"Was hält die Schweiz zusammen?"-Vortrag von BR Arnold Koller
Was hält die Schweiz zusammen?
Vortrag von Bundesrat Arnold Koller
auf Einladung
des Vereins zur Erneuerung der Eidgenössischen Gemeinschaft
und der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich
Zürich, 27. März 1998
Die Schweiz - Faszination und Herausforderung
In Italien, Frankreich oder Deutschland würde wohl kaum je ein Politiker
die Frage aufwerfen, was seine Nation zusammenhält. Denn die meisten
Staaten des westlichen Abendlandes kennen eine dominante Sprache und
Kultur; allein dieser Umstand prägt ihre nationale Identität, hält sie
wie eine natürliche Klammer zusammen. Deshalb konnte zum Beispiel der
frühere Bundeskanzler Willy Brandt nach dem Fall der Berliner Mauer 1989
sagen: "Was zusammengehört, wächst nun zusammen."
Für die Schweiz ist die Ausgangslage bekanntlich grundlegend anders. Wir
haben keinen homogenen Sprach- und Kulturraum. Die Identität der Schweiz
ist weder ethnisch noch sprachlich begründbar. Die sprachliche,
kulturelle und konfessionelle Vielfalt ist ein wichtiges Kennzeichen
unseres Landes. Zwar gibt es in recht vielen Nationen
Sprachminderheiten, und häufig geniessen Minderheitengebiete auch einen
Autonomiestatus. Doch dieses Modell unterscheidet sich grundlegend vom
schweizerischen. Nach unserem Selbstverständnis sollen die Minderheiten
gleichberechtigt am nationalen Geschehen teilnehmen und politisch voll
integriert sein. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt verlangen
deshalb in unserem Land mehr als Minderheitenschutz, sie gehören
konstituierend zum Wesen der Schweiz.
Weil ihr eine kulturelle Klammer fehlt, ist die Schweiz keine
selbstverständliche, sondern eine fragile Nation. Soll sie gedeihen,
bedarf sie der Pflege und der Willensanstrengung. Nicht von ungefähr
sprechen wir von einer Willensnation. Ich würde die Schweiz überdies als
Lernnation bezeichnen, ist doch ihre beachtliche Integrationsleistung
die Frucht eines beständigen, oft schmerzhaften Lernprozesses. Denn es
ist eine Tatsache, dass Rätoromanen, Tessiner, Romands und
Deutschschweizer in vielen gesellschaftlichen und politischen Fragen
ihre eigenen Sensibilitäten entwickelt haben und entwickeln. Dies gilt
beileibe nicht nur für die Europapolitik, ich erlebe es zum Beispiel
auch in der Asylpolitik immer wieder. Solche Unterschiede und
Spannungsfelder gehören zur Schweiz. Sie sorgen unter anderem dafür,
dass unser Land sowohl uns selbst als auch andere fasziniert. Sie
stellen uns aber auch vor die dauernde Herausforderung, durch
gegenseitige Rücksichtnahme im politischen Prozess einvernehmliche
Lösungen zu finden.
Die Frage "Was hält die Schweiz zusammen?" ist also keineswegs ein
Krisensymptom. Der nationale Zusammenhalt stellt vielmehr eine
Daueraufgabe dar, die wir bald stärker und bald schwächer wahrnehmen,
aber nie vernachlässigen dürfen. Zu jenen, die sich dieser Daueraufgabe
stellen, gehören zweifellos die heutigen Gastgeber, der Verein zur
Erneuerung der Eidgenössischen Gemeinschaft und die Neue Helvetische
Gesellschaft. Ich erlaube mir deshalb, die Frage nach dem Zusammenhalt
der Schweiz heute Abend aufzuwerfen, wohlwissend, dass Carl Spitteler
1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich mit seiner Rede
zum "Schweizer Standpunkt" in einem wichtigen historischen Moment viel
Entscheidenderes zu dieser Frage gesagt hat, als ich es heute zu tun
vermag.
