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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Ansprache von Bundesrat Arnold Koller

Es gilt das gesprochene Wort

Ansprache von Bundesrat Arnold Koller
am 10-jährigen Jubiläum des Studienzentrums Gerzensee der Schweizerischen
Nationalbank,10. Mai 1996

[Anrede]

Es freut mich, Ihnen zum heutigen Festtag die Grüsse und guten Wünsche des
Bundesrates überbringen zu dürfen. Ich tue dies besonders gern, weil ich dem
Stiftungsrat und Schulungsausschuss seit der Gründung bis zur Wahl in den
Bundesrat angehört habe und der Stiftungsidee, die dem Studienzentrum Gerzensee
zugrunde liegt, von Anfang an echt begeistert war: der Idee der internationalen
Solidarität. Ich bin es heute noch und ohne jeden Neid, weil ich weiss, dass
der Nationalbank ein solcher acte gratuit in jeder Hinsicht besser ansteht als
dem sich immer mehr verschuldenden Bund. Und zudem darf ja auch die
Bundesverwaltung in diesem herrlichen Studienzentrum immer wieder Gastrecht
geniessen. Ich erinnere mich sehr gut an die Gründung der Stiftung. 1980 gab
der damalige Präsident des Direktoriums der Nationalbank, Herr Fritz Leutwyler,
den verdienstvollen Anstoss zum Ankauf des Neuen Schlosses samt Umgebung und
zur Gründung des Studienzentrums. Unter dem Präsidium seines Nachfolgers, Herrn
Pierre Languetin, ist die Idee umgesetzt worden durch den Umbau des Schlosses,
die Errichtung der Stiftung und die Aufnahme des Kursbetriebes. Der mit dem
heutigen Tag als Stiftungsratspräsident zurücktretende Nationalbankspräsident
Meyer hat das Studienzentrum von Anfang an wesentlich geprägt. Ihm, den
Mitgliedern des Stiftungsrates sowie der Direktion und den Mitarbeitern des
Studienzentrums Gerzensee gilt am heutigen Tag unser besonderer Dank.

Gemessen an der Geschichte des Neuen Schlosses, welches vor 296 Jahren für den
Berner Patrizier Samuel Morlot erbaut wurde, sind 10 Jahre eine kurze Zeit.
Dennoch rechtfertigt sich eine Geburtstagsfeier, weil solch hervorragende Akte
der Solidarität auch in unserem Land selten sind und das Jahrzehnt seit 1986 zu
den ereignis- und folgereichsten dieses Jahrhunderts gehört. Wer hätte zum
Zeitpunkt der Errichtung der Stiftung Studienzentrum Gerzensee daran gedacht,
dass nur 10 Jahre später das sowjetische Imperium verschwunden sein würde, dass
die beiden deutschen Staaten friedlich wiedervereinigt und dass Vietnam zum
Ziel erholungssuchender amerikanischer Touristen werden würde. Auch die sich
heute klar abzeichnenden Veränderungen unseres Alltags durch den Fortschritt
der Informationstechnologie oder der Gentechnik waren damals im eingetretenen
Ausmass kaum vorhersehbar. Und seien wir mit Blick auf unsere eigenen
Verhältnisse ehrlich: wer eben die mühsamen parlamentarischen Verhandlungen um
eine erste Kartellgesetzrevision miterlebt hatte, hätte kaum vorauszusagen
gewagt, dass ein neues wettbewerbsfreundliches Kartellgesetz und ein
Binnenmarktgesetz im Jahre 1996 wie reife Früchte vom Baum der späten Einsicht
fallen würden und ein weltweiter Wettbewerb uns vor ganz neue Herausforderungen
stellen würde. Wenn ich mich zurückbesinne, wie schier unüberwindbar damals die
Bemühungen um ein gemeinsames postgraduate Seminar der Nationalökonomen in
Gerzensee waren, stelle ich als ehemaliger Professor mit Genugtuung fest, dass
sich inzwischen offenbar auch an unseren Universitäten au dernier bastion de la
monarchie einiges geändert hat. Während dieses Jahrzehnts der grossen
Veränderungen und Unsicherheiten hat das Studienzentrum Gerzensee seine Idee
beharrlich und mit bewundernswerter Effizienz realisiert.

