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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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200 Jahre freier Thurgau

200 Jahre freier Thurgau

Frauenfeld, 3. März 1998

Grussbotschaft von Bundesrat Arnold Koller

Anrede

"So haben wir die Landschaft Thurgau frey und ledig gesprochen", heisst
es im Freilassungsbrief der Tagsatzung vom 3. März 1798.
Zum 200jährigen Jubiläum des freien Thurgaus überbringe ich dem
thurgauischen Volk, dem Grossen Rat und der Regierung im Namen des
Bundesrates die besten Glückwünsche. Es war eine breit abgestützte
Bürgerbewegung, die vor 200 Jahren den Stein ins Rollen brachte, und es
ist deshalb gut und richtig, dass am heutigen Festakt die gesamte
Bevölkerung eingeladen ist.

Nichts mehr ausser der historischen Erinnerung weist heute darauf hin,
dass der Thurgau in der Alten Eidgenossenschaft ein Untertanengebiet
war. Von Beginn weg war er ein gleichberechtigtes und etabliertes Glied
unseres vor 150 Jahren entstandenen Bundesstaates. Der Thurgau hat der
Schweiz auch zahlreiche Staatsmänner geschenkt, darunter die Bundesräte
Fridolin Anderwert (1875 - 1880), Adolf Deucher (1883 - 1912) und
Heinrich Häberlin (1920 - 1934).

Heute ist der Thurgau ein zuverlässiger Partner der anderen Kantone und
des Bundes. Ja, Ihr Thurgauer wisst wohl gerade wegen der verworrenen
Geschichte Eures Kantons noch besser als andere, was Ihr dem Bund der
vereinigten Völ-kerschaften der dreiundzwanzig Kantone verdankt:
Unabhängigkeit, Freiheit und Wohlfahrt. Und deshalb haltet Ihr so treu
zum Bund wie Ihr eure schöne Heimat liebet. Zwar hat man auch im Thurgau
gelegentlich das Gefühl, in Bern zuwenig Gehör zu finden. Ich kann Euch
aber versichern, der Bundesrat vernimmt Eure Stimme sehr wohl, nur fehlt
ihm noch die Gabe, alle Wünsche der Kantone zu erfüllen.
_____________

Am heutigen Festakt schauen wir zurück auf den Ursprung des modernen
Thurgaus und der modernen Schweiz. Jene Ereignisse reizen nicht nur die
Historiker, sondern auch die Politiker zu ein paar Reflexionen.

Der Volksmund sagt: "Wer für die Freiheit ficht, hat zwanzig Hände und
noch so viel Herz." Mit viel Herz, aber auch mit viel Besonnenheit
errangen die Thurgauer vor 200 Jahren ihre Freiheit. Mit ihren Händen
schwangen sie nicht das Schwert, sondern führten sie die Feder für
Traktate, Aufrufe, Forderungs- und Verhandlungsbriefe. Es war eine
"samtene Revolution", der die Tagsatzung genau heute vor 200 Jahren
nachgab, indem sie auf ihre Herrschaftsrechte über den Thurgau
verzichtete und ihn als neues Glied in die Eidgenossenschaft aufnahm.

Nun war die Thurgauer Freiheit freilich das Kind einer wirren Zeit. Von
Amerika und Frankreich her erschallte damals der Ruf nach
Menschenrechten, nach bürgerlicher Freiheit und Gleichheit. Diese Ideen
fielen nicht zuletzt in der Schweiz auf fruchtbaren Boden.

Bemerkenswert ist aber, dass die Thurgauer auch in der demokratischen
Tradition der Eidgenossenschaft eine Quelle für ihren Freiheitsdrang
fanden. So soll Joachim Brunschweiler, einer der führenden Männer der
Freiheitsbewegung, vom Besuch einer appenzellischen Landsgemeinde stark
beeindruckt und inspiriert worden sein - als Appenzeller erwähne ich das
nicht ohne Stolz. Die Thur-gauer verlangten denn nicht nur bürgerliche
Freiheit und Gleichheit, sondern auch eine "Volksregierung".

Die Alte Eidgenossenschaft reagierte bekanntlich zu spät auf den
Freiheitsdrang in ihren Untertanengebieten. Die Dämme gegen innere
Reformen wurden schliesslich von aussen, von Frankreich niedergerissen.
Auch dem Thurgau brachte der französische Druck zunächst den Erfolg, der
französische Sieg dann aber Kriegswirren und einen uniformen
Einheitsstaat, der die Kantone entmündigte und alte demokratische Rechte
beseitigte.