Der Nationalstaat auf dem Prüfstand
Die Nation Schweiz steht heute in doppelter Weise auf dem Prüfstand; zum
einen werden die Funktionen und die Legitimationsgrundlagen der
Nationalstaaten ganz allgemein hinterfragt, zum andern gibt es auch
spezifische Herausforderungen für die Schweiz.
Die zwei schrecklichen Weltkriege in unserem Jahrhundert waren nicht
zuletzt die Folge eines ideologisierten Nationionalismus. Diese bittere
Erfahrung hat das Konzept der Nation völlig verändert. Nationalstaaten
sind heute - insbesondere im Raum des Europarates - nur noch in Form des
demokratischen Rechtsstaates legitimiert. Umgekehrt stellen wir fest,
dass der demokratische Rechtsstaat weiterhin als Nationalstaat
organisiert ist. Und auch die sozialstaatlichen Errungenschaften der
letzten Jahrzehnte sind überall in Europa eng an den Nationalstaat
gebunden.
Die gewandelte, aber weiterhin eminente Bedeutung des Nationalstaates
wird indes in jüngster Zeit vermehrt in Frage gestellt. Wirtschaft und
Gesellschaft internationalisieren sich zunehmend und entwickeln eine
globale ökonomische Kultur, die nicht an nationale Grenzen und
Identitäten gebunden ist. "McWorld", mit diesem Begriff hat der
amerikanische Politikwissenschafter Benjamin Barber diese Entwicklung
plakativ versinnbildlicht. Tatsächlich nimmt der Handlungsspielraum der
nationalen Politik angesichts der hohen und globalen Mobilität des
Kapitals ab, denken Sie etwa an die Steuer- , Umwelt- oder
Arbeitsmarktpolitik. Die Erwartungen an die nationale Politik sind
hingegen konstant geblieben, wenn nicht gestiegen. Diese Diskrepanz
zwischen Möglichkeiten und Erwartungen führt zu einem Vertrauensverlust.
Der Nationalstaat verliert an Legitimation. Doch ein Ersatz ist nicht
erkennbar.
Im Gleichschritt dazu stellen wir heute fest, dass das Bestreben der
Moderne, die Handlungschancen der Individuen zu vervielfältigen, neben
Befreiung auch Risiken birgt. Davon zeugt die Rede, die Gesellschaft
atomisiere sich und die sozialen Strukturen würden sublimieren. Nun
gehöre ich nicht zu den Schwarzmalern. Gewisse Symptome dürfen wir
jedoch nicht übersehen - so etwa das zunehmend hochgeschraubte
Anspruchsdenken oder der oft blinde Kampf um die Besitzstandswahrung.
Globalisierung wie Individualisierung entwickeln Zentrifugalkräfte in
den Nationalstaaten, während diese aber weiterhin die wichtigsten
Garanten der Demokratie bleiben. In der Wissenschaft wird denn auch von
der "Demokratie am Wendepunkt" gesprochen, von ihrer neuen Gefährdung,
die rascher als erwartet auf den historischen Triumph von 1989 folgt.
Nun ist es keineswegs so, dass die hier aufgeworfenen Probleme zwar
erkannt sind, aber noch unbeantwortet im Raum stehen. Staaten und
Gesellschaften sind daran, sich den neuen Herausforderungen zu stellen.
Zum einen nenne ich die Bemühungen, die demokratische und
rechtsstaatliche Kontrolle ausgewogener auf die verschiedenen
politischen Stufen zu verteilen, also auch auf eine internationale oder
gar supranationale Stufe. Denn einer internationalen Wirtschaft müssen
wir mit internationalem Wirtschaftsrecht verbindliche Regeln setzen. Der
Nationalstaat hat sich seinerseits auf seine Stärken zu konzentrieren:
auf den Schutz der Bürger- und Menschenrechte, die soziale und die
innere Sicherheit, die Gewährung einer hochstehenden Bildung, die
Schaffung von guten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
Zum andern nenne ich die vielfältigen Bemühungen, den gesellschaftlichen
Kitt zu stärken. Das Bewusstsein dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger
neben Rechten auch Pflichten wahrzunehmen haben, wächst. Dies äussert
sich nicht zuletzt in der Universal Declaration of Human
Responsabilities des InterAction Council; mit dieser Erklärung zu den
Menschenpflichten möchten verschiedene ehemalige Staats- und
Regierungschefs, darunter alt Bundesrat Furgler, die eben 50jährige
Menschenrechtserklärung der UNO ergänzen. Im Rahmen unserer
Verfassungsreform haben sowohl der National- wie der Ständerat einen
neuen Artikel gutgeheissen, der in programmatischer Weise die
gesellschaftliche Verantwortung jeder Person hervorhebt.
