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Globalisierung und künftige Herausforderungen für die Bundespo-litik

Pressemitteilung

Globalisierung und künftige Herausforderungen für die Bundespolitik

Die Globalisierung wirkt sich für die Schweiz vor allem durch die zunehmende
Dynamik der europäischen Integration aus. Dies geht aus dem Bericht
"Herausforderungen 1999-2003 - Trendentwicklungen und mögliche
Zukunftsthemen für die Bundespolitik" hervor. Der Bericht bietet Grundlagen,
um die Auswirkungen künftiger Trendentwicklungen des internationalen
Umfeldes und von Rahmenbedingungen in der Schweiz zu beurteilen. Die Studie
analysiert die Folgen auf die wichtigsten Politikbereiche des Bundes. Sie
wurde aufgrund eines parlamentarischen Vorstosses durch die Bundesverwaltung
und externe Experten erarbeitet.

Der 140seitige Bericht "Herausforderungen 1999-2003 - Trendentwicklungen und
mögliche Zukunftsthemen für die Bundespolitik" wurde vom Perspektivstab der
Bundesverwaltung unter dem Vorsitz von Bundeskanzler François Couchepin
erarbeitet. Der Perspektivstab der Bundesverwaltung hat den Auftrag, sich
aus einer überdepartementalen Sicht mit politikrelevanten Zukunftsfragen zu
befassen und damit die bundesrätliche Politik im Hinblick auf künftige
Herausforderungen kritisch-konstruktiv zu reflektieren. Der Bundesrat
erfüllt damit das Postulat Zbinden („Schwindender Einfluss der Politik.
Bericht Bundesrat").

Der Bericht gelangt zum Schluss, für die künftige staatliche
Handlungsfähigkeit werde die Beantwortung von drei Fragen entscheidend sein:
Erstens die der Öffnung nach aussen und insbesondere gegenüber Europa,
zweitens die nach einem steuerpolitischen Gesamtkonzept und drittens die der
innenpolitischen Konsensfähigkeit bei wichtigen politischen Entscheiden.

Öffnung nach aussen
Der Bericht geht davon aus, dass die heute sichtbaren
Globalisierungsprozesse kontinuierlich weitergehen und die
Steuerungsmöglichkeiten einer nur auf den nationalen Rahmen ausgerichteten
Politik einschränken werden. Ihren deutlichsten Niederschlag finden die
Globalisierungsprozesse aus schweizerischer Sicht in der Dynamik der
europäischen Integration. Die sichtbarsten Veränderungen der nächsten Jahre
werden gemäss Bericht die Wirtschafts- und Währungsunion mit gemeinsamer
Zentralbank und der symbolträchtigen Einheitswährung sowie die Aufnahme
neuer Mitgliedländer aus Mittel- und Osteuropa sein. Vor diesem Hintergrund
ist eine wesentliche Schlussfolgerung des Berichts die, dass gegenüber den
90er Jahren der Druck in Richtung Öffnung weiter steigen wird. Stärker noch
als früher wird die internationale Ausrichtung der Politik der Schweiz die
wirksamste Strategie zur Wahrung und Stärkung der Handlungsfähigkeit der
Politik - auch im Sinne des Postulanten - darstellen. Bereits heute kann
sich die Schweiz wichtigen Entwicklungen und Entscheidungen, die in den
globalen Gremien und in der EU getroffen werden, nicht mehr entziehen, und
in Zukunft dürfte es noch schwieriger werden, aussenpolitische Probleme im
Alleingang zu lösen. Gemäss Bericht wird die Europa-Politik über die
bilateralen sektoriellen Verträge hinaus eine Schlüsselfrage für die
künftige Handlungsfähigkeit der Politik bleiben.

