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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Die Verfassungsreform: Standortbestimmung und Weichenstellungen

Es gilt das gesprochene Wort

Die Verfassungsreform: Standortbestimmung und Weichenstellungen

Festrede von Bundesrat Arnold Koller
am Jubiläum "30 Jahre Forum Helveticum"
Restaurant zum Äusseren Stand, Bern, 28. Mai 1998

1. Einleitung
Zum 30jährigen Jubiläum des Forum Helveticum gratuliere ich Ihnen
herzlich. Bei der Gründung Ihrer Organisation haben Sie sich zum Ziel
gesetzt, das Gespräch in unserem Land über grundsätzliche und aktuelle
gesellschaftliche Themen zu fördern. Ein Blick auf die Tätigkeiten der
vergangenen 30 Jahre beweist, dass Sie diesen Anspruch immer wieder
eingelöst haben. Ich wünsche dem Forum Helveticum, dass es seiner
wichtigen Berufung  auch in Zukunft gerecht werden kann.
Der Name Ihrer Gesellschaft weckt wohl bewusst Assoziationen. In der
römischen Republik war das Forum Romanum bekanntlich der wichtigste Ort
des öffentlichen Lebens, wo nicht nur Waren gehandelt, sondern auch
politische Ideen ausgetauscht und die Volksversammlungen abgehalten
wurden. Auf dem Forum wurde der Sinn der Bürger für die res publica
geschärft, das heisst gemäss Cicero für die Sache des Volkes, das durch
die Anerkennung des Rechts und die Gemeinsamkeit des Nutzens vereint
ist.
Auch das Forum Helveticum ist eine Art Marktplatz für den
Meinungsaustausch. Es leistet damit einen wichtigen Beitrag zur
politischen Kultur der Schweiz. Gerade unser Land, das keinen
einheitlichen Sprach- und Kulturraum besitzt, lebt wesentlich aus der
Bereitschaft zum politischen Dialog. Gerade unser Land, dessen direkte
Demokratie die grossen politischen Kräfte in wichtigen Fragen zur
politischen Konkordanz zwingt, ist auf den konstruktiven Dialog
angewiesen. Ich möchte Sie deshalb heute ermutigen, Ihre Arbeit der
letzten 30 Jahre in einer Zeit weiterzuführen, in der das Zusammenleben
auch hierzulande schwieriger geworden ist.
Rund 30 Jahre dauern auch die Bemühungen um eine Totalrevision der
Bundesverfassung nun schon. Sie haben zu einer breitgefächerten
Verfassungsdiskussion geführt, die bis in die Kantone und über die
Landesgrenzen hinaus ausstrahlte. Nach verschiedenen Höhepunkten und
Durststrecken stehen heute die Chancen gut, dass die Bundesversammlung
die Verfassungsreform, wenigstens deren erste Teile, die "mise à jour"
und die Justizreform, noch im laufenden Jubiläumsjahr unseres
Bundesstaates verabschieden kann. Ich möchte den heutigen Anlass nutzen,
um Sie über die Reformziele und den Stand der Arbeiten zu informieren.

2. Bedeutung und Konzept der Verfassungsreform
Beim Thema Verfassungsreform wird oft die Frage nach der Notwendigkeit
gestellt. Für viele liegt sie nicht auf der Hand. Das hängt damit
zusammen, dass man die politische Bedeutung der Verfassung gerne über-
oder unterschätzt. Um den Reformbedarf zu verstehen, müssen wir den
Blick auf eine Besonderheit unserer Bundesverfassung richten, die auf
die direktdemokratischen Institutionen der Schweiz zurückzuführen ist.
Der Verfassung kommt hierzulande ein im internationalen Vergleich ganz
besonderer Stellenwert im politischen Entscheidungsprozess zu. Der wohl
wichtigste Grund dafür ist die Volksinitiative, verbunden mit der
Möglichkeit des Gegenvorschlags durch Bundesrat und Bundesversammlung.
