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Festrede am Dies academicus zum 100jährigen Jubiläum der Universität St. Gallen

Es gilt das gesprochene Wort

Die Universität im Kräftefeld von Politik und Wirtschaft

Festrede von Bundesrat Arnold Koller am Dies academicus
zum 100jährigen Jubiläum der Universität St. Gallen

St. Gallen, 6. Juni 1998

1.	Einleitung
"L' université est le dernier bastion de la monarchie". Dieser Satz, vor
nicht allzu langer Zeit gelesen, hat mich ausserordentlich irritiert.
Was ist damit gemeint? Wird hier etwa positiv darauf angespielt, dass es
immerhin die Monarchie war, die schon im Jahre 1215 die magna charta
libertatum, ein auch für die Universität unverzichtbares Dokument der
Unabhängigkeit und Autonomie, hervorgebracht hat, oder wird eher negativ
auf eine Art überwunden geglaubtes Gottesgnadentum der Professoren
angespielt. Drückt der irritierende Satz die Notwendigkeit der
Ausbildung von Eliten oder mangelnde demokratische Kontrolle aus? Von
einem Schweizer kann das Bonmot kaum stammen; denn in Sachen Monarchie
fehlt uns jede Kompetenz. Wir würden eher an die universitas magistrorum
et scholarum denken, also an die korporative Organisation der
Universität. Denn davon verstehen wir zweifellos mehr.
Möglicherweise soll die einleitende Behauptung aber auch nur die
Zweckfreiheit des Erkennens in einer Welt von lauter Nützlichkeiten
herausstellen, eine Erfahrung, die ich selbst als Student schon an der
alten Handelshochschule gemacht habe, wenn ich jeweils am Samstagmorgen
mit der Appenzellerbahn nach St. Gallen fuhr, um bei Professor Beausire
zusammen mit drei anderen unentwegten Kommilitonen "Le retour de
l'enfant prodigue"  von André Gide zu lesen. So mannigfaltig ist die
Universität.
Was ihre Aufgaben anbelangt, besteht heute weitestgehend Einigkeit, dass
sie drei Grundaufgaben hat: die akademische Berufsausbildung, die
wissenschaftliche Forschung sowie die Heranbildung des eigenen
wissenschaftlichen Nachwuchses. Welches aber sind ihre Wesensmerkmale?
Worauf kommt es letztlich an?

2.	Die Universität als Hort der Wissenschaftsfreiheit
Zuvorderst muss die Universität ein Hort der Wissenschaftsfreiheit sein.
Wer einmal mit wachen Sinnen am Kelch des Wissens genippt hat, der weiss
um die Freiheit des menschlichen Geistes. Neugierde und Wissensdurst
sind menschliche Grundeigenschaften. Die Freiheit zu lernen, zu forschen
und zu lehren gehört deshalb zu den elementaren Rechten des Menschen.
Laut bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die Wissenschaftsfreiheit in
der weit gefassten Meinungsäusserungsfreiheit enthalten. Der Bundesrat
und nun auch die Eidgenössischen Räte wollen sie im Rahmen der laufenden
Verfassungsreform in den umfassenden Grundrechtskatalog aufnehmen und
damit auch aufwerten.
Nun garantieren Verfassungstexte allein bekanntlich noch keine
tatsächlichen Freiheiten. Zu oft wurden Menschenrechtskataloge als
Feigenblätter missbraucht, blieb Freiheit eine leere Worthülse.
Grundrechte müssen sich in der Verfassungsrealität entfalten können. Den
wichtigsten Raum für die Wissenschaftsfreiheit schaffen zweifellos die
Universitäten. Denn wo sonst sollen Fragen in völliger Freiheit gestellt
und Antworten unbeeinflusst von ihrer politischen oder
gesellschaftlichen Akzeptanz gegeben werden, wenn nicht an der
Universität.
Natürlich besteht überall dort, wo Forschung und Lehre
institutionalisiert sind, die Gefahr, dass Politik oder Wirtschaft ihre
schützende Hand zum Würgegriff schliessen. Leider wissen wir aus
Erfahrung, dass sich Universitäten auch eignen, um willfährige
Staatsdiener heranzuzüchten oder jene Ideologien zu verbreiten, die den
Mächtigen gefallen. Das Los der universitären Wissenschaft im
Nationalsozialismus oder im ehemaligen Ostblock sind bloss zwei junge
unter vielen historischen Beispielen.
