Schweizer Wappen

CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Homepage
Mail
Suche

Ansprache von Bundesrat Arnold Koller (Albisgüetli-Tagung 1998)

Albisgüetli-Tagung 1998 der Zürcher SVP
Ansprache von Bundesrat Arnold Koller,
Vorsteher des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements.
Zürich, 16. Januar 1998

Anrede
Ich freue mich, am  Beginn des Jubiläumsjahres 1998 mit Ihnen einen
Abend verbringen zu dürfen und zu Ihnen zu sprechen.
150 Jahre Bundesstaat
Der Bundesrat hat Volk und Stände eingeladen, heuer den 150. Geburtstag
unseres Bundesstaates zu feiern.
Dieses Gedenkjahr hat seinen guten Grund. Nicht nur, weil es Gelegenheit
zum Feiern gibt. Es gibt uns Gelegenheit zur Rückschau und zum Ausblick
in die Zukunft und es soll uns vor allem bewusst machen, dass die
Schweiz 1998 immer noch auf dem Werk von 1848 fusst. Das Jubiläumsjahr
ist somit eine grosse Chance, dass Schweizerinnen und Schweizer über
sich selber und über die grossen staatspolitischen Leistungen ihrer
Vorfahren wieder besser Bescheid wissen. Zu Recht sagt der Dichter: "Was
Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen." Wir
wollen uns aber auch überlegen, wie es weitergeht und wir wollen die
Motivation des Jubiläumsjahres zur Verfassungsreform nutzen. Damit
werden wir 1998 einen wichtigen Beitrag für die Zukunft unseres Landes
leisten.
Dabei spielt die Frage nach unserer Identität, nach dem was uns
zusammenhält, eine wichtige Rolle. Eine gefestigte nationale Identität
kann durch Krisen hindurchtragen. Ich denke etwa an die Zeit der
konfessionellen Spaltung im 16. und 17. Jahrhundert. Ohne
eidgenössisches Bewusstsein, ohne beständige Rückbesinnung auf das, was
schon die alte Eidgenossenschaft zusammenhielt, wäre es 1647 nicht zum
einigenden Defensionale von Wil gekommen. Der Eidgenossenschaft hätten
dauernde Spaltung und Auflösung gedroht.
Ähnliches gilt auch für die Schicksalsjahre 1847/48. Auch nach dem Sieg
der Radikalen über die Konservativen im Sonderbundskrieg hätte das Land
zerrissen werden können. Soweit ist es nicht gekommen. Denn besonnene
Männer hielten auch in der grössten Krise am Willen zur Einheit fest.
Das in Jahrhunderten gestärkte Zusammengehörigkeitsgefühl der
Eidgenossen zähmte die Leidenschaften der Sieger wie der Besiegten.
General Dufour führte seinen blutarmen Feldzug im steten Bewusstsein um
die gemeinsame Zukunft. Die Sieger hielten Mass, indem die kleinen
besiegten Landkantone, die gleichen Rechte erhielten wie die grossen
siegreichen Stadtkantone. Die Mehrheit verfiel - trotz verständlicher
Siegesfreude - auch nicht den Irrtümern der Helvetik, die gewachsenes
durch aufgezwungenes ersetzen wollte. Dafür verhalfen die Eidgenossen
gemeinsam der "Liberté", "Egalité" und "Fraternité", bleibenden Werten,
die mit der Helvetik ins Land gekommen waren, zum Durchbruch. Anderseits
war die Zeit reif, den losen Staatenbund in einen zentral geführten
Bundesstaat umzuwandeln. Die Stärkung der Bundesgewalt  war damals ein
Gebot der Stunde.
Sie verhalf der viersprachigen Schweiz zu nun schon 150 Jahre
anhaltenden Ausgleich, Frieden und Wohlstand. Sie hat das Land geeint.