Diese Instrumente führen dazu, dass das Ringen um tragfähige Lösungen
und Kompromisse in aktuellen politischen Sachfragen häufig auf der
Verfassungsebene stattfindet. So haben, um einige jüngere Beispiele zu
nennen, die Landwirtschaftspolitik, die Sozialpolitik, die
Energiepolitik oder die Verkehrspolitik ihre Ausrichtung auf der
Regelungsebene der Verfassung erhalten. Bezeichnenderweise handelt es
sich auch bei allen drei Vorlagen vom kommenden 7. Juni um
Verfassungsabstimmungen.
Der besondere Stellenwert der Verfassung in der täglichen Sachpolitik
hat allerdings auch eine Kehrseite. Die rund 140 von Volk und Ständen
seit 1874 gutgeheissenen Teilrevisionen der Verfassung sind
ausgesprochen punktueller Natur. Unserer Verfassung fehlt daher die
grosse zusammenhängende Linie, was immer wieder Anlass zu
Auslegungsstreitigkeiten gibt. Walther Burckhardt hat daher schon in den
Dreissiger Jahren geschrieben, es gelte, das viele Metall einzuschmelzen
und das gebundene Gold daraus zu gewinnen. Kommt dazu, dass die
systematische Weiterentwicklung der staatlichen Institutionen ist in den
letzten 150 Jahren zu kurz gekommen ist - denken Sie an das
Bundesge-richt, die Bundesversammlung und den Bundesrat.
Das Resultat des kontinuierlichen Anpassungs- und Erneuerungsprozesses,
den un-sere Verfassung erlebt hat, ist deshalb zwiespältig. Zum einen
bewegt sich die Bundesverfassung in den brennenden inhaltlichen Fragen
auf der Höhe der Zeit. Zudem ist der Beitrag dieses Prozesses zur
bundesstaatlichen Integration beträchtlich, denn in der
Verfassungsdebatte über wichtige Sachfragen erlebt sich die Schweiz fast
permanent als politische Nation. Zum andern aber stellt die geltende
Verfassung ein unübersichtliches Konglomerat von Einzelbestimmungen
unterschiedlichsten Alters und Inhalts dar. Sie enthält Unklarheiten,
Brüche, Inkohärenzen und Lücken, Wichtiges neben Unwichtigem. Rechtliche
Entwicklungen, die sich jenseits der Tagespolitik abspielen, wie die
Weiterentwicklung der Grundrechte oder der moderne kooperative
Foederalismus, finden kaum Niederschlag in der Verfassungsurkunde. Wenn
Sie die aktuelle Verfassung zur Hand nehmen, finden Sie darin kein Wort
über die Meinungs-, Versammlungs- oder Sprachenfreiheit, wohl aber
Bestimmungen zu Brauteinzugsgebühren und Auswanderungsagenturen, ferner
drei Seiten über den Alkohol, als wären wir ein Volk von Alkoholikern.
Nicht nur die Grundrechte haben sich indes ausserhalb der geschriebenen
Verfassung weiterentwickelt; als weitere Beispiele nenne ich die
schleichenden Gewichtsverschiebungen zwischen Parlament, Regierung und
Verwaltung sowie etliche Entwicklungen im Föderalismusbereich.
In einem durchaus positiven Artikel über unsere direkte Demokratie hat
die renommierte Zeitschrift The Economist jüngst geschrieben, unsere
Verfassung sei wegen des regen Gebrauchs der Volksrechte zu einem
"over-stuffed cupboard", zu einem vollgestopften Schrank geworden.
Dieses Bild ist durchaus zutreffend, wobei aber zu präzisieren wäre,
dass es in diesem Schrank neben überfüllten Fächern auch noch ganz leere
gibt.