Grundrechte, direkte Demokratie, Zugehörigkeit zum Bund der Eidgenossen
- diese Thurgauer Ideale kamen erst im Laufe der Zeit voll zur Geltung.
Der Schweiz gelang erst mit der Verfassung von 1848 die Synthese und
Balance zwischen alten und neuen Errungenschaften, zwischen
erforderlicher Einheit und Föderalismus, zwischen Rechtsstaatlichkeit
und Demokratie. Es ist wohl kein Zufall, dass der Thurgau mit Johann
Konrad Kern einen der wichtigsten Väter des neuen Bundesstaates stellte.

__________________

Der Blick auf die Gründungszeit unseres Bundesstaates zeigt, dass die
moderne Schweiz nicht nur eine Willens-, sondern auch eine Lernnation
ist. Es war ein langer und schmerzhafter Lernprozess, der nach der
Unbeweglichkeit der alten Ordnung und der Überreaktion der Helvetik zum
neuen Bundesstaat führte. Diese grosse Integrationsleistung ist immer
wieder neu zu vollbringen. Dies setzt Reformbereitschaft voraus.

Der amerikanische Politikwissenschafter Karl W. Deutsch, ein grosser
Bewunderer der Schweiz, mahnte schon vor 20 Jahren, die Schweiz dürfe
nicht in die politische Erstarrung des 18. Jahrhunderts zurückfallen,
und er schrieb uns ins Stammbuch: "Es gibt einige Gründe für die
Annahme, dass Reformbereitschaft der einzige Weg ist, eine Gesellschaft
zu erhalten, und dass der waghalsigste, der für die Stabilität
gefährlichste Versuch in der Politik der Versuch des kompletten
Konservatismus ist."

Tatsächlich gibt es in unserem Land einige Politikbereiche, für die
neue, langfristige Lösungen gesucht werden müssen. Ich nenne zum
Beispiel die Landwirtschaftspolitik, die Sicherung der Sozialwerke oder
die Klärung unseres Verhältnisses zu Europa.

Auch unser Staatswesen ist erneuerungsbedürftig.
Deshalb haben Bundesrat und Parlament zu handen unseres Volkes auch die
Reform unserer Verfassung an die Hand genommen. In einem ersten Schritt
wollen wir die geltende Bundesverfassung "à jour" bringen; es geht
insbesondere darum, ihre Mängel zu beseitigen, wichtige Lücken zu füllen
und die tragenden Grundwerte der Eidgenossenschaft wieder sichtbar zu
machen.

Diese nachgeführte, neue Verfassung dient indes auch als Initialzündung
und Rahmen für weitere Reformen vorab im Bereich der staatlichen
Institutionen. Der Ständerat wird diese Woche die dringende Justizreform
beraten. In Vorbereitung sind zudem eine Reform der Volksrechte und eine
Staatsleitungsreform. Sie alle haben zum Ziel, die Handlungsfähigkeit
unserer Eidgenossenschaft für das nächste Jahrhundert zu sichern. Hinzu
kommt die Föderalismusreform, mit der wir einen neuen, modernen
Finanzausgleich und eine Entflechtung der Bundes- und Kantonsaufgaben
anstreben.

Reformbereitschaft heisst, ständig die Versöhnung zwischen Bewahrung und
Erneuerung zu suchen. Das geht nicht ohne politische
Auseinandersetzungen. Es ist ein grosser Vorteil der direkten
Demokratie, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an diesem Prozess
ständig aktiv beteiligen. Unsere politische Ordnung erfordert breit
abgestützte Lösungen. Dies setzt voraus, dass wir über die Sprachgrenzen
hinweg die politische Kultur des konstruktiven Dialogs pflegen.

Reformbereitschaft verlangt aber auch, mit Augenmass Risiken einzugehen.
Wenn es zu einem Reformstau kommt in der Schweiz, dann wegen der
weitverbreiteten Angst, etwas zu verlieren, und wegen der Blindheit für
die neuen Chan-cen, die das Leben immer wieder bietet.

Ich bin indes überzeugt davon, dass die Schweiz wie zu Zeiten der
Helvetik und der Gründung unseres Bundesstaates stets noch eine
Lernnation ist. Vorzuziehen ist jedoch, wenn wir aus eigenem Antrieb und
nicht erst auf äusseren Druck hin lernen. Packen wir die
Herausforderungen mit jenen Qualitäten an, mit denen sich die Thurgauer
Freiheitskämpfer auszeichneten: mit Herz, Besonnenheit und Augenmass.