In Wirklichkeit hat die Bundesverfassung 1848 nur den alten Bund in die
unbedingt nötige neue Form gegossen. Sie war ein zeitgemässer Kompromiss
zwischen Bewährtem und Neuem. Auf der einen Seite hat die Verfassung das
Land erneut um seine grundlegenden und bewährtem Ideen gesammelt. Auf
der anderen Seite übernahm sie neue Ideen, wie das aus Amerika
übernommene Zweikammersystem. So brachte sie Freiheit und Ordnung,
Stabilität und Reformwillen unter einen Hut. Sie hat die Rechte und
Freiheiten des einzelnen Bürgers, die Wirtschaftsfreiheit und die
althergebrachten kantonalen Unabhängigkeiten garantiert. Erstmals wurde
das Land als Einheit auch aussenpolitisch und militärisch
handlungsfähig. Die Schweiz wurde zu einem der fortschrittlichsten
Länder der damaligen Welt. Dieser Wille zu Einheit und Masshalten hat
sich bewährt. Die Schweiz bestand nicht nur die Stürme des Neuenburger
Handels und des deutsch-französischen Krieges, sie konnte sich vor allem
auch in den beiden Weltkriegen behaupten. Auch angesichts der grossen
Prüfung des Generalstreiks und der dunklen Zeiten der roten, schwarzen
und braunen Tyrannen hat sich unser Wille zu Zusammenhalt in Freiheit
bewährt. Wir dürfen aber gerade heute nicht vergessen, dass die
"liberté" ohne "égalité" und "fraternité" auch in der Schweiz keinen
Bestand gehabt hätte.
Grosse Herausforderungen der Gegenwart
Von dieser Weitsicht der Gründer des Bundesstaates können und wollen wir
lernen! Denn wenn die Schweiz als weltweites Vorbild politischer
Integration, als gewachsene direkte Demokratie und als prosperierenden
Wirtschaftsstandort Bestand haben soll, müssen wir die politische Kultur
des Miteinanderredens und Aufeinanderzugehens stärken. Zwar werden uns
Ideen immer wieder trennen. "Aber die harten Realitäten sind uns
gemeinsam, und die Beschäftigung mit ihnen muss uns immer wieder
zusammenführen" (Peter Jäggi). Ich spreche hier nicht von Einzelfragen,
sondern von den grossen Zukunftsproblemen unseres Landes.
Ich denke hier beispielsweise an das Asylwesen.
Ich denke an die Bundesfinanzen und an die Sozialpolitik
Ich denke an die Frage der europäischen Integration.
Aber ich denke auch an die bevorstehende Abstimmung über die
Genschutzinitiative.
Zunächst zur Asylfrage. Die einen sehen hier nur Missbräuche. Die
anderen fordern noch grosszügigere Aufnahmen. Der Bundesrat will unsere
traditionelle, humanitäre Asylpolitik fortführen und gleichzeitig die
Missbräuche konsequent bekämpfen. Zu dieser Politik hat sich auch das
Schweizervolk in den Volksabstimmungen über das Bundesgesetz über
Zwangsmassnahmen und über die Initiative gegen die illegale Einwanderung
bekannt.
Natürlich macht es auch mir Sorgen, dass die Zahl der Asylgesuche
letztes Jahr erstmals wieder seit 1993 auf 24'000  angestiegen ist.
Dennoch sind wir von der Rekordzahl im Jahre 1991 - rund 42'000
Asylgesuche - weit entfernt.
Wir haben heute das Asylverfahren im Griff. Und auch beim Vollzug
konnten in letzter Zeit entscheidende Fortschritte erzielt werden:
Die Rückkehr der vormals schutzbedürftigen Personen aus
Bosnien-Herzegowina erfolgt planmässig. Bereits haben sich 11'140
Personen dafür angemeldet, wovon 5'241 Personen bereits ausgereist sind.
Die Rückkehr von Personen aus der Bundesrepublik Jugoslawien in ihr
Heimatland kann nun aufgrund des bilateralen Abkommens über die
Rückübernahme, welches am 1. September 1997 in Kraft getreten ist,
durchgesetzt werden. Sie hat planmässig begonnen.
Auch haben die freiwilligen und zwangsweisen Ausreisen von abgewiesenen
Asylbewerbern 1997 erfreulicherweise stark und zwar um 65% zugenommen.
Das Parlament berät derzeit über eine Totalrevision des Asylgesetzes.