Mit der von der Bundesversammlung 1987 verlangten und vom Bundesrat
vorgelegten sogenannten Nachführung oder "mise à jour" sollen diese
Mängel der geltenden Verfassung beseitigt werden. Dies setzt voraus,
dass wir das ungeschriebene Verfassungsrecht in die geschriebene
Verfassung integrieren, verfassungsunwürdige Normen beseitigen, das
Verhältnis des Landesrechts zum Völkerrecht klären, nicht zuletzt aber
auch jene vier Säulen wieder freilegen, auf denen unser Bundesstaat nach
wie vor ruht, nämlich den liberalen Rechtsstaat, den Sozialstaat, die
direkte Demokratie und den Föderalismus.
Die "mise à jour" stellt mit andern Worten eine staatspolitische und
verfassungsrechtliche Standortbestimmung dar. Das geltende
Verfassungsrecht, der "acquis suisse",  soll für die Bürgerinnen und
Bürger wieder sichtbar und lesbar gemacht werden.
So bedeutungsvoll indes diese "mise à jour" für die Identität unserer
Nation und die Steuerungskraft für die politischen Prozesse ist, der
Bundesrat ist überzeugt, dass sie nicht der Endpunkt der
Reformbemühungen sein kann. Wir müssen insbesondere die
Handlungsfähigkeit der Institutionen stärken. Die Internationalisierung
von Wirtschaft und Politik verlangt heute höhere Rhythmen in der
Entscheidfindung. Es ist unabdingbar, die Institutionen rechtzeitig für
die gewachsenen Herausforderungen zu rüsten.
Den grössten Reformbedarf auf der Verfassungsstufe ortete der Bundesrat
bei den Volksrechten und der Justiz. Er hat den Eidgenössischen Räten
deshalb zu diesen beiden Bereichen separate Reformpakete unterbreitet.
Andere systematische Reformvorhaben sind weit fortgeschritten oder
eingeleitet, so die Reform des Finanzausgleichs und die
Staatsleitungsreform. Der Bundesrat will mit der Verfassungsreform also
auch Weichen für die Zukunft stellen.
Dabei können Volk und Stände über jede Weichenstellung, das heisst über
jedes Reformpaket einzeln abstimmen. Mit dieser Trennung von Nachführung
und materiellen Reformpaketen hat der Bundesrat bewusst ein politisches
Konzept geschaffen. Die nachgeführte, neue Verfassung soll eine klare
und transparente Ausgangslage schaffen und als Initialzündung dienen für
einen offenen Reformprozess, dessen Ende weder sachlich noch zeitlich
bestimmbar ist.

3. Aufnahme des Konzepts in den Räten
Vor eineinhalb Jahren reichte der Bundesrat seine Vorschläge an das
Parlament weiter. Zu seiner Genugtuung haben sich sowohl die
vorberatenden Kommissionen wie auch die beiden Räte mit grossen
Mehrheiten hinter das vom Bundesrat vorgeschlagene prozesshafte Vorgehen
gestellt.
Bei der sogenannten Nachführung ist der Ständerat mit eindrücklicher
Einstimmigkeit auf die Vorlage eingetreten. Auch der Nationalrat hat mit
beeindruckendem Mehr Eintreten beschlossen (153:10). Er wird die Vorlage
im Juni zu Ende beraten. Insgesamt setzte sich die Einsicht durch, dass
die "mise à jour" nicht eine blosse Abschreibeübung ist, sondern
zwangsläufig ein politischer Akt. Zwar hat sich der Bundesrat sehr darum
bemüht, den Nachführungsauftrag des Parlamentes getreu und transparent
zu erfüllen und im Rahmen der Nachführung auf klare rechtspolitische
Neuerungen zu verzichten. Was aber verfassungswürdig ist und was nicht,
stellt eine eminent rechtspolitische Wertung dar. Und die "mise à jour"
macht ohne solche Herauf- und Herabstufungen (z. B. Datenschutz und
Absinthverbot) gar keinen Sinn. Auch die Aufnahme von ungeschriebenem
Verfassungsrecht wirft zahlreiche Wertungsfragen auf. Es überrascht
daher nicht, dass es zwischen der Fassung des Ständerates und jener des
Nationalrates noch zahlreiche Differenzen zu bereinigen geben wird.
