Schweizer Wappen

CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Homepage
Mail
Suche

Erklärung des Bundespräsidenten der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Erklärung des Bundespräsidenten
der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Arnold Koller

anlässlich des 2. Gipfeltreffens
der Staats- und Regierungschefs
des Europarates

Strassburg, 10. - 11. Oktober 1997

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kollegen,

Der Europarat ist heute im Begriff, das Ideal seiner Gründerväter zu
verwirklichen: die Vereinigung aller europäischen Staaten auf der
Grundlage und den Werten der pluralistischen Demokratie, des
Rechtsstaates und der Achtung der Menschenrechte.

Damit ist seine Mission jedoch keineswegs erfüllt.

Zwar dürfen wir uns zur Wiedervereinigung der europäischen Familie
beglückwünschen und mit gros-ser Genugtuung festhalten, dass der
Europarat bei der Reintegration der zentral- und osteuropäischen Länder
in unsere freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche und soziale
Staatengemeinschaft die führende Rolle gespielt hat. Der Begriff Europa
erweckt heute wieder Hoffnung und ist Ausdruck einer grossartigen,
gemeinsamen kulturellen Tradition.

Wir sind aber auch aufgerufen, unsere Verantwortung, die sich aus der
Erweiterung unserer Organisation ergibt, voll und ganz wahrzunehmen. Es
gilt, die in fast fünfzig Jahren erworbenen hohen Standards nicht nur zu
bewahren, sondern weiter zu vertiefen und konsequent durchzusetzen.

Der Europarat muss sich daher noch vermehrt der Integration der neuen
Mitgliedstaaten in die Gemeinschaft der europäischen Demokratien widmen.
Dieser Prozess erfordert von allen unseren Regierungen
Einfühlungsvermögen und Durchhaltewillen.

Um diese Ziele zu erreichen, ist es unerlässlich, die Zusammenarbeit zu
verstärken, nicht zuletzt auch mit Blick auf den gesamteuropäischen Raum
demokratischer Sicherheit, dessen Verwirklichung wir im Oktober 1993 in
Wien eingeleitet haben.

Ebenso ist es notwendig, dass alle von den Mitgliedstaaten eingegangenen
Verpflichtungen strikte eingehalten werden und dass das zu diesem Zweck
vorgesehene Monitoring-Verfahren glaubhaft funktioniert.

Herr Präsident,

Wenn wir uns auf dieser Gipfelkonferenz fragen, welches die künftige
Berufung des Europarates sein soll, dann gilt es zunächst festzuhalten,
dass die Verteidigung und Sicherung der Grundwerte des Europarates nach
wie vor im Zentrum stehen muss. Als höchsten Wert ist die Würde des
Menschen zu nennen, auf die alles zugeordnet ist: Menschenrechte und
Grundfreiheiten, die jedem Individuum unveräusserlich von Natur aus
zukommen; der Rechtsstaat, der das friedliche Zusammenleben der Menschen
nach der „rule of law" und frei von Behördenwillkür regelt; die
pluralistische Demokratie, die den Volkswillen frei zum Ausdruck bringt;
die Wirtschaftsfreiheit, die Prosperität verschafft, und die soziale
Gerechtigkeit, welche die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft
schützt.

In diesem Sinne fordern wir: zurück zu den Wurzeln des Europarates. Aber
damit kann man es nicht bewenden lassen. Die bleibenden Grundwerte des
Europarates verlangen kategorisch nach einer tatkräftigen Umsetzung in
unserer Zeit.

Es ist die Menschenwürde, in deren Namen wir uns feierlich verpflichten,
das Klonen menschlichen Lebens zu verbieten. Dieses Engagement sollte
seinen Ausdruck finden in einem Zusatzprotokoll zur Konvention über die
Menschenrechte und die Biomedizin.

Wünschenswert ist ferner, wenn unser Gipfel besonders auch jenen
Arbeiten des Europarates einen politischen Impuls verleihen, die den
Kampf gegen Elend und Armut zum Ziele haben.

Auch das Migrations- und Flüchtlingsproblem bedarf um der Menschenwürde
willen adäquater Lösungen. Dieses dornenvolle Problem muss von allen
Staaten gemeinsam und solidarisch angegangen werden. Wir sollten uns
auch darum bemühen, für eine ausgewogenere Verteilung der Flüchtlinge
auf die potentiellen Aufnahmeländer zu sorgen.

Der Europarat scheint mir die geeignetste Organisation zu sein, um die
Schwierigkeiten, die sich aus den Migrationsbewegungen auf unserem
Kontinent ergeben, umfassend anzugehen. In diesem Zusammenhang muss man
sich fragen, ob die bestehenden internationalen Instrumente wie die
Genfer Flüchtlingskonvention noch ausreichen, um die Flüchtlings- und
Migrationsprobleme europaweit zu meistern, oder ob nicht neue,
zusätzliche Vereinbarungen erarbeitet werden müssen, um den wenig
erfreulichen Wettbewerb nationaler Abwehrmassnahmen zu überwinden.