Neu soll das Konzept der Gewährung vorübergehenden Schutzes eingeführt
werden. Wer aufgrund kriegerischer Ereignisse in seinem Heimatstaat ein
Schutzbedürfnis aufweist, kann vorübergehend aufgenommen werden. Er muss
aber nach Wegfall der Hindernisse in seinen Heimatstaat zurückkehren. So
wird das aufwendige individuelle Asyl- und Wegweisungsverfahren künftig
entfallen. Das beseitigt administrativen Leerlauf. Von 1986 -1994 kamen
zwei Drittel der Asylsuchenden aus Jugoslawien, der Türkei, Sri Lanka
und Libanon, also aus Gebieten, wo Krieg, Bürgerkrieg oder verbreitet
schwere Menschenrechtsverletzungen vorkamen. Gerade für solche
Situationen eignet sich das neue Konzept des vorübergehenden Schutzes.
Die Zunahme der Flüchtlingsströme ist eines der grössten Probleme. Noch
nie hat es eine so grosse Völkerwanderung gegeben. Die Gründe für die
Wanderung liegen ausserhalb der Schweiz. Wir wollen weiterhin Verfolgten
Schutz bieten und das waren im letzten Jahr immerhin 2'636 Menschen, die
wir vor Folter und Verfolgung schützen konnten. Und gerade damit wir das
auch weiterhin tun können, wollen wir auch alle Formen von Missbräuchen
konsequent bekämpfen. Das Asyl- und Wanderproblem erfordert unseren
vollen Einsatz. Zur Lösung dieses Problems müssen wir im In- und im
Ausland ansetzen. Denn auf uns allein gestellt können wir den Missbrauch
nicht genug effektiv bekämpfen.  Wir müssen daher, zusätzlich zu unseren
eigenen Massnahmen, auf internationale Zusammenarbeit, besonders mit
unseren Nachbarn und der EU bauen.
Wir brauchen den Konsens auch dringend in der Finanzpolitik. Den Ländern
der EU gelingt es, unter dem Damoklesschwert der Maastricht-Kriterien
ihre Finanzen zu sanieren. Auch die USA und Kanada haben einen
Trendbruch weg von grösserer Verschuldung geschafft. Das verbessert die
Standortqualität entscheidend und schafft langfristig Arbeitsplätze. Uns
ist diese Trendwende noch nicht gelungen. Im Gegenteil: die Verschuldung
steigt weiterhin. So sind wir auf dem besten Weg, finanzpolitisch vom
Musterknaben zum Kummerbuben zu werden. Daran wird sich nichts ändern,
solange sich allzu viele Politiker an die Devise halten: "Aus fremden
Beuteln ist gut blechen." So wird die Defizitquote im laufenden Jahr
sogar 3,4% erreichen. Stellen wir uns mit den EU-Ländern in eine Reihe,
so nehmen wir dort den zweitletzten Platz ein. Solche Politik schadet
unserem Standort.
Auch betreffs unseres Verhältnisses zur EU sind wir in der Schweiz auf
mehr Aufeinanderzugehen angewiesen. Wir führen die bilaterale
Verhandlungen mit der EU auf sieben Sektorgebieten, weil eine Mehrheit
von Volk und Ständen am 6. Dezember 1992 den EWR abgelehnt hat. Diese
bilateralen Verhandlungen sind mit vollem Einsatz zu Ende zu führen.
Ganz allgemein polarisiert die Frage unseres Verhältnisses zur EU unser
Land auch weiterhin. Haben wir in den bilateralen Verhandlungen Erfolg,
so gewinnen wir Zeit, um die innenpolitische Patt-Situation  zu
überwinden. Es dürfen sich nicht zwei Schweizen bilden: Eine nach innen
gerichtete Schweiz, die keinerlei Veränderungen will - und  eine nach
aussen gerichtete Schweiz, die ihr Wohl nur noch in Veränderungen und in
einer Integration um jeden Preis sieht. Solches gilt es zu vermeiden.
Denn an solchen Gegensätzen könnte unser Land zerbrechen. Es ist somit
ein Gebot innenpolitischer Klugheit und aussenpolitischer
Glaubwürdigkeit, sich vorerst ganz auf die bilateralen Verhandlungen zu
konzentrieren.