Die bisherigen Beratungen haben sodann gezeigt, dass das Parlament
willens ist, konsensfähige Neuerungen in die nachgeführte Verfassung
aufzunehmen, insbesondere bei der Behördenorganisation. So soll nach dem
Willen beider Räte künftig die Zugehörigkeit zum weltlichen Stand keine
Voraussetzung mehr sein für die Wahl in den Nationalrat oder den
Bundesrat; ferner soll analog zum Nationalrat neu auch ein Viertel der
Mitglieder des Ständerates eine Sondersession einberufen können.
Diese Beispiele werfen keine Probleme auf. Die Frage aber, was noch als
konsensfähige Neuerung gelten kann, ist sehr heikel. Es zeigt sich
beispielsweise, dass die vom Ständerat beschlossene Streichung des
Bistumsartikels als vermeintlich alter Zopf noch in breiten Kreisen
Emotionen weckt und quer durch die Konfessionen Gräben aufreisst. Der
Nationalrat hat sich denn auch diesem Entscheid des Ständerates nicht
angeschlossen. Obwohl die Regelung allgemein als eliminationsbedürftig
angesehen wird, gebietet eine politische Betrachtung, die Revision nicht
im Rahmen der aktuellen Verfasungsreform vorzunehmen, sondern die Frage
in einer Partialrevision gesondert zu behandeln. Das umgekehrte Vorgehen
würde riskieren, wegen einer emotional belasteten Einzelfrage das
gesamte Reformvorhaben zu belasten. Wenn wir das Fuder mit solch
um-strittenen Änderungen überladen, werden die kumulierten helvetischen
Abwehrre-flexe dafür sorgen, dass der Wagen kippt. Heikle Fragen wie
jene des Bistumsartikels oder der Kantonsklausel für die Bundesratswahl
sollten deshalb nicht im Rahmen der Nachführung, sondern getrennt davon
in Form von Partialrevisionen behandelt werden.
Mit der Justizreform hat sich in der Frühjahrssession als Erstrat der
Ständerat auseinandergesetzt. Die Vorlage fand insgesamt eine gute
Aufnahme. Der Reformbedarf in diesem Bereich wurde allgemein anerkannt
und die Mehrheit teilte die Stossrichtung der Reformvorschläge. Ich bin
deshalb zuversichtlich, dass dieses Paket dem Souverän ohne grosse
Abstriche vorgelegt werden kann.
Etwas ungewiss ist die Situation hingegen bei der Reform der
Volksrechte. Die Vorschläge des Bundesrates sind bereits in den
Verfassungskommissionen umstritten. Überraschen darf dies jedoch nicht,
handelt es sich doch bei den Volksrechten um einen Herzteil unseres
Staates. Auf die materiellen Anliegen der beiden Reformpakete werde ich
noch zu sprechen kommen.

4. Standortbestimmung
Die "mise à jour" der Bundesverfassung ist wie erwähnt eine
staatspolitische und verfassungsrechtliche Standortbestimmung. Ich
möchte anhand von zwei Beispielen aufzeigen, dass auch diese
Standortbestimmung mit Wertungsfragen verbunden ist, deren Klärung
erwünscht und auch unausweichlich ist. Einige dieser heiklen
rechtspolitischen Entscheide sind in den Eidg. Räten umstritten und
haben deshalb die Aufmerksamkeit der Medien gefunden.

Diskriminierungsverbot und Rechtsgleichheit
Zunächst möchte ich die Rechtsgleichheit hervorheben. Sie gehört zu den
elementarsten Garantien jedes liberalen Rechtsstaates. Sie kennt
verschiedene Stufen oder Grade, die unbedingt auseinandergehalten werden
müssen, um Missverständnisse und Fehldeutungen zu vermeiden.