Natürlich läuft auch die Universität wie jede Institution Gefahr,
Kreativität und Innovation durch Routine und einen administrativen
Regelungsdschungel zu ersticken. Auch sie ist nicht gefeit gegen
Verkrustung. Schon im letzten Jahrhundert merkte Tolstoi deshalb
ironisch an, dass vielerorts überlebte Fächer fortgeführt würden, so wie
man alte Medikamente, die ihre Heilkraft verloren hätten, weiterhin
benutze, nur weil sie in der Hausapotheke stünden.
Doch sei es in der Form der Platonischen Akademie, der mittelalterlichen
oder der modernen Universität - die Institutionen der Wissenschaft waren
immer auch ein Hort der Freiheit, ein Schutzgebiet für kreatives,
kritisches und unabhängiges Denken. Aus diesem Grund sind sie oft auch -
das darf nicht überraschen - ein Herd der geistigen Unruhe und eine
Quelle für politischen Protest: Dies war schon 1229 der Fall, als die
politischen und kirchlichen Obrigkeiten an der Pariser Universität die
Aristoteles-Vorlesungen verbieten wollten; es war bekanntlich vor 30
Jahren quer durch Europa, vor wenigen Jahren auf dem Tiananmen-Platz und
in diesen Tagen in Jakarta der Fall.
Auch wenn der studentische Protest oft über das Ziel hinausschiesst,
Studenten - etwas seltener auch Professoren - betätigen sich immer
wieder als Vorkämpfer des Freiheitsgedankens - wobei ich mit Blick auf
die heutige Jubilarin natürlich nicht behaupte, studentischer Protest
sei ein Wesensmerkmal für die Universität schlechthin! Die St. Galler
Studenten bringen ja in der Regel ihren Innovationsgeist auf andere
Weise zum Ausdruck. Das belegten zum Beispiel die Gründung des
International Students' Committee (ISC) zu Beginn der 70er Jahre oder
das jüngst lancierte Outplacement-Programm für studentische Aussteiger.
Aber geistige Unruhe, das ständige Hinterfragen überkommenen Wissens und
das Stellen der richtigen zukunftsweisenden Fragen gehören zur Essenz
der Universität.
Die akademische Freiheit ist neben der Hoffnung auf sozialen Aufstieg
sicher einer der Gründe, warum es heute immer mehr junge Menschen an die
Universitäten lockt. Das ist nicht ganz neu: Schon im 13. Jahrhundert
drängten sich 5'000 Studenten in die Pariser Hörsäle, gar 10'000 waren
es in Bologna, "qui causa studiorum peregrinantur". Die professorale und
studentische Mobilität war in Europa damals grösser als heute, was uns
zu denken geben muss. Denn wenn es an einem Ort grenzüberschreitenden
freien Personen- und Ideenverkehr geben muss, dann an der Universität.
Auch der Gegenwart kommt aber ein grosses Verdienst zu: die konsequente
Öffnung der Universität für die Frauen. 1950 betrug der Anteil der
Studentinnen an den schweizerischen Universitäten 13%, vor zehn Jahren
36%, heute bereits 43%. Diese Entwicklung wird bestimmt noch
weitergehen, zumal auf der Maturitätsstufe der Frauenanteil bereits über
50% beträgt. Es ist deshalb hoffentlich nur mehr eine Frage der Zeit,
bis die Frauen auch in grösserer Zahl in den Olymp der Professoren
aufgenommen werden.
Ob solch positiver Entwicklungen darf aber nicht vergessen werden, dass
das Ideal der akademischen Freiheit sehr anspruchsvoll ist. Zum einen
heisst die Kehrseite, wie für jede Freiheit, persönliche Verantwortung
der Lehrenden, Forschenden und Lernenden und gesellschaftliche
Verantwortung der Institution Universität. Zum andern ist auch die
akademische Freiheit nicht gegen selbstzerstörerische Versuchungen
gefeit. Auf Verantwortung und Versuchung der Universität möchte ich
daher näher eingehen.