Auch die bevorstehende Abstimmung über die Genschutzinitiative wird
unsere direkte Demokratie auf die Probe stellen. Denn wo Wissen fehlt,
lassen sich umso leichter Glaubenskriege führen. Diese führen jedoch,
wie wir auf dem Gebiete der Atomenergie besonders deutlich erfahren
haben, leicht in eine Sackgasse. Es gilt, die Potentiale und die
Gefahren der genetischen Veränderung zu durchdenken, um Risiken und
Chancen dieser neuen Schlüsseltechnologie abwägen zu können. Wird das
Problem nicht in seiner ganzen Tragweite erfasst, steigt die Versuchung
wie Vogelstrauss Politik zu betreiben. Man wird dann angesichts
unbestreitbar bestehender Missbrauchsgefahren mit Totalverboten  zu
reagieren suchen. So meint man, Sicherheit zu gewinnen. Indes lässt sich
der wissenschaftliche Fortschritt mit Verboten allein nie lenken. Durch
Abwanderung ins Ausland ist nichts gewonnen, aber viel verloren. Es geht
hier nicht nur um den Forschungs- und Industriestandort Schweiz und um
Arbeitsplätze, sondern ebenso um die Möglichkeit einer
verantwortungsbewussten staatlichen Lenkung und Kontrolle der
zukunftsträchtigen gentechnischen Aktivitäten.
 Reform der Bundesverfassung
Meine Damen und Herren
Ich komme zurück auf das Jubiläumsjahr. Das Jubiläumsjahr 1998 soll
nicht nur ein Jahr des Rückblicks, sondern auch der Zukunftsgestaltung
sein. Am kommenden Montag wird das Parlament zu einer Sondersession
zusammentreten. Die Räte werden den Entwurf der neuen Bundesverfassung
beraten. Diese erneuerte Verfassung ist das Jubiläumsgeschenk, dass das
Schweizervolk sich und künftigen Generationen macht. Sie wird die
grundlegenden Werte unseres Landes stärken, die uns Freiheit, Wohlstand
und Frieden brachten. Sie wird uns helfen, unser Haus in Ordnung zu
bringen. Sie wird dazu beitragen, unsere Volk wieder bewusst zu machen,
was uns alle zusammenhält und was wir angesichts der veränderten Welt
reformieren müssen, damit unser erfolgreicher Kleinstaat auch eine
erfolgreiche Zukunft hat.
Manche stellen sich die Frage: gibt es nicht dringenderes zu tun? Warum
gerade heute eine Totalrevision der Bundesverfassung? Darüber redet man
doch schon seit über 30 Jahren!
Diese Verfassungsreform kommt zur rechten Zeit. Für sie sprechen zwei
wichtige Gründe:
Das Parlament hat im Jahre 1987 dem Bundesrat einen klaren Auftrag zur
Nachführung der Verfassung erteilt. Der Bundesrat hat diesen Auftrag
erfüllt. Er hat den Räten den Bundesbeschluss über eine nachgeführte
Bundesverfassung vorgelegt. Der Text der nachgeführten Verfassung bringt
die Staatsidee der Schweiz wieder deutlicher zum Ausdruck.
Die Nachführung der Bundesverfassung allein genügt indessen nicht. Es
besteht zusätzlicher Handlungsbedarf. Die Institutionen unseres Staates
stammen aus dem vergangenen Jahrhundert. Reformbedürftiges muss
angepasst werden. So wird unser direktdemokratischer Kleinstaat für die
Zukunft gestärkt. Deshalb will der Bundesrat eine Verfassungsreform in
einem nach vorne offenen, dynamischen Prozess durchführen, mit der
nachgeführten Verfassung als Ausgangspunkt, der in geordneter
Reihenfolge die Reform unserer Justiz, der Volksrechte, des
Foederalismuses und der Regierung folgen müssen.
Die Verfassungsreform bringt wichtige Vorteile:
Erstens kann unser Land mit sich selbst ins Reine kommen. Dank der
Verfassungsreform müssen wir uns im offenen Gespräch über das
Wesentliche der Schweiz einigen, allen Bürgerinnen und Bürgern die
Grundpfeiler unseres Staates wieder bewusst machen, nämlich den
liberalen Rechtsstaat, den Föderalismus, die direkte Demokratie und den
modernen Sozialstaat. Frühere Grundentscheidungen werden neu bestätigt
oder neuen Gegebenheiten angepasst. Wir erleben unsere Identität. Gerade
jetzt, wo wir in dringenden Zukunftsfragen Einigung und Klärung
brauchen, ist das wichtig.