Eine erste Stufe ist das Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung oder -
dies ist die andere Seite der gleichen Medaille - das
Diskriminierungsverbot. Artikel 7 des Verfassungsentwurfs enthält in
Absatz 2 ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierungen und nennt - im
Sinne einer nicht abschliessenden Aufzählung - einzelne Umstände oder
Merkmale, die in unserer Zeit häufig Anlass für Diskriminierungen sind,
wie etwa Rasse, Sprache oder Behinderung. Damit stellt die Verfassung
gewissermassen Warnlampen auf und begründet (zusammen mit Absatz 1)
justiziable, gerichtlich durchsetzbare individuelle
Unterlassungsansprüche.
Die zweite Stufe, der Anspruch auf rechtliche und tatsächliche
Gleichstellung, ist im Verfassungsentwurf in Artikel 7 Absatz 3 für den
Bereich der Gleichberechtigung von Mann und Frau vorgesehen. Dies hat
bekanntlich zum Gleichstellungsgesetz geführt. Der Nationalrat beschloss
in Analogie dazu einen neuen Absatz 4, welcher den Gesetzgeber
beauftragt, für die Gleichstellung Behinderter zu sorgen. Der Ständerat
hatte auf einen solchen Gleichstellungsauftrag verzichtet, seine
Kommission schlägt nun aber einen Kompromiss vor, wonach der Bund
Benachteiligungen der Behinderten durch gesetzliche Massnahmen
beseitigen soll.
Die dritte Stufe schliesslich ist die Einräumung eines direkten
Anspruchs nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber privaten
Dritten. Es geht hier um die verfassungsrechtliche Verankerung der
sogenannten Drittwirkung oder Horizontalwirkung des grundrechtlichen
Anspruchs. Ein solcher Schritt ist bisher nur im Bereich der
Gleichberechtigung von Mann und Frau gemacht worden, wo der Anspruch auf
gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit auch für privatrechtliche
Arbeitsverhältnisse gilt. Eine solche Drittwirkung wurde auch in bezug
auf die Gleichberechtigung Behinderter gefordert. Sowohl der Bundesrat
wie die beiden Räte haben dies aus guten Gründen abgelehnt. Der
Verfassungsentwurf verpflichtet also keinen Hauseigentümer, sein Gebäude
behindertengerecht umzubauen. Dies wäre äusserst problematisch. Die
Richter wären schlicht überfordert, wenn sie aufgrund einer
Verfassungsbestimmung festlegen müssten, mit welchen baulichen
Massnahmen die Gleichstellung der Behinderten garantiert werde. Auch
ohne diese Drittwirkung setzt die neue Verfassung ein wichtiges
politisches Signal zugunsten der behinderten Menschen in unserer
Gesellschaft.

Sprachenrecht
Das Forum Helveticum hat mit seinen Veranstaltungen wiederholt wichtige
Beiträge zur Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften in der
Schweiz geleistet. Aus diesem Grund möchte ich Ihnen auch am Beispiel
des Sprachenrechts erläutern, wie die nachgeführte, neue Verfassung in
vielen Fällen zu einer Klärung des Verfassungsrechts beiträgt.
Das Sprachenrecht ist dem Spannungsverhältnis zwischen Sprachenfreiheit
und Territorialitätsprinzip ausgesetzt. Die Ausgangsfrage lautet: Wie
lässt sich das Grundrecht der Sprachenfreiheit mit dem
Territorialitätsprinzip vereinbaren, das die überkommene sprachliche
Zusammensetzung des Landes gegen unorganische, künstliche Veränderungen
schützt? Das Bundesgericht hat die Sprachenfreiheit seit 1965 unter
Einschränkung des Territorialitätsprinzips als Grundrecht anerkannt. Sie
garantiert unter anderem den Gebrauch der Muttersprache. Aufgrund des
Territorialitätsprinzips kann sie in der Beziehung zwischen Privaten und
dem Staat jedoch beschränkt werden.