Auch steigt das Bewusstsein dafür, dass Individualität und
Gemeinschaftssinn im Gleichgewicht zu halten sind. In der politischen
Philosophie äussert sich dies etwa in der Denkschule des
Kommunitarismus, der die abstrakten Rechtsstaatstheorien ergänzt durch
die im Grunde schweizerische Einsicht, dass jede demokratische und
rechtsstaatliche Ordnung in einem konkreten, gelebten Ethos bürgerlicher
Gemeinschaft verwurzelt sein muss. Es braucht mit andern Worten
freiwilliges Engagement der Bürgerinnen und Bürger in Politik und
Gesellschaft, sei es in Behörden, Vereinen, Kirchen, Hilfswerken,
Nachbarschaftsgruppen usw. Es braucht jene Bürgergesellschaft, die
einerseits die Staatsmacht kontrolliert und anderseits Aufgaben
übernimmt, die der Staat nicht wahrnehmen oder nicht mehr allein
wahrnehmen kann.
Die Schweiz auf dem Prüfstand
Wo steht die Schweiz angesichts der Herausforderungen durch die
Globalisierung und Individualisierung? In bezug auf die
Bürgergesellschaft stehen wir besser da, als viele das wahrhaben wollen.
Es gibt in unserem Land eine grosse und empirisch belegbare Bereitschaft
zu gesellschaftlichem und politischem Engagement. Solches Engagement
kann nicht von oben dekretiert werden. Gerade auch die heutigen
Gastgeber geben ein gutes Beispiel dafür, wie Gemeinsinn von unten
geweckt und weitergegeben werden kann. Es ist sehr wichtig, dass wir
unserer Bürgergesellschaft weiterhin Sorge tragen.
Weit mehr gefordert ist die Schweiz durch die weltweiten Bestrebungen,
auch die Politik zu internationalisieren. Die aussenpolitische Öffnung
der Schweiz ist ein Imperativ unserer Zeit. Die wirtschaftliche Öffnung
liegt in unserem eigensten Interesse - ich denke an die Verträge der
Welthandelsorganisation (WTO) oder ganz aktuell an das Multilaterale
Investitionsabkommen (MAI). Auch die politische Öffnung wird immer
wichtiger, um uns Mitbestimmungsrechte zu sichern. Der Bundesrat wird
bekanntlich demnächst seine Position zum weiteren Vorgehen bei der
europäischen Integration festlegen.
Viele befürchten jedoch, diese Entwicklung gefährde das unterscheidend
Gemeinsame der Schweiz. Tatsächlich scheint unsere nationale Identität
diesbezüglich weniger resistent zu sein als jene "natürlicher" Nationen,
neigen wir als Vielvölkerstaat doch fast reflexartig zu introvertierten
Verhaltensmustern und pflegten wir innere Zerreissproben in der
Vergangenheit jeweils durch aussenpolitische Abstinenz zu vermeiden.
Hinzu kommt eine zweite Tatsache: Während Jahrhunderten konnten wir uns
als Antithese zum übrigen Europa verstehen, wie es Herbert Lüthy
meisterhaft dargelegt hat. Dieses Selbstverständnis wird von der
Realität immer mehr überrollt, denn Europa ist in den letzten fünfzig
Jahren freiheitlicher, rechtsstaatlicher und demokratischer geworden.
Verunsichert stellen sich viele die Frage: Verliert die Schweiz in
diesem Angleichungsprozess unweigerlich ihre spezifischen
Wesensmerkmale, verliert sie ihre raison d'être?