Zweitens lässt uns die Verfassungsreform den einigenden Prozess der
direkten Demokratie erleben. Die Abstimmung selbst ist eine Chance. Wir
können und wollen den Gesellschaftsvertrag, der uns eint, erneuern.
Demokratie muss immer  wieder gelebt und erlebt werden. Unsere
Eidgenossenschaft wird auf diese Weise gestärkt.
Drittens wird die erneuerte Bundesverfassung den Bürgerinnen und Bürgern
eine echte Orientierungshilfe sein. Sie wird jedermann zeigen, was die
Gemeinschaft will, was die Rechte und Pflichten des Einzelnen sind, wie
der Staat funktioniert. So wird unser Land den Schweizerinnen und
Schweizer wieder fassbar und verständlich. Wenn wir über unseren Staat
und über uns selber wieder besser Bescheid wissen, dann wird uns dies
auch die Lösung der genannten dringenden politischen Probleme
erleichtern.
Viertens  wird die reformierte Verfassung die Steuerung des politischen
Prozesses erleichtern, weil sie klare Spielregeln und feste Werte
aufzeigt.
Wie soll es mit der Reform der Bundesverfassung konkret weitergehen ?
Eine erste Vorlage betrifft die sogenannte Nachführung. Zu Recht sind
wir stolz auf die Lebendigkeit unserer Verfassung. Rund 140 mal konnte
sie seit der Totalrevision von 1874 den veränderten Gegebenheiten und
Anforderungen angepasst werden. Allerdings ging diese
Anpassungsfähigkeit auf Kosten der Übersichtlichkeit und der
Verständlichkeit. Davon kann sich jeder selbst überzeugen, wenn er
unsere geltende Bundesverfassung zur Hand nimmt. Er wird feststellen,
dass sie unübersichtlich, teilweise schwer verständlich und
streckenweise veraltet ist. Beispielsweise stehen die
Brauteinzugsgebühren, die Biersteuer und die Mehrwertsteuer
nebeneinander. Wesentliche Zusammenhänge sind oft schwer aufzufinden. So
sind die grossen Linien der Aufgabenverteilung zwischen Bund und
Kantonen kaum erkennbar. Grundsätzliches, das uns im Alltag
selbstverständlich ist, wie der Schutz der Menschenwürde, des Privat-
und Familienlebens, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit fehlen.
In der nachgeführten Verfassung  haben wir bisher ungeschriebenes
Verfassungsrecht aufgenommen - und trotzdem ist die Bundesverfassung um
rund einen Drittel kürzer geworden. Das zeigt, wieviel Unkraut
ausgemistet werden konnte. Das macht dann auch Volksabstimmungen über
Lapalien wie jene über die Streichung der Uebernahmepflicht von
Branntwein und Brennapparaten überflüssig.
Neben der Vorlage der Nachführung werden die Räte die beiden getrennte
Vorlagen "Erneuerung der Volksrechte" und "Reform der Justiz" behandeln.
Damit wollen wir unseren Staat und seine Institutionen auch im nächsten
Jahrhundert funktionsfähig erhalten.
Die Erneuerung der Volksrechte wird die direkte Demokratie stärken. Sie
ist ein unveränderliches Prinzip, ein Grundwert unseres Landes. Die
Volksrechte sind wohl das entscheidende Wesensmerkmal der Schweiz. Sie
stehen nicht zur Disposition.
Die direkte Demokratie bleibt aber nur lebendig, wenn sie den
veränderten Verhältnissen immer wieder angepasst wird. Ein Blick in die
Geschichte bestätigt dies. Die Volksrechte wurden immer wieder den
neuesten Erfordernissen angepasst. 1874 wurde das Gesetzesreferendum
eingeführt, 1891 die Volksinitiative und 1921 das
Staatsvertragsreferendum. 1977 wurde das Staatsvertragsreferendum neu
ausgestaltet.
