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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Sperrfrist: Samstag, 4.4.1998/12.00 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort

Sperrfrist: Samstag, 4.4.98, 12.00 Uhr

CVP-Europa-Kongress
4. April 1998 in Basel

"Die Schweiz im europäischen Sicherheitsraum"
Referat von Bundesrat Arnold Koller, Vorsteher des EJPD

Die Europäische Union, ursprünglich eine Verflechtung von sechs
Volkswirtschaften zur Beförderung des Friedens unter den Mitgliedern,
hat nicht nur den Binnenmarkt verwirklicht und sich der Wirtschafts- und
Währungsunion verschrieben, sie ist auch daran, einen Sicherheitsraum zu
gestalten, der ihre Bürgerinnen und Bürger vor Terrorismus, vor
Drogenhandel, vor dem internationalen Verbrechen und vor dem
Einwanderungsdruck Schutz gewähren will. Solch übernationale Antwort auf
die grossen Bedrohungen der inneren Sicherheit ist ohne Abstriche an
zentralen Prärogativen der staatlichen Souveränität nicht möglich. Aus
diesem Grund verlief denn auch der Prozess zur Gestaltung eines
europäischen Sicherheitsraumes später, etappenweise und ist immer noch
weniger weit gediehen als der gemeinsame Wirtschaftsraum.

Nachdem die 5 Schengener Staaten sich 1985 formiert und 1990 das
Schengener Durchführungsübereinkommen abgeschlossen hatten, wurde die
Zusammenarbeit im Vertrag von Maastricht 1992 in den dritten Pfeiler der
EU aufgenommen. Seit dem 1. April 1998 wird das Schengener
Durchführungsübereinkommen von zehn Staaten - darunter von allen unseren
Nachbarstaaten ausser Liechtenstein - angewendet. Es bietet eine
umfassende Zusammenarbeit im Bereiche der inneren Sicherheit. In diesem
System werden neue, operative Polizeizusammenarbeitsformen, wie die
grenzüberschreitende Observation und Nacheile, die gegenseitige
Entsendung von Verbindungsbeamten und eine effizientere Bekämpfung des
Drogenhandels mittels kontrollierter Lieferungen geregelt. Das Rückgrat
dieser Zusammenarbeit bildet das Schengener Informationssystem, das sog.
SIS. Das SIS - mit unserem polizeilichen Fahndungssystem RIPOL
vergleichbar - gibt annähernd zeitverzugslos Auskunft, ob eine
überprüfte Person, ein von ihr mitgeführtes Ausweispapier oder von ihr
gelenktes Fahrzeug zur Fahndung ausgeschrieben sind. Die Schengener
Staaten sichern sich auch die sogenannte Schengen-Priorität zu. Diese
hat zur Folge, dass bei Konkurrenz mit Fahndungsaufträgen aus anderen
Staaten, z. B. über Interpol, zuerst das erledigt wird, was aus einem
Schengener Staat kommt. Dass derartige Regelungen für abseitsstehende
Staaten wie der Schweiz mit Nachteilen verbunden sind, versteht sich von
selbst.

Der EU-Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 legt neu fest, dass der
gesamte Besitzstand von Schengen grundsätzlich auf den 1.1.1999 in den
Unionsvertrag übertragen werden soll. Offengelassen wurde, welches genau
der überzuführende acquis von Schengen ist. Mit dieser Überführung des
Schengen-Besitzstandes in die EU geht grundsätzlich die Kompetenz zum
Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten im Bereich des ersten Pfeilers,
z.B. bezüglich der Asyl- und Einwandersungspolitik auf die EG, im
Bereich des dritten Pfeilers, z.B. die polizeiliche und die justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen, auf die EU über.

Neben den Schengener Übereinkommen, dem nur EU-Staaten gleichberechtigt
beitreten können, wurde vor Jahren in Den Haag die europäische
kriminalpolizeiliche Zentralstelle EUROPOL gegründet. Auch EUROPOL steht
nur EU-Mitgliedstaaten offen. Dort werden Ermittlungsergebnisse der
einzelnen Staaten betreffend kriminelle Grosskomplexe aus den
Deliktsbereichen Drogenhandel, Menschenhandel und Schleuserkriminalität
sowie dem Handel mit radioaktiven Stoffen koordiniert zusammengeführt
und auf grenzüberschreitend operierende Tätergruppierungen untersucht
und ausgewertet.

Ich gehe zum Asylbereich über.

Die EU-Mitgliedstaaten haben bereits 1990 das sogenannte Dublin Abkommen
unterzeichnet. Dieses Abkommen ist am 1. September 1997 in Kraft
getreten. Es bezeichnet den für die Behandlung eines Asylgesuches
zuständigen Mitgliedstaat. Ist beim zuständigen Mitgliedstaat ein
Asylgesuch hängig, so kann der betroffene Asylbewerber nicht in andere
EU-Staaten ausweichen und dort erneut ein Asylgesuch stellen. Um dieses
Abkommen effizient zu machen, wollen die EU-Staaten einen zusätzlichen
Vertrag über den Austausch der Fingerabdrücke (Eurodac) abschliessen.
Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied ist von diesem Abkommen
ausgeschlossen.