Etwas ist ganz klar: Die Antwort auf die Frage nach dem nationalen
Zusammenhang muss sich an der internationalen und besonders an der
europäischen Realität messen, und dazu gehört auch die Europäische
Union. Es ist zum Beispiel völlig verfehlt, ein Zerrbild der EU zu
hätscheln und ihm ein Idealbild der Schweiz entgegenzuhalten. Wer auf
einem Auge blind und auf dem andern blauäugig ist, wird die Geschichte
nicht meistern. Ein zweites ist aber ebenso klar: Es gibt keine
pfannenfertigen Antworten, welchen Weg wir genau einschlagen müssen,
damit der Zusammenhalt der Schweiz unter der notwendigen
aussenpolitischen Öffnung nicht leiden wird. Die Diskussion darüber ist
also unentbehrlich.
Wie den nationalen Zusammenhalt stärken?
Ich bin überzeugt, dass wir den nationalen Zusammenhalt auf verschiedene
Weise fördern müssen. Im folgenden werde ich mich auf drei Bereiche
beschränken: Förderung des Dialogs, Aktualisierung unserer
Identitätsmerkmale, Effizienz des staatlichen Handelns.
Erstens müssen wir uns vor Augen führen, dass eine Willensnation in
erster Linie vom Willen zum Dialog lebt. Wir haben uns in der Schweiz
aufgrund eines gütigen Schicksals und eigener Anstrengungen längst daran
gewöhnt, den innerstaatlichen Frieden als Selbstverständlichkeit
hinzunehmen. Zu gerne vergessen wir, dass jede Generation den inneren
Frieden und Ausgleich wieder neu erringen muss. Konflikte können dabei
ein Antrieb für die Fortentwicklung unseres Gemeinwesens sein, sofern
wir sie im Gespräch bewältigen.
Guter Dialog setzt indes voraus, dass man sich kennt und versteht. Eine
Willensnation muss auch den Willen aufbringen, anderssprachige Schweizer
zu verstehen und somit auch andere Landessprachen zu erlernen. Es ist
wichtig, dass auf schulischer, privater wie staatlicher Ebene der
Austausch über die Sprachgrenzen hinweg gepflegt wird. Viele Anlässe des
Jubiläumsjahres dienen diesem Ziel, ebenso die Expo 2001.
Zweitens gilt es zu prüfen, welche unserer tradierten Identitätsmerkmale
in der heutigen historischen Situation noch bestehen können. Es sind
dies eine ganze Menge: unser Freiheitsideal, dass sich sowohl in der
Gewährung von Grundrechten wie in der direkten Demokratie, in der
unmittelbaren Partizipation am politischen Entscheidungsprozess
ausdrückt; unser Gleichheitsideal, das neben der Rechtsgleichheit auch
den Minderheitenschutz umfasst; unser föderalistischer Staatsaufbau, der
die Vielfalt in der Einheit erst ermöglicht; unsere Multikulturalität,
deren beständige Pflege uns überdies auch bestens zur internationalen
Kooperation befähigt; und schliesslich unsere humanitäre Tradition.
Auch die Neutralität kann ein Identitätsmerkmal der Schweiz bleiben.
Objektiv gesehen hat sie indes aufgrund der internationalen Entwicklung
an Bedeutung verloren. In einer Zeit, in der zahlreiche
sicherheitspolitische Probleme nur noch mittels internationaler
Kooperation gemeistert werden können, müssen wir uns von der falschen
Vorstellung lösen, Neutralität heisse aussenpolitische Abstinenz.
Prägend wird aber immer mehr unsere direkte Demokratie: Ihr kommt meines
Erachtens eine wachsende Bedeutung zu für unsere nationale Identität.
Durch Volksabstimmungen über wichtige Sachfragen erlebt sich die Schweiz
fast permanent als politische Gemeinschaft und Nation. Selten nehmen wir
die Stimmung in den anderen Landesteilen so deutlich wahr wie an
Abstimmungswochenenden. Die direkte Demokratie ist also weit mehr als
ein Verfahren zur Entscheidungsfindung, sie macht die Schweiz für die
Bürgerinnen und Bürger erfahrbar. Sie verhindert auch, dass politische
Konflikte unter den Teppich gekehrt werden.