Das heutige System der Volksrechte hat erwiesenermassen Mängel. Die
jüngsten parlamentarischen Diskussionen über die Einheit der Materie,
über das Rückwirkungsverbot, über die Beachtung des zwingenden
Völkerrechts haben das gezeigt. Bisherige Versuche diese Mängel je
einzeln zu reparieren, führten regelmässig in eine Sackgasse.
Das Reformpaket des Bundesrates sieht eine deutliche Erhöhung der
Mitspracherechte vor. Es soll neu eine allgemeine Volksinitiative, ein
erweitertes fakultatives Staatsvertragsreferendum und ein fakultatives
Verwaltungs- und Finanzreferendum geben. Um das bestehende Gleichgewicht
zwischen Mitspracherecht des Volkes und Handlungsfähigkeit des Staates
zu erhalten, soll die Unterschriftenzahl für Initiative und Referendum
erhöht werden. Nur mit dieser Erhöhung ist eine deutliche Ausweitung der
direktdemokratischen Volksrechte vertretbar. Wenn Sie bedenken, dass wir
in der letzen Legislatur eine Zunahme der Volksabstimmungen um 80 %
hatten, dann wird einem klar, dass eine rein quantitative Ausdehnung der
Volksabstimmungen nicht die Lösung sein kann. Der Bundesrat will, dass
unser Volk bei allen wichtigen Fragen entscheiden kann. Und das ist
heute klar nicht der Fall.
Wer 4 ½ Millionen Stimmbürger zur Urne rufen will, dem ist zumutbar,
dass er beweist, dass die von ihm aufgeworfene Frage das Volk
tatsächlich bewegt.
Auch die Justizreform wird wesentlich zur Verbesserung unseres
Zusammenlebens beitragen. Unser oberstes Gericht ist chronisch
überlastet. Die Prozessiersucht hat zugenommen. Die Verfahren dauern oft
zu lange. Das Rechtsmittelsystem ist schwer zu durchschauen.
Gleichzeitig wachsen die Erwartungen an die Justiz, weil die
Rechtsordnung komplexer wird.
Der Handlungsbedarf ist unbestritten. Mit personellen Aufstockungen ist
nicht zu helfen, weil das Bundesgericht wichtige Führungsfunktionen
wahrnimmt. Es muss weiterhin für eine einheitliche Anwendung des
Bundesrechtes sorgen können. Es muss weiterhin in der Lage sein, unser
Recht im Rahmen der Anwendung fortzubilden.
Wir haben daher den Weg der Konzentration auf das Wesentliche gewählt.
Für Streitigkeiten und Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung soll
neu eine Zugangsgarantie zum Bundesgericht verankert werden. Dafür sind
aber wirksame Entlastungsmassnahmen vorzusehen. Der Vorwurf, das
Bundesgericht könne so "gewöhnlichen Leuten" nicht mehr zur Verfügung
stehen ist völlig unberechtigt. Denn es wird neu eine allgemeine
Rechtsweggarantie verankert. Diese gibt jedermann bei
Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche
Behörde.
Zur Verstärkung der Führungsfunktion gehört auch, dass das Bundesgericht
künftig auch Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse
darauf überprüfen kann, ob sie mit den verfassungsmässigen Rechten
vereinbar sind. Jeder Bürger soll seine verfassungsmässigen Rechte auf
diese Weise durchsetzen können.

Meine Damen und Herren

Unser erfolgreicher Kleinstaat lebt im wesentlichen immer noch auf dem
Boden der Bundesverfassung von 1848. Diese gemeinsame Grundlage soll im
Jubiläumsjahr, 150 Jahre Bundesstaat, im Bewusstsein unseres Volkes
erneuert werden. Auch wollen wir all das, was wir in den 150 Jahren
gemeinsam geschaffen und weiter entwickelt haben, in einer neuen
Verfassung festschreiben und gegen Rückschläge sichern. Auch wollen wir
unsere 150 Jahre alten staatlichen Institutionen wieder in eine Form
bringen, von der wir überzeugt sind, dass sie Zukunft haben und
weiterhin unser berechtigter Stolz sind.
Wenn uns das gelingt, dann setzen wir die grosse Leistung der Gründer
unseres Bundesstaates unserer Zeit angemessen und zum Wohle der Schweiz
und von uns allen fort.