3.	Verantwortung der Universität
Von Aristoteles stammt der Satz: "Überall nach dem Nutzen zu fragen,
ziemt sich für gebildete und wahrhaft freie Männer nicht." Die
Wissenschaftsfreiheit darf tatsächlich nicht zweckgebunden sein. Es ist
ja gerade ein Ziel der Grundrechte, menschliche Existenz um ihrer Selbst
willen zu ermöglichen.
Die Universität als gesellschaftliche Institution hingegen kann sich der
Frage nach dem praktischen Nutzen ihres Tuns nicht entziehen. Sie steht
in gesellschaftlicher Verantwortung. Dies gilt umso mehr, als die
Wissenschaften in unserem Jahrhundert zu einem unverzichtbaren, ja
dominanten Faktor für die gesellschaftliche Entwicklung geworden sind.
Die öffentliche Hand ist heute nur bereit, die Universitäten zu
finanzieren, weil sie sich davon eine Gegenleistung verspricht. Zum
einen sollen die Universitäten junge Menschen für die Ausübung der
akademischen Berufe ausbilden, die ihr spezifisches Wissen innovativ und
verantwortungsbewusst auf konkrete Herausforderungen der Gesellschaft
anwenden können.
Zum andern sollen sie mit ihrer wissenschaftlichen Forschung zu
rationalen und humanen Lösungen sozialer, wirtschaftlicher und
politischer Probleme beitragen. Die gute alte Zeit, als der
Finanzminister den Schlüssel zur Bundeskasse in der Hosentasche
herumtrug und der Justizminister die Gesetzesentwürfe eigenhändig
schrieb, ist längst vorbei. Sei es das Problem der Arbeitslosigkeit, die
Sanierung der Bundesfinanzen, die Konsolidierung unserer
Sozialversicherungen, die Erhaltung unserer Umwelt oder die europäische
Integration - die Politik greift gerne auf die Wissenschaft zurück, ja
ist zur Entscheidfindung immer häufiger auf sie angewiesen. Dies gilt
immer mehr auch für die Technologiefolgenabschätzung, für die Frage
also, was geschieht, wenn eine neue Technologie zugelassen wird, aber
auch was geschieht, wenn sie verboten wird. Hier ist die Wissenschaft
stark interdisziplinär gefordert.
Die Wirtschaft wiederum erwartet von den Universitäten die
unentbehrliche Grundlagenforschung, aber auch Unterstützung ihrer
eigenen Forschung und Entwicklung auf Gebieten, die Markterfolge
versprechen. Forschungspolitik ist aus diesem Blickwinkel auch
Standortpolitik für die nationale Volkswirtschaft. Angesichts der sich
abzeichnenden "Knowledge-based Economy" sind speziell die
Wirtschaftsfakultäten gefordert, künftige Führungskräfte zum
Wissensmanagement zu befähigen.
Von den Geisteswissenschaften schliesslich werden eine kritische
Reflexion der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten sowie
Impulse zur Orientierung und Konfliktlösung in einer multikulturellen
Welt erwartet.
Diese Aufgaben der Universitäten sind nicht ganz neu. Ihre Erfüllung
wird aber zunehmend erschwert durch die gesellschaftliche Komplexität.
Deshalb sind heute rasch weitere Anforderungen an die Universität auf
dem Tisch: Sie soll angesichts der Globalisierung zur Verknüpfung von
Wirtschaft und Politik beitragen, bessere Brücken zwischen Bildungs- und
Arbeitswelt schlagen, die lebenslange Weiterbildung ermöglichen und
vieles mehr - dies alles bei wachsenden Studentenzahlen und anhaltender
Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte.
Es liegt in der Verantwortung der Universitäten, diese Herausforderungen
anzunehmen, indem sie sich dem Wettbewerb um Studenten und um
Forschungsmittel stellen, sich neuen Organisationsformen offen zeigen,
Prioritäten im Fächerangebot setzen, ein eigenständiges Profil
entwickeln. Denn die Zukunft heisst wohl: Die Universität ist tot, es
leben die Universitäten mit je eigenem Profil.
Umgekehrt stehen auch Wirtschaft und Politik in der Verantwortung: Sie
haben die Eigenart der Universität als Hoher Schule der Wissenschaft zu
respektieren. Die Politik hat Rahmenbedingungen zu setzen, die es den
Universitäten ermöglicht, den vielfältigen Ansprüchen gerecht zu werden.