Nichts hält unser Land mehr zusammen als unsere direkte Demokratie. Die
europäische Integration stellt deshalb in Bezug auf die Volksrechte eine
besondere Herausforderung dar. Denn es ist ganz offen festzuhalten: Ein
Beitritt zur Europäischen Union würde zwar die Volksrechte auf
kommunaler und kantonaler Stufe nur marginal, jene auf nationaler Ebene
hingegen recht spürbar berühren. Wo die EU in ihrem Kompetenzbereich
Recht setzt, wären Referenden und Initiativen mitunter nicht mehr
möglich. Laut einer Studie von Professor Schindler wären von allen
Abstimmungen auf Bundesebene zwischen 1990 und 1994 unter EU-Recht rund
10% nicht möglich gewesen, weitere 30% hätten nur mit gewissen
Einschränkungen erfolgen können. Direkte Demokratie und
EU-Mitgliedschaft schliessen sich nicht gegenseitig aus. Doch es besteht
ein Spannungsverhältnis, dem wir uns stellen müssen, vielleicht auch
durch die Schaffung von zusätzlichen, "europakompatiblen" Volksrechten.
Ein Wort auch zur humanitären Tradition der Schweiz: Sie lebt so stark
wie kein anderes Identitätsmerkmal von konkreten Handlungen und Taten.
Deshalb muss sie immer wieder tatkräftig erneuert werden. Genau dies ist
das Ziel der "Stiftung solidarische Schweiz", zu der gegenwärtig
verwaltungsintern die Arbeiten vorangetrieben werden. Sie gibt uns die
Chance, etwas Einmaliges und Bleibendes zu schaffen, das dem für die
Schweiz grundlegenden Prinzip der Solidarität neuen Gehalt und neue
Ausstrahlungskraft geben kann. Ich bin deshalb überzeugt, dass sie eine
starke identitätsstiftende Wirkung entfalten wird.
Zum dritten Punkt: Unser Bundesstaat muss sich stärker als bisher durch
Leistung legitimieren. Wie erwähnt sind die Zeiten vorbei, als die
Schweiz ein gutes Stück ihrer Legitimation aus ihrem demokratischen
Sonderfall in einem nationalistischen und zum Teil diktatorischen Europa
herleiten konnte. Die Einzigartigkeit der Schweiz, die wir oft als
ideelle Überlegenheit interpretiert haben, schrumpft dahin. Selbst die
direkte Demokratie wird anderswo entdeckt, etwa in Italien oder
Australien. In unserer Nation ohne natürliche kulturelle Klammer war der
staatspolitische Sonderfall indes stets ein starker Faktor des inneren
Zusammenhalts.
Da dieser Faktor an Bedeutung verliert, stellt sich die Frage nach neuen
Quellen. Ich denke, der nationale Zusammenhalt muss unter anderem auch
durch die wirtschaftliche und soziale Effizienz unseres Kleinstaates
erreicht werden. Der Kleinstaat verfügt in den internationalen
Beziehungen nur über geringe politische Machtressourcen. Er muss dieses
Defizit mit einer grösseren volkswirtschaftlichen Leistung wettmachen.
Natürlich wäre es kurzsichtig zu glauben, effizientes staatliches
Handeln genüge, um die Loyalität der Staatsbürger zu sichern. Wohlfahrt
allein vermag die Schweiz ebensowenig zusammenzuhalten wie
zwischenzeitliche Hochs unserer Fussballnationalmannschaft. Dennoch
müssen wir dem Verhältnis von Loyalität und Effizienz genügend
Aufmerksamkeit schenken. Die Lösung der anstehenden grossen Probleme ist
daher nicht nur aus sachlichen Gründen drängend, die Schweiz braucht sie
auch zur Selbstlegitimation.