Seit dem Inkrafttreten des Dubliner Abkommens muss unser Land mit einem
Anstieg von Asylbegehren von Personen rechnen, deren Gesuche von einem
Mitgliedstaat der EU behandelt und abgelehnt worden sind. Sobald Eurodac
funktioniert, wird die Schweiz neben der EU, welche sich in diesem
Bereich zusammengeschlossen hat, zur einzigen Asylalternative in
Westeuropa.

In letzter Zeit hat sich der Migrationsdruck auf die Schweiz wieder
stark erhöht. Währenddem 1995 das GWK im Kanton Tessin 2500 illegale
Grenzübertritte registrierte, waren es im letzten Jahr bereits 4000.
Aufgrund des ausserordentlich starken Anstiegs Ende 1997 und im
Januar-Februar dieses Jahres muss für das laufende Jahr mit mehr als
einer Verdoppelung der Aufgriffe gerechnet werden.

Ich möchte Ihnen einen weiteren Bereich nennen, der uns Sorgen bereitet.
Es handelt sich um die Visumspolitik. Ein sowohl in Schengen als auch in
der Schweiz visumpflichtiger Ausländer, z. B. ein thailändischer
Staatsbürger, erhält von Deutschland ein Visum zur Einreise. Der Inhaber
eines von einem Schengener Staat ausgestellten Einheitsvisums kann sich
frei im ganzen Schengener-Raum bewegen. Will er nun auch noch einen
Abstecher in die Schweiz machen, so benötigt er für eine Einreise in die
Schweiz jedoch ein zusätzliches Visum. Dass dies namentlich für den
Tourismus- und Geschäftsverkehr ein ernsthaftes Handicap darstellt,
liegt auf der Hand. Reiseveranstalter weisen denn auch mit zunehmender
Besorgnis darauf hin, dass europareisende Kunden wegen den zusätzlichen
Visumformalitäten einen Abstecher in die Schweiz nicht mehr lohnend
finden. Angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus
kann uns eine solche Entwicklung nicht gleichgültig sein.

Eine weitere Folge des Schengener Einheitsvisums liegt darin, dass ein
schengenweit zur Einreiseverweigerung ausgeschriebener Krimineller oder
Terrorist ein schweizerisches Einreisevisum erhalten kann, bloss weil
die Schweiz nicht am Schengener Informationssystem angeschlossen ist.
Ich halte dies für höchst problematisch. Dies muss auch unsere Nachbarn
beunruhigen.

Verehrte Damen und Herren, es liegt mir fern, Ihnen ein zu düsteres Bild
über die Schweiz im europäischen Sicherheitsraum zu präsentieren. Es
wäre aber unverantwortlich, vor gewissen Fakten und Auswirkungen einfach
die Augen zu verschliessen.

Was hat der Bundesrat unter diesen Umständen getan, bzw. was gedenkt er
zu tun, um die Situation zu verbessern?

Der Bundesrat war sich nach dem EWR-Nein darüber im klaren, dass in der
Frage der europäischen Integration zunächst bilateral vorgegangen werden
musste. Wir haben uns zu einer 2-Phasenstrategie entschlossen: In einer
ersten Phase möchten wir durch bilaterale Abkommen mit unseren
Nachbarstaaten die Nachteile der Nichtmitgliedschaft in Schengen
möglichst klein halten. In einer zweiten Phase soll eine noch offenere
Form der Zusammenarbeit mit Schengen gefunden werden.

Polizeiliche Zusammenarbeit
Zur Zeit werden mit unseren Nachbarstaaten Verhandlungen über eine
verbesserte grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der inneren
Sicherheit geführt. Die angestrebten Verträge mit den Nachbarstaaten,
welche mit Schwergewicht die polizeiliche Zusammenarbeit und
Rückführungsabkommen zum Inhalt haben, bilden eine wichtige Komponente
beim Ausbau der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und damit für die
Stärkung der inneren Sicherheit. Diese werden es der Schweiz jedoch
nicht ermöglichen, vollständig in den künftigen gemeinsamen
Sicherheitsraum der EU eingebunden zu werden, insbesondere verschaffen
sie der Schweiz keinen Zugang zum SIS (Schengener Informationssystem).
Da jene Bereiche, die zum Gemeinschaftsrecht zählen oder von
gemeinschaftlichem Interesse sind (namentlich Visumpolitik und
Grenzkontrollen), von unseren Nachbarstaaten nicht oder nur mit
Zustimmung ihrer Partnerstaaten zum Gegenstand von bilateralen
Verhandlungen gemacht werden können, bilden diese Verträge daher keine
vollwertige Alternative zu einer Teilnahme am Schengener Regelwerk.

Asyl

In der Asylpolitik koordinieren wir seit längerem vor allem unsere
Rückführungspolitik mit den Nachbarstaaten. Der Bundesrat strebt seit
mehreren Jahren auch eine engere Kooperation mit der EU an. Um zu
vermeiden, dass die Schweiz Ersatzaufnahmeland wird, hat der Bundesrat
wiederholt Anstrengungen unternommen, Vertragsverhandlungen über den
Abschluss eines Parallelabkommens zur Dubliner Übereinkunft aufzunehmen.
Die EU macht dies aber neustens vom erfolgreichen Abschluss der
laufenden bilateralen sektoriellen Verhandlungen abhängig.

