziel der
Plakataktion, die wir Ihnen anschliessend näher vorstellen werden. In
verstärktem Mass wird Öffentlichkeitsarbeit notwendig sein, wenn die
Bundesversammlung ihre Beratungen abgeschlossen hat und ein definitiver
Verfassungstext vorliegt. Dafür sind wir auch auf Ihre Mitarbeit und
kritische Begleitung angewiesen, für die ich Ihnen schon heute danke.