Steuerpolitisches Gesamtkonzept
Die Experten betrachten ferner die anstehenden finanzpolitischen Entscheide
als künftige Kernfragen. Der befristete Charakter der heutigen Finanzordnung
(die Erhebung der Mehrwertsteuer und der direkten Bundessteuer ist in der
Verfassung bis 2006 befristet) und die künftigen Herausforderungen in den
verschiedenen Politikbereichen bringen es mit sich, dass den bisherigen
Entscheiden (Haushaltsziel 2001, Stabilisierungsprogramm 98) weitere
Weichenstellungen von grundlegender Bedeutung werden folgen müssen. Als noch
schwieriger dürfte sich gemäss Bericht die Frage nach einem
zukunftsorientierten, einnahmeseitigen Gesamtkonzept erweisen. Im einzelnen
wird es um folgende Themen gehen: Sicherstellung des
Finanzierungsmehrbedarfs der Sozialversicherungen; wettbewerbsfähige
Anpassungen des Steuersystems im Hinblick auf die Sicherung des vorhandenen
Steuersubstrats; Anpassung der Struktur der Besteuerung im Hinblick auf
einen EU-Beitritt; zunehmender Bedarf an ökologischer Lenkungswirkung;
Sicherung einer gewissen Steuergerechtigkeit. Die absehbaren
steuerpolitischen Entscheide werden letztlich den Rahmen der
bundesstaatlichen Tätigkeit wesentlich abstecken. Sie sind sehr kontrovers
und nur im Konsens lösbar. Gleichzeitig geben die neuen
Verfassungsbestimmungen zum Haushaltsausgleich den Spielraum für
Kompromisslösungen vor und verknüpfen ihn überdies mit dem künftigen
Wirtschaftswachstum.

Innenpolitische Konsensfähigkeit
Auf Grund der heute absehbaren Trendentwicklungen steht für die Experten
insgesamt nicht ein grundlegender Systemwechsel im Vordergrund, sondern die
künftige Fähigkeit des politischen Systems, eine weitergehende Öffnung nach
aussen zu ermöglichen und innenpolitischen Konsens in zentralen Fragen
herzustellen. Die Frage des Beitritts zur Europäischen Union wird in den
nächsten Jahren das schweizerische politische System stark herausfordern.
Vorteile der zusätzlichen Mitsprachemöglichkeiten auf europäischer Ebene
müssen in diesem Zusammenhang mit der teilweisen Neugewichtung autonomer
Entscheidungskompetenz abgewogen werden. Gleichzeitig wird der Druck zu
grösseren innenpoltischen Weichenstellungen in einzelnen Bereichen zunehmen,
weshalb die Fähigkeit zentral wird, konsensfähige Lösungen zu entwickeln.
Neue Formen der innenpolitischen Konsenssuche könnten notwendig werden, um
überhaupt die gesellschaftliche Bereitschaft für grössere Reformvorhaben
herstellen zu können, wie beispielsweise im Bereich der Sozialversicherungen
oder im Rahmen der Ablösung der Finanzordnung.

Der Bundesrat erachtet die Diskussion grundlegender Fragen zur Zukunft
unseres Landes als äusserst wichtig, verzichtet jedoch vorläufig auf eine
umfassende Würdigung des Dokuments (vgl. separate Stellungnahme). Er wird im
März 2000 mit dem Bericht zur Legislaturplanung 1999-2003 darlegen, welche
politische Strategie er in den nächsten Jahren verfolgen wird.

Der Bericht des Perspektivstabs kann zum Preis von 19 Fr. beim Bundesamt für
Statistik, 2010 Neuenburg, bezogen werden. Tel. O32/ 713 60 60; FAX 032/713
60 61

Schweizerische Bundeskanzlei
Informationsdienst

21.12.98

Für weitere Auskünfte:
André Nietlisbach, Bundeskanzlei, Sektion Planungsfragen, Tel. 031 322 38 90

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Aus dem Bericht:

Aussenpolitik: Akzentuierung von Öffnungsfragen

Das internationale Umfeld wird sich in den nächsten Jahren dy
namisch weiterentwickeln. Einerseits erzeugt die voranschreitende
Globalisierung vermehrten Bedarf an internationaler Koordination und
Kooperation, andererseits wird sich der Wettbewerb der Standorte
verschärfen, was den Bedarf an struktureller Anpassung auch in der Schweiz
erhöhen wird. Der im Zuge der Globalisierung verschärfte Wettbewerb der
Standorte führt weltweit zu ungleichem Wirtschaftswachstum, wodurch sich die
Einkommensdisparitäten sowohl zwischen, als auch innerhalb vieler Länder des
Südens und Ostens und damit deren soziale Probleme vergrössern. Die
Globalisierungsprozesse wirken sich für die Schweiz auf politischer Ebene
vor allem durch den damit zusammenhängenden, beschleunigten europäischen
Integrationsprozess aus. Bereits heute kann sich die Schweiz wichtigen
Entwicklungen und Entscheidungen, die in den globalen Gremien und in der EU
getroffen werden, nicht mehr entziehen, und in Zukunft dürfte es noch
schwieriger werden, aussenpolitische Probleme im Alleingang zu lösen. Auch
klassisch innenpolitisch bestimmte Bereiche wie die Finanz- und
Wirtschaftspolitik, die Migrationspolitik, die Verkehrs-, Energie- und
Umweltpolitik oder die Agrarpolitik werden immer stärker durch Entscheide
der EU beeinflusst. Dabei läuft die Schweiz in Gefahr, in eine
Abwärtsspirale von Isolation und vermehrter Fremdbestimmung zu geraten, die
faktisch den Spielraum ihrer autonomen Politikgestaltung einschränkt, ohne
dass eine politische Partizipation möglich wäre. Der vom Bundesrat
angestrebte Beitritt zur EU wird dadurch kontinuierlich an Bedeutung
gewinnen, weil nur durch ihn auf europäischer Ebene die politische
Mitbestimmung sichergestellt werden kann.

Finanzpolitik und Staatshaushalt: Ablösung der geltenden Finanzordnung und
einnahmeseitiges Gesamtkonzept

Der befristete Charakter der Finanzordnung sowie die künftigen
Herausforderungen bringen es jedoch mit sich, dass den bisherigen
Entscheiden weitere Weichenstellungen von grundlegender Bedeutung werden
folgen müssen. Als noch schwieriger dürfte sich die Frage nach einem
zukunftsgerichteten einnahmeseitigen Gesamtkonzept erweisen. Konkret wird es
darum gehen, welcher Mix verschiedener Einnahmequellen den sachpolitischen
Herausforderungen mittel- und langfristig am ehesten gerecht wird. Im
einzelnen sind es namentlich die folgenden Themen: Sicherstellung des
Finanzierungsmehrbedarfs der Sozialversicherungen; wettbewerbsfähige
Anpassungen des Steuersystems im Hinblick auf eine Sicherung des vorhandenen
Steuersubstrats; Ersatz von Steuern mit sinkenden Erträgen; Anpassungen der
Struktur der Besteuerung im Hinblick auf einen EU-Beitritt; zunehmender
Bedarf an energie- und umweltpolitischer Lenkungswirkung (ökologische
Steuereform); Sicherung einer gewissen Steuergerechtigkeit..... Die
Finanzpolitik präsentiert sich heute - zusammen mit der Frage der
europäischen Integration - als die bundespolitische Grossbaustelle der
Zukunft. Es geht dabei nicht bloss um einen ausgeglichenen Bundeshaushalt,
sondern letztlich viel umfassender um einen neuen Sozialvertrag und die
Festlegung künftiger Staatsaufgaben. Die absehbaren steuerpolitischen
Entscheide werden letztlich den Rahmen der bundesstaatlichen Tätigkeit
wesentlich abstecken, sind hoch kontrovers und nur im Konsens lösbar.
Gleichzeitig geben die neuen Verfassungsbestimmungen zur Ausgabenpolitik den
Spielraum für Kompromis-Lösungen vor und verknüpfen ihn überdies mit dem
künftigen Wirtschaftswachstum.