Die Streitfrage bestand in den vergangenen Jahren darin, wie weit diese
Beschränkungen gehen dürfen. Die jahrelangen Diskussionen in den
parlamentarischen Kommissionen führten zum neuen Sprachenartikel, den
Volk und Stände 1996 angenommen haben (Art. 116 BV). Er brachte zwar
neue Bestimmungen, wonach Bund und Kantone die Verständigung und den
Austausch unter den Sprachgemeinschaften fördern sollten und der Bund
Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung des
Rätoromanischen und des Italienischen unterstützen soll. Ungelöst blieb
indessen die verfassungsrechtliche Klärung des Verhältnisses zwischen
Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip.
Hier sind wir nun aber auf gutem Weg, dieses Problem im Rahmen der
Nachführung zu lösen. Der Bundesrat hatte in seinem Entwurf
vorgeschlagen, die Sprachenfreiheit erstmals in den Katalog der
Grundrechte aufzunehmen (Art. 15 VE) und gleichzeitig im Kapitel über
die Zuständigkeiten das Territorialitätsprinzip zu konkretisieren (Art.
83 VE). Die Verfassungskommissionen sind ihm grundsätzlich gefolgt,
haben jedoch die Anliegen der Sprachminderheiten noch besser zum
Ausdruck gebracht. Geglückt scheint mir insbesondere die Verdeutlichung
des Territorialitätsprinzips durch die Nationalratskommission. Ihre vom
Rat inzwischen angenommene Fassung lautet (Art. 83a Abs. 3): "Die
Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Zur Wahrung des Sprachfriedens
achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete
und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten."
Die Integration der sprachlichen Minderheiten ist ganz wesentlich für
die Schweiz, ja sie gehört zu den Wesensmerkmalen unseres Landes. Mit
der Klärung des Sprachenrechts leistet die neue Verfassung hier einen
Beitrag, den wir in unserer viersprachigen Nation nicht unterschätzen
dürfen.

5. Weichenstellungen
Mit den systematischen Reformpaketen will der Bundesrat
Weichenstellungen für die Zukunft vornehmen. Vor allem im Bereich der
staatlichen Institutionen dürfen wir nicht auf den alten Geleisen
weiterfahren, wenn wir die Handlungsfähigkeit bewahren wollen.

Justizreform
Am dringendsten ist zweifellos die Justizreform. Sie sieht eine Reihe
von wichtigen materiellen Neuerungen vor, die notwendig sind, um unsere
Justiz funktionsfähig zu erhalten. Denn unsere obersten Gerichte sind
chronisch überlastet. Seit 1978, als die Zahl der Bundesrichter zum
letzten Mal von 28 auf 30 erhöht wurde, haben die jährlich neuen Fälle
beim Bundesgericht um 80 Prozent zugenommen, von rund 3'000 auf über
5'400. Die Gerichte in Lausanne und Luzern können ihre
höchstrichterlichen Funktionen, die Wahrung der Rechtseinheit und die
Rechtsfortbildung, nicht mehr adäquat wahrnehmen. Eine ständige Erhöhung
der Richterzahl würde sie vollends zu Justizfabriken machen.
Der Bundesrat will die notwendige Entlastung des Bundesgerichts durch
drei Massnahmen erreichen:
- Zum einen werden dem Bundesgericht durchgehend richterliche Behörden
vorgeschaltet. Dadurch kann es sich auf die Rechtskontrolle beschränken.
Ausserdem profitiert es von der Filterwirkung richterlicher
Vorinstanzen.
- Zum zweiten soll das Bundesgericht von sachfremden Aufgaben entlastet
werden. Die Direktprozesse vor Bundesgericht werden auf ein Minimum
reduziert.
- Nachhaltige Entlastung verspricht sich der Bundesrat schliesslich
durch Zugangsbeschränkungen. Zu diesem Zweck wird eine
Verfassungsgrundlage bereit gestellt.