Zusätzlich zu diesen Anstrengungen verbindet der Bundesrat die bereits
erwähnten Verhandlungen mit Frankreich, Italien und Österreich über eine
verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Polizeibereich mit
Gesprächen über den Abschluss von Rückübernahmeabkommen. Besondere
Priorität räumt der Bundesrat dabei den Verhandlungen mit Italien ein.
Aber auch wenn diese bilateralen Rückübernahmeabkommen erfolgreich
abgeschlossen werden, können sie die negativen Folgen des
schweizerischen Abseitsstehens vom Dubliner Abkommen nur zum Teil
beseitigen. Dazu folgendes Beispiel: Ein afrikanischer Staatsbürger
ersucht in Belgien um Asyl. Er zieht weiter nach Frankreich und reicht
dort ein neues Asylgesuch ein. Frankreich stellt fest, dass in Belgien
bereits ein Gesuch hängig ist und schickt ihn deshalb dorthin zurück,
was von Belgien auch akzeptiert wird. Daraufhin reist der Asylbewerber
illegal in die Schweiz und versucht es hier erneut mit einem Asylgesuch.
Die Schweiz verlangt von Belgien, dass es den Asylbewerber zurücknimmt,
was jedoch von Belgien abgelehnt wird, weil die Schweiz nicht Mitglied
des Dubliner Abkommens ist.

Visum
Wie der Bundesrat in seinen kürzlichen Antworten auf verschiedene
parlamentarische Vorstösse festgehalten hat, kann die Problematik im
Zusammenhang mit dem Schengener Einheitsvisum weder mit einer
Abschaffung der Visumpflicht noch mit einer einseitigen Anerkennung des
Schengener Einheitsvisums gelöst werden. Ein entsprechender einseitiger
Entscheid ginge zu Lasten der inneren Sicherheit der Schweiz und unserer
Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Dagegen versuchen wir den Nachteil
des Ausschlusses vom Schengenvisum durch vereinfachte Anschlussvisa
möglichst gering zu halten.
Da sich diese Schwierigkeiten weder im Alleingang noch im Rahmen unserer
Verhandlungen über die Polizeizusammenarbeit mit den Nachbarstaaten
lösen lassen, muss die Einbeziehung der Schweiz in die Visumpolitik und
-praxis von Schengen ein vordringliches Anliegen darstellen. In diesem
Sinn hat der Bundesrat beschlossen, umgehend mit den Schengener Staaten
Sondierungsgespräche auf Expertenebene aufzunehmen. Ziel dieser
Gespräche wird es sein, abzuklären, ob im Bereich Visum eine partielle
Kooperation möglich ist.
Ich fasse zusammen:

Kurzfristig lassen sich gewisse Nachteile der Nichteinbindung der
Schweiz in den sich bildenden europäischen Sicherheitsraum nicht
vermeiden. Wir können im delikaten Bereich der inneren Sicherheit aber
nicht einfach warten, bis ein EU-Beitritt innenpolitisch mehrheitsfähig
wird.
Wir werden daher die vom Bundesrat eingeleitete Politik bilateraler
Abkommen mit unseren Nachbarstaaten und sektorieller Zusammenarbeit mit
Schengen konsequent weiterverfolgen: Das bedeutet konkret den Abschluss
und die Implementierung von Rückführungsabkommen (besonders wichtig
Italien), von Abkommen über eine intensivere grenzpolizeiliche
Zusammenarbeit und von Zusatzabkommen zum europäischen
Rechtshilfeabkommen mit unseren Nachbarstaaten. Daneben geniesst der
Abschluss einer Parallelkonvention zum Dubliner-Abkommen im Asylbereich
oberste Priorität. Gleichzeitig prüfen wir verschieden Modalitäten einer
direkten Zusammenarbeit mit Schengen.
Dieser pragmatische Problemlösungsansatz soll uns helfen, die Zeit zu
überbrücken, die unsere direkte Demokratie benötigt, um sich auf eine
Beitrittsabstimmung vorzubereiten.
Wir müssen diese Zeit allerdings nutzen, denn es wäre fatal, wenn wir
unvorbereitet in Beitrittsverhandlungen mit der EU einträten. Wir müssen
unserem Volk konkret und transparent aufzeigen, welches die politischen,
finanziellen und ökonomischen Folgen eines solchen Schrittes sind. Wir
müssen darlegen, welche Massnahmen wir im Bereiche der direkten
Demokratie, der Gesetzgebung, der staatlichen Institutionen, des
föderativen Staatsaufbaus treffen müssen.

Erst auf der Grundlage dieser Fakten wird die nötige breite Diskussion
über einen EU-Beitritt möglich. Denn eines ist sicher, wir werden Volk
und Stände - eine Notlage ausgenommen - nur "en pleine connaissance de
cause" erfolgreich in die EU führen.