Soziale Sicherheit und Sozialpolitik: vielfältige Herausforderungen

Das System der Sozialversicherungen und die Sozialpolitik werden künftig in
mehrfacher Hinsicht herausgefordert. Die demographische Alterung in der
Schweiz wird kontinuierlich steigende, strukturellbedingte Mehrbelastungen -
vorab in der AHV - bewirken. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklungen (Trend zu individuelleren Lebensformen, Flexibilisierung und
Segmentierung des Arbeitsmarktes, Trend zu Erwerbsunterbrüchen und
Teilzeitarbeit) werden in Kombination mit der heutigen institutionellen
Ausgestaltung der Sozialversicherungen (primäre Ausrichtung auf
Erwerbstätigkeit und festgelegte Risiko-Ereignisse) zur Akzentuierung von
strukturellen Risikosituationen gewisser Bevölkerungsgruppen führen, was die
sozialen Sicherungssysteme auf kommunaler Stufe stark heraus-
und teilweise überfordert. Andererseits werden zur Konsolidierung des
bestehenden Systems der Sozialversicherungen zusätzliche Finanzmittel
benötigt werden. Finanzpolitische Entscheide werden darum den
Handlungsspielraum zur Lösung künftiger sozialpolitischer Fragen
entscheidend bestimmen. Während die neuen Verfassungsbestimmungen zur
Ausgabenpolitik kurz- und mittelfristig den Spielraum für Kompromisslösungen
einengen, werden im Rahmen der anstehenden steuerpolitischen Entscheide
langfristig wirksame sozialpolitische Vorentscheide gefällt werden......
Ob langfristig die Herausforderung des demographischen Wandels ohne grössere
Abstriche auf der Leistungsseite aufgefangen werden kann, wird von der
gesellschaftlichen Akzeptanz der wachsenden Sozialbelastung abhängen. Die
Akzeptanz dürfte im Falle eines hohen Wirtschaftswachstums grösser sein.
Gleichzeitig wird mit zunehmender Alterung der Bevölkerung eine
Neugewichtung der Sozialleistungen zwischen Jungen und Betagten
(Familienpolitik und Sozialhilfe) wichtiger werden, um den
Generationenvertrag erneuern und grössere Spannungen zwischen den
Generationen verhindern zu können. Unter der hier zugrunde gelegten Annahme,
dass in den wichtigsten OECD-Ländern kein grundlegender und anhaltender
Abbau des Sozialleistungsniveaus stattfinden wird, dürfte in Bezug auf die
Standortattraktivität der Schweiz der sozialpolitische Handlungsspielraum
grösser sein als oft angenommen wird. Standortfaktoren wie sozialer Frieden
und politische Stabilität dürften in diesem Zusammenhang gegenüber
fiskalischen Vorzügen Vorteile aufweisen.
Ein grundlegender Systemwechsel zu einem subsidiären Auffangnetz nach dem
Bedarfsprinzip oder nach dem System der negativen Einkommenssteuer (Ersatz
der AHV, ALV und Sozialhilfe) wäre demgegenüber gerade für einen
mehrsprachigen, föderalistisch aufgebauten Staat wie die Schweiz mit grossen
Unsicherheiten und potentiell weitreichenden staatspolitischen Folgen
verbunden. Unter anderem könnte die selektive Auszahlung von Leistungen zu
einer selektiven Akzeptanz und damit zu einer Spaltung der Gesellschaft
führen.

Regelung des Bildungszugangs und der bildungsmässigen Chancengleichheit von
zunehmender staatspolitischer Relevanz:

Insgesamt wird sich die Regelung des Bildungszugangs und der
bildungsmässigen Chancengleichheit für die Bevölkerung in der Schweiz
zunehmend als staatspolitisch wichtiges Thema erweisen. Dies umso mehr, als
im Zuge der vorherrschenden Deregulierungstendenzen Fragen rund um die
Privatisierung des Bildungsangebotes und um Änderungen im
Finanzierungssystem mittelfristig noch stärker als heute thematisiert
werden. In diesem Zusammenhang wird zu beachten sein, dass gerade in einem
politischen System wie der Schweiz der Nutzen eines breit zugänglichen,
qualitativ hochstehenden Bildungssystems weit über das im Erwerbsleben
direkt verwertbare Wissen hinausreicht. So ist namentlich das System der
direkten Demokratie besonders auf kompetente und urteilsfähige Bürgerinnen
und Bürger angewiesen. Auch die zentrale Bedeutung des
Subsidiaritätsprinzipes und die hohe Bedeutung der Zivilgesellschaft in der
Schweiz kann nur zum Tragen kommen, wenn die hohe Bereitschaft zum
gesellschaftlichem Engagement aufrechterhalten werden kann. Dies wird auch
eine wichtige Voraussetzung dafür sein, den staatspolitischen
Erneuerungsbedarf institutionell und im Hinblick auf das schweizerische
Selbstverständnis erfolgreich zu bewältigen. Beide Bereiche dürften eng mit
der heute bestehenden hohen Sozialverträglichkeit und der Chancengleichheit
beim Bildungszugang zusammenhängen. Ein allfälliger Systemwechsel (z.B.
Richtung Direktfinanzierung der Bildungsnachfrage) würde daher in der
Schweiz nur Sinn machen, wenn diese staatspolitischen Leistungen des
Bildungssystems dadurch erhalten oder gar verbessert werden könnten.