Der Bundesrat will zu diesem Zweck noch in diesem Jahr den Entwurf für
das revidierte Hochschulförderungsgesetz und die Botschaft über die
Förderung der Bildung, Forschung und Technologie in den Jahren 2000-2003
verabschieden. Wichtigste Ziele des Bundesrates sind eine verbesserte
Koordination der Hochschulpolitik zwischen Bund und Kantonen, die
Einführung der leistungsbezogenen Bemessung der Bundesbeiträge, um den
Wettbewerb unter den Universitäten zu beleben, sowie die Stärkung des
Forschungsstandbeins der Universitäten. Diese Massnahmen sollen helfen,
das im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Niveau von Lehre
und Forschung in der Schweiz zu halten.
Wenn die Qualität unserer Universitäten in den letzten Jahren gelitten
hat, dann in erster Linie wegen der Entwicklung hin zur
Massenuniversität. Die Zahlen sprechen für sich: Von 1977 bis 1986
nahmen die Studentenzahlen in der Schweiz um rund 37 %, in den
darauffolgenden zehn Jahren trotz zahlenmässig schwächeren Jahrgängen
nochmals um fast 20% zu. Und gerade die Universität St. Gallen wies im
laufenden Jahr erneut einen Rekordzuwachs um fast 15 % auf.
Angesichts dieser Entwicklung kann das Verhältnis von Zulassungszahlen
und Ausstattung nicht mehr als vernünftig bezeichnet werden. Und die
Universitäten unseres Landes stehen hier generell vor einem
schwerwiegenden Dilemma. Die Massenuniversität ist nicht zuletzt eine
Folge der Maturandenschwemme. Zählten 1980 noch 10,6 % der 19jährigen
Wohnbevölkerung zu den Maturandinnen und Maturanden, waren es 1996 17,7
%. In einzelnen Kantonen beträgt diese Quote bereits über 25 %. Es ist
daher naheliegend, den Hebel hier anzusetzen. Denn es sind bekanntlich
die Gymnasien, welche die Hochschulreife ihrer Schüler beurteilen. Auf
der einen Seite ist es sicher heilsam, dass die Gymnasien vor den
Begehrlichkeiten der Fakultäten und ihrer Dozenten geschützt sind, indem
es keine Aufnahmeprüfungen an die Universitäten gibt. Nur so ist es den
Gymnasien möglich, ihren breiten Bildungsauftrag zu erfüllen. Wie
ausländische Beispiele zeigen, haben Aufnahmeprüfungen an Universitäten
ausserdem oft zur Folge, dass jene Kandidatinnen und Kandidaten, die
sich teure Vorbereitungskurse leisten können, im Vorteil sind, was aus
Gründen der Chancengleichheit unerwünscht ist. Andererseits lassen sich
Aufnahmeprüfungen oder andere Zulassungsbeschränkungen langfristig wohl
nur dann vermeiden, wenn die Anforderungen an die Maturität hochgehalten
werden. Nur wenn die Zulassungshürde genügend hoch ist, macht es im
übrigen auch Sinn, hohe Studentenzahlen als Leistungsausweis und als
Kriterium für die Mittelzuteilung heranzuziehen.
Sicher stimmt es, dass andere Länder eine noch höhere Studentenquote
aufweisen als die Schweiz. Es ist auch richtig, dass die heutige
Wissensgesellschaft mehr Akademiker braucht als früher. Sie schöpft
deshalb mit guten Gründen das Nachwuchspotential besser aus, etwa durch
mehr Mittelschulen in ländlichen Gebieten. Ein beachtlicher Teil der
höheren Studentenzahlen ist zudem auf den grossen Nachholbedarf der
Frauen zurückzuführen.
Doch höhere Studentenquoten sind in der Regel auch mit höherer
Arbeitslosigkeit unter den Absolventinnen und Absolventen verbunden. Und
die Wissensgesellschaft braucht ebenso sehr Praktiker, die ihr Wissen
ganz gezielt und anwendungsorientiert erweitern. Genau hier liegt die
wichtige Aufgabe der Fachhochschulen. Der Bundesrat ist überzeugt, dass
die Schweiz auch in Zukunft auf einen starken Berufsbildungssektor
angewiesen ist. Auch da braucht es fähigen Nachwuchs.