Es gibt indes noch weitere Gründe, weshalb wir eine Reform der Justiz
als vordringlich erachten. So sollen die Rechtssuchenden künftig
grundsätzlich in allen Rechtsstreitigkeiten an ein unabhängiges Gericht
gelangen können. Die geltende Verfassung kennt keine solche allgemeine
Rechtsweggarantie.
Die gegenwärtig fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit bei Bundesgesetzen
führt dazu, dass der Bürger sich nicht wehren kann, wenn seine
verfassungsmässigen Rechte durch den Bundesgesetzgeber verletzt werden.
Diese Rechtsschutzlücke fällt heute erheblich ins Gewicht, weil immer
mehr Bereiche durch den Bund geregelt werden. Der Bundesrat möchte
deshalb die Verfassungsgerichtsbarkeit, die wir gegenüber den Kantonen
seit 1874 kennen, in massvoller Weise auf die Bundesgesetzgebung
ausdehnen: Bundesgesetze sollen überprüfbar sein, aber nur im konkreten
Anwendungsfall und einzig durch das Bundesgericht. Neu sind die Kantone
befugt, eine Verletzung ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten durch
den Bundesgesetzgeber zu rügen.
Der Bundesrat schlägt insgesamt einen behutsamen, auf die
schweizerischen Verhältnisse zugeschnittenen Ausbau der
Verfassungsgerichtsbarkeit vor. Er ist überzeugt, dass dadurch die
Freiheitsrechte der Privaten gestärkt werden, ohne dass die Demokratie
durch übermächtige Richter gefährdet wird. Genau dies belegt ja die
Erfahrung mit der Überprüfung kantonaler Gesetze durch das
Bundesgericht. Ein eindrückliches Beispiel liefert die Praxis zur
Handels- und Gewerbefreiheit. In zahlreichen Fällen konnte das
Bundesgericht verhindern, dass die Handels- und Gewerbefreiheit durch
kantonale Regelungen in unzulässiger Weise beschränkt wurde.
Als letzten wesentlichen Reformpunkt stellt die Justizreform die
erforderlichen Verfassungsgrundlagen bereit, um das Zivil- und das
Strafprozessrecht in der ganzen Schweiz zu vereinheitlichen. Die
bestehende Rechtszersplitterung schafft erhebliche Rechtsunsicherheit.
Im Strafprozess wird eine effiziente Bekämpfung des internationalen
organisierten Verbrechens eingeschränkt. Die erforderliche
Rechtsvereinheitlichung entspricht insbesondere auch einem Wunsch der
Kantone.
Der Bundesrat ist überzeugt, mit der Justizreform die Bundesrechtspflege
wieder auf ein tragfähiges Verfassungsfundament zu stellen und die
Funktionsfähigkeit unserer obersten Gerichte für die Zukunft zu sichern.

Reform der Volksrechte
Die Reformvorschläge zu den Volksrechten betreffen die Stimmbürgerinnen
und Stimmbürger unmittelbar in ihren Rechten. Es handelt sich dabei um
ein sehr sensibles Gebiet, gehört die direkte Demokratie doch zu den
identitätsstiftenden Merkmalen der Schweiz. Deshalb ist es unerlässlich,
dass Bundesrat und Parlament offen erklären, was Sinn, Zweck und Inhalt
der Volksrechtsreform sind. Gleich vorweg möchte ich klar festhalten: An
der direkten Demokratie als einer der Grundwerte unseres Landes wird
nicht gerüttelt. Vielmehr geht es uns darum, die direkte Demokratie den
veränderten Verhältnissen anzupassen und auch in Zukunft funktionsfähig
zu erhalten. Denn die Volksrechte überlebten und leben nur, weil sie
sich auch bisher als entwicklungsfähig erwiesen haben.