Packen wir deshalb die Herausforderungen mit doppelter Entschlossenheit
und Konsensbereitschaft an. Ich denke an die dringende Sanierung der
Bundesfinanzen. Volk und Stände haben es am 7. Juni in der Hand, mit
einem kräftigen Ja zum "Haushaltsziel 2001" die Sparvorgaben von
Bundesrat und Parlament zu bestätigen. Ich denke weiter an die Sicherung
der Sozialwerke und die Gewährleistung der inneren Sicherheit in einer
Zeit, in der die Kriminalität leider auch in unserem Staate zunimmt.
Der Beitrag der Verfassungsreform
Meine Damen und Herren, Sie wären wohl erstaunt oder gar enttäuscht,
wenn ich im Rahmen unseres Themas nicht auch auf die laufende
Verfassungsreform zu reden käme. Denn die Frage ist naheliegend: Kann
die Verfassungsreform einen Beitrag zum nationalen Zusammenhalt leisten?
Unsere Bundesverfassung wird dieses Jahr 150 Jahre alt. Die damals, am
16. August 1847 eingesetzte Verfassungskommission nahm sich als Ziel der
Bundesrevision vor, "den Ideen und den Bedürfnissen der Zeit zu
entsprechen, indem man das Vergangene benutzt und der Zukunft einen
neuen Weg öffnet."
Die laufende Verfassungsreform verfolgt unter stark veränderten
Umständen das gleiche Ziel. Dies zeigt schon das Konzept des
Bundesrates. In einem ersten Schritt soll die geltende Verfassung wieder
à jour gebracht werden. Auf dem Bewährten aufbauend hat der Bundesrat in
separaten Vorlagen je ein Reformpaket zur Justiz und zu den Volksrechten
unterbreitet. Andere Reformvorhaben sind weit fortgeschritten oder
eingeleitet, so die Reform des Finanzausgleichs und die
Staatsleitungsreform. Wir verstehen also die Verfassungsreform als nach
vorne gerichteten, offenen Prozess. Die Eidg. Räte haben dieses Konzept
übernommen und sind mit der Beratung der Nachführung und der
Justizreform auf gutem Wege.
Die "Mise à jour" hat zum Ziel, den erreichten Stand in der Entwicklung
des Verfassungsrechts zu klären und festzuhalten. Nach 124 Jahren seit
der letzten Totalrevision und über 140 Teilrevisionen drängt sich eine
gründliche Renovation unserer Verfassung auf. Es ist bezeichnend, dass
die geltende Bundesverfassung vom Economist kürzlich als "over-stuffed
cupboard", als vollgestopften Schrank beschrieben wurde.
Tatsächlich atmet sie in Sprache, Stil und teils auch Inhalt den Geist
des letzten Jahrhunderts. Sie ist auch ausser Gleichgewicht: Zum einen
gehören mehrere Verfassungsbestimmungen wie das Absinthverbot auf die
Gesetzes- oder gar die Verordnungsstufe. Zum andern weist der
Verfassungstext gewichtige Lücken auf, insbesondere bei den
Grundrechten. Dies hatte zur Folge, dass wesentliche Grundrechte
(persönliche Freiheit, Versammlungsfreiheit u.a.) und
Verfassungsprin-zipien (Willkürverbot, Verhältnismässigkeitsprinzip
etc.) durch die Behördenpraxis als ungeschriebenes Recht entwickelt
wurden statt durch den legitimierten Verfassungsgeber, das heisst Volk
und Stände. Eine solche Entwicklung darf kein Verfassungsgeber auf die
leichte Schulter nehmen, am wenigsten in einer direkten Demokratie. Die
Kluft zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Verfassungsrecht darf
sich deshalb nicht noch weiter vergrössern.
Mit der "Mise à jour" wollen wir der Bundesverfassung ihre ordnende,
legitimierende und identitätsstiftende Kraft zurückgeben. Dies setzt
voraus, dass wir das unge-schriebene Verfassungsrecht in die
geschriebene Verfassung integrieren, den ver-fassungsunwürdigen
Wildwuchs beseitigen, das Verhältnis des Landesrechts zum Völkerrecht
klären, nicht zuletzt aber auch jene vier Säulen wieder freilegen, auf
de-nen unser Bundesstaat nach wie vor ruht, nämlich den liberalen
Rechtsstaat, den Sozialstaat, die direkte Demokratie und den
Föderalismus.