Bedenklich ist, dass die Massenuniversität nicht zuletzt eine Frucht des
Prestigedenkens ist. Dabei ist es natürlich eine Illusion, die
akademische Ausbildung sei Voraussetzung oder gar Garant für ein
erfolgreiches Leben. Der Rahmen der Universität ist ja nicht einmal
Voraussetzung für wissenschaftliche Erfolge, wie der Werdegang von
Albert Einstein zeigt; er sagte bezeichnenderweise einmal: "Phantasie
ist wichtiger als Wissen." Und ich füge hinzu: Das wissenschaftliche
Wissen ist nur ein Teil der menschlichen Erkenntnis.

4.	Versuchungen der Universität
Von Francis Bacon stammt das berühmte Zitat: "Wissen ist Macht." Damit
fasste er vor rund vierhundert Jahren eine Erfahrung in Worte, die
Allgemeingut geworden ist. Wissen begründet auch politische und
ökonomische Macht. Politik und Wirtschaft sind deshalb oft versucht, die
Wissenschaft zu vereinnahmen.
Auch die Wissenschaft ist indes der Versuchung ausgesetzt, sich in die
Arme von Politik oder Wirtschaft zu werfen; dies umso mehr, wenn die
Mittel knapp werden. Der Fall jener Universität in den Vereinigten
Staaten, die mit einem Zuschuss einer religiösen Sekte von 100 Millionen
Dollar ihren Bankrott abwendete, ist natürlich krass und unter
schweizerischen Verhältnissen undenkbar. Auch das Beispiel jenes
Informatikunternehmens, das jedem Professor 200 Dollar bezahlt, der
seine Software-Produkte im Unterricht lobend erwähnt oder benutzt, wird
bei uns kaum Schule machen.
Aber auch in unseren Breitengraden sind die Universitäten Versuchungen
ausgesetzt, die ihre Autonomie untergraben. Ich verweise als Beispiel
auf die Gutachtertätigkeit. Sie stellt ein wichtiges Element der
wissenschaflichen Politikberatung dar. Mit Gutachten wird indes oft
handfeste Politik betrieben. Häufig geraten sie auf die schiefe Bahn der
Gefälligkeit, sei es aus Anbiederung oder aus falscher Höflichkeit. Es
wundert dann nicht, dass der politische Gegner des Auftraggebers jeweils
rasch ein Gegengutachten zur Hand hat. Mit wissenschaftlicher
Auseinandersetzung hat das oft nicht mehr viel zu tun, entsprechend
leidet das Ansehen der Wissenschafter in der Öffentlichkeit.
Verführerisch ist auch eine übertriebene Nützlichkeitsorientierung der
Universität. In ihr verbirgt sich die Gefahr, dass jene Fakultäten und
Institute besser ausgestattet werden, die ihr Wissen am besten monetär
verwerten. Nun lässt sich mit vielem Geld machen. Besonders für die
Geisteswissenschaften, die vom freien Flug der Gedanken leben, wäre eine
solche ökonomische Nützlichkeitsorientierung eine riskante
Angelegenheit; es wäre ein Flug des Ikarus.
Die Universität muss sich daher gegenüber Wirtschaft und Politik um
Distanz und Unabhängigkeit bemühen. Denn nur wenn sie selbständig
bleibt, kann sie sich als Hort der Wissenschaftsfreiheit bewähren. Das
Marktgesetz ist nicht das ihre. Mit Distanz meine ich nicht Abkapselung.
Vielmehr braucht es - wie der Schweizerische Wissenschaftsrat in seinen
Zielvorstellungen für die Hochschulentwicklung schreibt - eine
"Partnerschaft Hochschule - Gesellschaft - Wirtschaft".
Partner respektieren sich gegenseitig in ihrer Selbständigkeit. Dies ist
umso wichtiger, weil die schnell wachsenden Universitäten angesichts der
knappen öffentlichen Mittel immer mehr auf eine teilweise
Fremdfinanzierung durch nichtstaatliche Mittel angewiesen sind. Die
staatliche Finanzierung hat den Vorteil der demokratischen Legitimation
und der Transparenz. Beteiligt sich die Wirtschaft an der Finanzierung,
sollte sie sich deshalb ebenfalls an bestimmte Regeln, an eine Art "code
of ethics" halten, der die Unabhängigkeit der Hochschulen sicherstellt.