Wir Schweizerinnen und Schweizer stimmen heute zu viel und nicht immer
über das Wichtige ab. Leitidee des Bundesrates ist es daher, den
Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern konsequenter als bisher alle wichtigen
politischen Entscheidungen zur Mitbestimmung zugänglich zu machen. Aus
diesem Grund schlagen wir unter anderem eine allgemeine Volksinitiative,
ein fakultatives Finanz- und Verwaltungsreferendum vor; ferner drängt
sich ein erweitertes Staatsvertragsreferendum auf, weil immer mehr
internationale Verträge zur Rechtsetzung verpflichten und die Rechte und
Pflichten der Privaten berühren.
Dieser Ausbau der Volksrechte ist indes nur dann gerechtfertigt, wenn
wir die Unterschriftenzahlen massvoll erhöhen. Während es für eine
Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung im Jahre 1891 noch etwa
sieben Prozent der Stimmberechtigten brauchte, sind dazu heute nur noch
2,2 Prozent erforderlich. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass sich
in den letzten zwanzig Jahren der Rhythmus von Initiativ- und
Referendumsbegehren nahezu verdreifacht hat. Angesichts dieser hohen
Kadenz von Volksabstimmungen fühlen sich viele Stimmberechtigte zeitlich
und manchmal auch sachlich überfordert. Dies drückt auf die
Stimmbeteiligung, eine tiefe Stimmbeteiligung indes schwächt die
Legitimationskraft von Volksentscheiden.
Wer 4,6 Millionen Stimmberechtigte an die Urnen rufen will, soll zuerst
den Beweis erbringen, dass sein Anliegen auf Interesse stösst. Die
angestrebte Erhöhung der Unterschriftenzahlen auf 150'000 für die
Verfassungsinitiative und 100'000 für das Referendum ist deshalb
gerechtfertigt und gewiss nicht prohibitiv. Sie ist aber nötig, damit
wir die Handlungsfähigkeit und Effizienz unseres Staates längerfristig
wahren können.
Die Volksrechtsreform ist ein Unterfangen, das Mut und Umsicht zugleich
erfordert. Der Bundesrat ist überzeugt, mit seinem Vorschlag die direkte
Demokratie für die Zukunft zu rüsten. Ich weiss, es bedarf noch grosser
Überzeugungsarbeit.

6. Schluss
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen das Konzept der
Verfassungsreform nahezubringen. An den Beispielen des
Diskriminierungsverbotes und des Sprachenrechtes haben wir abgelesen,
was die "mise à jour" im Sinne einer Klärung wichtiger Verfassungsfragen
zu leisten vermag; die Beispiele der Justizreform und der
Volksrechtsreform haben aufgezeigt, welche Weichen wir für die Zukunft
unseres Landes stellen möchten. Über die konkreten Beispiele hinaus kann
die Verfassungsreform aber auch in einem anspruchsvolleren Sinn mit den
Stichworten "Standortbestimmung und Weichenstellungen" charakterisiert
werden. Der erste Schritt, die Nachführung, soll uns bewusst machen, was
wir in den 150 Jahren Bundesstaat gemeinsam errungen haben und was uns
hoffentlich noch heute zusammenhält. Damit leistet die Verfassungsreform
einen wichtigen Beitrag zum nationalen Zusammenhalt und zum
Selbstverständnis der Schweiz. Damit können wir die notwendigen Reformen
von gesichertem Grund aus in Angriff nehmen.
Ich bin überzeugt, dass die Schweiz - neben der politischen
Alltagsarbeit - eine solche tiefergehende Diskussion braucht und dass
uns diese Verständigungsarbeit über das Wesentliche und Grundlegende
weiterbringt. Die Verfassungsreform ist daher gerade im Jubiläumsjahr
150 Jahre Bundesstaat eine staatspolitische Chance, die Bundesrat,
Parlament und Volk im Sinne einer Erneuerung unseres
Gesellschaftsvertrags in schwieriger Zeit nutzen sollten.