Mit den Reformprojekten will der Bundesrat die Handlungsfähigkeit
unserer Institutionen stärken. Sehr dringend ist die Justizreform. Diese
Einschätzung teilt auch der Ständerat, der sich bereits mit diesem
Reformpaket befasst und es sehr gut aufgenommen hat. Denn unsere
obersten Gerichte in Lausanne und Luzern sind chronisch überlastet. Sie
können ihre höchstrichterlichen Funktionen, die Wahrung der
Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung, nicht mehr adäquat wahrnehmen.
Eine Erhöhung der Richterzahl würde sie vollends zu Justizfabriken
machen. Die Justizreform hingegen führt zu Entlastungen, indem zum
Beispiel dem Bundesgericht durchgehend richterliche Behörden
vorgeschaltet werden, damit es keine aufwendigen
Sachverhaltsermittlungen mehr durchführen muss. Die Justizreform bringt
aber auch weitere wichtige Neuerungen: eine allgemeine
Rechtsweggarantie, eine behutsame Ausdehnung der Normenkontrolle auf
Bundesgesetze, die Kompetenz für den Bund, das Zivil- und
Strafprozessrecht zu vereinheitlichen.
Auch im Bereich der Volksrechte besteht Handlungsbedarf. Wir Schweizer
stimmen heute zu viel und nicht immer über das Wichtige ab. Wenn unsere
direkte Demokratie auch im nächsten Jahrhundert funktionieren soll,
müssen wir den Mut haben, auch sie dem veränderten Umfeld anzupassen,
damit unser Volk künftig bei allen wichtigen politischen Entscheiden
mitbestimmen kann. Deshalb schlägt der Bundesrat zum einen neue
Instrumente vor - insbesondere das Finanz- und Verwaltungsreferendum und
die Allgemeine Volksinitiative -, zum andern eine massvolle Erhöhung der
Unterschriftenzahlen. Es geht also insgesamt um eine Stärkung der
direkten Demokratie. Dass die Vorschläge bereits in den
Verfassungskommissionen umstritten sind, überrascht bei diesem Herzteil
unseres Staates nicht.
Trägt nun diese Verfassungsreform zum Zusammenhalt der Schweiz bei? Ohne
die Bedeutung der Verfassung im allgemeinen und jene der laufenden
Reform im speziellen zu überschätzen, lautet meine Antwort: Ja. Denn mit
der "Mise à jour" machen wir das Gemeinsame und Verbindende wieder
sichtbar, mit den Reformen stärken wir die staatliche Handlungsfähigkeit
der Schweiz.
Ich verweise besonders auch auf den Zweckartikel der neuen Verfassung.
Er umfasst ein gemeinsames Programm für die Schweiz der Gegenwart und
der Zukunft: den Schutz der Freiheit und der Rechte des Volkes; die
Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes; die gemeinsame Wohlfahrt; den
inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt; die dauerhafte
Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen; den Beitrag zu einer
friedlichen und gerechten internationalen Ordnung.
Schluss
Meine Damen und Herren, ein bekanntes Wort lautet: "Les Suisses
s'entendent bien parce qu'ils ne se comprennent pas." Wir müssen wohl
zugeben, dass in diesem Satz ein Körnchen Wahrheit steckt. Schauen wir,
dass es bei einem Körnchen bleibt. Pflegen wir deshalb den Dialog über
sprachliche und andere Grenzen hinweg. Bringen wir unsere
Identitätsmerkmale mit den Realitäten der Gegenwart in Einklang. Treffen
wir die nötigen Entscheide, damit die Schweiz ein leistungsfähiger und
effizienter Staat bleibt. Machen wir mit der Verfassungsreform das
Gemeinsame und Verbindende wieder sichtbar. Dann müssen wir uns nicht um
den Zusammenhalt unseres Landes sorgen. Dann bleibt die Schweiz, was sie
ist: eine sich ständig erneuernde Willens- und Lernnation.