5.	Wissenschaftsethos
Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Universität als Institution
kommt die individuelle Verantwortung der Forscher für ihre
wissenschaftliche Arbeit hinzu. Es ist daher zu begrüssen, dass die
Ethik in Forschung und Lehre in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen
hat - auch hier in St. Gallen. Ethik-Lehrstühle allein genügen aber so
wenig wie Ethik-Kommissionen in der Politik. So wie jede demokratische
und rechtsstaatliche Ordnung in einem konkreten, gelebten Ethos
bürgerlicher Gemeinschaft verwurzelt sein muss, so ist die Universität
auf ein gelebtes Ethos der akademischen Gemeinschaft angewiesen.
Ich glaube, diese Feststellung wird in Zukunft noch wichtiger werden.
Bereits in den letzten 30 Jahren wurden mehr neue Information und mehr
neues Wissen geschaffen als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.
Dieses Wachstum wird exponentiell bleiben. Wissenschafter werden mit
ihrer Forschung - relativ betrachtet - immer kleinere Bereiche abdecken
können. Generalist ist dann wohl, wer sein angestammtes Fach noch
einigermassen überblickt.
Die Wirklichkeit hingegen wird natürlich interdisziplinär bleiben. Die
Forscher müssen es auch, selbst wenn die Anstrengung dazu grösser wird.
Ansonsten drohen unter den Fakultäten bald einmal babylonische
Verständigungsschwierigkeiten. Entscheidend wird in Zukunft deshalb
nicht nur die Fähigkeit zur Informationsselektion sein. Entscheidend
wird auch sein, dass an den Universitäten die Fähigkeit erlernt wird,
sich in andere wissenschaftliche Denkweisen hineinzuversetzen und zu
versuchen, das Tun und Sprechen anderer von innen her zu verstehen.
Entscheidend wird zudem sein, dass die Wissenschafter das Gespräch über
die Universität hinaus führen. Denn zum einen lässt sich das
Sachgerechte mit dem Menschengerechten (Arthur Rich) nur in der
Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Überzeugungs- und
Erfahrungswissen verbinden. Zum andern kann sich die Wissenschaft nicht
aus sich selbst legitimieren, sondern bedarf in der Demokratie auch der
politischen Akzeptanz. Sie muss ihre Arbeit und deren Folgen unserem
Volk daher stets neu erklären und rechtfertigen.

6. Schlusswort zur Universität St. Gallen
Meine Damen und Herren, ich fasse in einem Satz zusammen: Die
universitas als gesellschaftlich und politisch legitimierte Institution
kann ihrer Berufung in Zukunft nur treu bleiben, wenn sie ihre libertas
bewahrt und sie sowohl mit der utilitas wie mit der humanitas verbindet.
Das ist keine leichte Aufgabe, auch für die heutige Jubilarin nicht.
Wenn ich aber einen Blick zurück auf die ersten 100 Jahre der
Universität St. Gallen werfe, ist mir nicht bange für ihre Zukunft. Sie
ist von Beginn weg ihren eigenen Weg gegangen, ohne Rücksicht auf
universitäre Dogmen. Sie hat seit ihrer Gründung grosse Erfahrung in der
Partnerschaft mit Wirtschaft und Politik gesammelt. Sie hat sich stets
offen gezeigt für den Wandel in Wissenschaft, Wirtschaft und
Gesellschaft. Sie hat in der Mobilität der Studenten und Professoren
über die Landes- und Sprachgrenzen hinweg schon früh eine Chance
gesehen. Sie hat bisher stets am Vorrang der Qualität vor der Quantität
festgehalten. Und sie hat sich mit zunehmendem Erfolg auch um politische
Verankerung in Kanton und Bund bemüht.
Zum bisherigen Erfolg gratuliere ich den Verantwortlichen der
Universität, aber auch den politischen Behörden des Kantons, ganz
herzlich - auch stellvertretend für alle ihre Vorgänger. Für die Zukunft
wünsche ich der HSG, dass sie ihren Weg eigenständig fortführt und jenen
Innovationsgeist behält, der ihre ersten 100 Jahre geprägt hat. Vivat,
crescat, floreat HSG! oder auf Neudeutsch: Ich wünsche der Universität
St. Gallen auch im 2. Jahrhundert nachhaltigen Erfolg.