Bei der europaweiten Durchsetzung der Menschenrechte kommt dem neuen
Ständigen Menschenrechtsgerichtshof von Strassburg eine zentrale
Stellung zu. Er wird ein Eckstein des Europarates bilden.

Damit der Gerichtshof seine Aufgabe wirksam wahrnehmen kann, ist es
unerlässlich, ihn mit ausreichenden Mitteln auszustatten. Nur dann kann
er die durch die Erweiterung des Europarates anfallenden zusätzlichen
Belastungen tatsächlich tragen. Werden bei der Ressourcenzuteilung neue
Prioritäten gesetzt - und dies wird nötig sein - dann muss  der
Menschenrechtsgerichtshof als erster zum Zuge kommen.

Der Rechtsstaat, aber auch der Wohlstand und die demokratische
Sicherheit in Europa werden immer mehr durch das organisierte Verbrechen
in Frage gestellt, besonders dann, wenn dieses mit der Korruption
verknüpft ist. Es ist deshalb notwendig, diese grosse Bedrohung
energisch und vorbehaltlos zu bekämpfen, indem wir wirksame juristische
Instrumente bereitstellen und dafür sorgen, dass ihr Vollzug auch
überprüft und sichergestellt wird.

Der Europarat ist sodann die am besten geeignete internationale
Organisation, um die kulturellen Errungenschaften Europas
weiterzutragen. Unsere Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der Erziehung
der kommenden Generationen, namentlich der Erziehung zum demokratischen
Bürger und zur Achtung der kulturellen Vielfalt.

Wir wünschen uns demokratische Institutionen, die möglichst bürgernah
sind. In dieser Hinsicht kommt dem Europarat dank dem Kongress der
Gemeinden und Regionen Europas eine grosse Bedeutung zu. Wir hoffen,
dass er seine Tätigkeiten wirksam weiterführt.

Herr Präsident,

Verschiedene Ereignisse auf dem Balkan haben uns schmerzlich in
Erinnerung gerufen, dass die zerstörerischen Kräfte der aggressiven
Nationalismen, der religiösen Intoleranz und der totalitären Ideologien,
aber auch des Rassismus und Fremdenhasses immer wieder von neuem
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat auf unserem Kontinent
bedrohen.

Um diesen Gefahren zu begegnen, sollten der Europarat und die anderen
internationalen Institutionen, insbesondere die Europäische Union und
die OSZE, ihre spezifischen Beiträge verstärken, im Geiste der
Zusammenarbeit und gegenseitigen Ergänzung.

Angesichts der grossen Herausforderungen, denen Europa heute
gegenübersteht, würde ein Konkurrenzdenken zwischen internationalen
Organisationen von unseren Völkern nicht verstanden. Die Nutzung von
Synergien und das Vermeiden von Doppelspurigkeiten müssen daher oberste
Handlungsmaxime sein.

So wäre auf dem Gebiet der Bekämpfung von Rassismus, Intoleranz und
Antisemitismus eine Verstärkung der Rolle der Europäischen Kommission
gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) wünschbar, gleichzeitig aber auch
eine vertiefte Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.

Desgleichen könnte unsere Organisation einen nützlichen Beitrag zur
Verstärkung der vorbeugenden Massnahmen der OSZE leisten, indem sie
Experten für Fragen der Menschenrechte und der juristischen
Zusammenarbeit zur Verfügung stellt.

Wie die Parlamentarische Versammlung, so versprechen auch wir uns von
diesem Gipfel eine genauere Bestimmung der Rolle und des Standortes des
Europarates im institutionellen Gefüge Europas. Erlauben Sie mir, Herr
Präsident, an dieser Stelle dem französischen Staatspräsidenten, Herrn
Jacques Chirac, dafür zu danken, dass er diesen zweiten Gipfel hier in
Strassburg einberufen hat. Er hat uns auf diese Weise angeregt, der
Frage nach der Zukunft unserer Organisation auf den Grund zu gehen.

Der Gipfel von Wien von 1993 hat dem Europarat neuen Auftrieb verliehen.
Er hat ihm ermöglicht, die Herausforderungen der Erweiterung voll
Zuversicht anzugehen und seine bisherige Rolle zu stärken.

Die heutige Schlusserklärung und der Aktionsplan unseres Strassburger
Gipfels werden den Europarat in seiner Berufung stärken, die Ideale des
Rechtsstaates, der pluralistischen Demokratie und Menschenrechte in ganz
Europa hochzuhalten, um so über dieses Jahrhundert hinaus einen
namhaften Beitrag zur europäischen Kultur und zur Erhaltung der
europäischen Wertegemeinschaft zu leisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.