Die Stiftung war und ist ein Akt der Solidarität, vorab der internationalen
Solidarität. Ihre zentrale Grundidee bleibt es, künftigen Notenbankkadern aus
aller Welt, vor allem aus den Ländern Osteuropas, Asiens und Afrikas, die
wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse des Zentralbankwesens zu
vermitteln. Ich habe im Geschäftsbericht 95 mit grosser Genugtuung gelesen,
dass die Nachfrage nach diesen Zentralbankkursen erneut sehr gross war, so dass
nur gut die Hälfte der Angemeldeten berücksichtigt werden konnten. Hier werden
die Kursteilnehmer mit dem intellektuellen Virus des Zentralbankiers infiziert.
Dies bedeutet, dass sie Vorstellungen der good governance und der
Ordnungspolitik mit sich nehmen, deren Umsetzung ihren Volkswirtschaften den
Weg zu stabilem Wachstum und ausgeglichener Entwicklung ebnen kann. Kurz, für
die Kursabsolventen von Gerzensee wird die Unabhängigkeit der Zentralbank vom
Diskussionsgegenstand zur Selbstverständlichkeit. Sie werden dabei verstehen
lernen, dass nur eine stabilitätsgerechte Geldpolitik der Volkswirtschaft
optimale Entfaltungsmöglichkeiten gibt, und dass die Verantwortung dafür nicht
alleine auf den Schultern der Notenbank lastet, weil die Kontrolle über die
Staatsausgaben in der Demokratie der Zentralbank verwehrt bleiben muss. Denn
ebenso wie es Aufgabe der Notenbank ist, den Staat am Missbrauch seiner Macht
über das Geld zu hindern, so obliegt es auch dem Staat, mit seiner
Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik, die Interessen jenseits des Marktes
auszugleichen. Als vom Staat getrennte Gewalt  darf die Notenbank also weder
Budgetdefizite noch Grossinvestitionen finanzieren, wie dies sogar in der
Schweiz von einer Volksinitiative, für die die Unterschriftensammlung läuft,
verlangt wird.

Ein besonderer Dank des Bundesrats an die Adresse der Nationalbank und ihres
Studienzentrums Gerzensee, ist gerechtfertigt, weil Sie hier, jenseits von
Eigeninteressen einen Rahmen und bedeutende Mittel für die Ausbildung von
Notenbankmitarbeitern aus benachteiligten Ländern zur Verfügung stellt. Es ist
dies geradezu ein Paradebeispiel gelebter internationaler Solidarität und damit
auch für die Verwirklichung einer, ob der weitgehend steril gewordenen, weil in
Grabenkämpfen verkrusteten Integrationsdebatte, fast vergessenen Maxime der
Schweizer Aussenpolitik. Hierin, in diesem der Nationalbank so angemessenen Akt
schweizerischer Solidarität lag und liegt die eigentliche Faszination der
Stiftung Gerzensee.

Dies zu betonen, ist gerade heute wichtig, wo Gefahr besteht, dass die
nationale und internationale Solidarität wegen zunehmendem Wettbewerb und
härteren Verteilungskämpfen immer mehr in Vergessenheit zu geraten droht.

Sie wissen, die Maximen der internationalen Disponibilität und Solidarität
waren in der Nachkriegszeit besonders gut geeignet, um dem Ruf der
Drückebergerei, welcher unserem neutralen Land damals anhaftete, erfolgreich zu
begegnen. Auch der Gesetzgeber bezeichnet die nicht direkt interessengebundenen
staatlichen Tätigkeiten der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären
Hilfe als Ausdruck der Solidarität . Zu diesem Bereich staatlicher
Selbstlosigkeit wird man auch die Katastrophenhilfe und das Asylwesen zählen
dürfen.

Solidarität als aussenpolitische Maxime ist aber mehr als Hilfe an die
Schwachen und Hilflosen. Es geht hier auch um die gemeinsame Verteidigung von
zentralen Wertvorstellungen der Staatengemeinschaft, die ein aktives Mitmachen
aller bedingen. Der seinerzeitige Einsatz von Schweizer UNO-Blaumützen in
Namibia, der nur kurz nach dem UNO-Nein von der Schweizer Bevölkerung durchaus
begrüsst wurde, ist ein Hinweis darauf, dass eine Mehrheit des Schweizer Volkes
institutionellen Bindungen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, aber
praktische und ergebnisorientierte Hilfeleistungen durchaus befürwortet. Dies
zeigen auch die Reaktionen auf die OSZE-Präsidentschaft, die unser Land in
einer heiklen Phase wahrzunehmen hat.

Dass auch institutionalisierte Formen der Solidarität vom Souverän befürwortet
werden, verdeutlicht der Beitritt der Schweiz zu den Organisationen von Bretton
Woods. Für diesen Erfolg war meines Erachtens sogar ausschlaggebend, dass der
Bundesrat versprochen hat, die Schweiz werde sich innerhalb der Institution
noch besser zu Gunsten der Entwicklungsländer einsetzen können, als wenn sie
ihr fernbliebe. Der Golfkrieg brachte schliesslich erstmals seit dem Ende der
Hitler-Diktatur das Element der universellen Solidarität aller Staaten zum
tragen. Im Rahmen einer von der ganzen Welt aktiv mitgetragenen Aktion gegen
den Rechtsbrecher Irak hat sich unser Land vollständig an den von der UNO
beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionen beteiligt. Fred Luchsinger stellt
dazu fest, dass die Schweiz damit zu jener Interpretation ihrer Neutralität als
einer differenziellen - das heisst einer, die Unterschiede macht -, der sie im
Hinblick auf den herannahende Krieg von 1938 ... abgeschworen hatte ,
zurückgekehrt sei.

Internationale Solidarität darf jedoch nicht blind sein. Sie kann gegenüber
einem Staat, der zentrale Grundsätze des Völkerrechts missachtet, nicht
vorbehaltlos geübt werden. Hierbei sind sehr strenge Massstäbe anzulegen, weil
sonst der Willkür und der Machtpolitik Tür und Tor geöffnet würden. Wenn ein
Staat beispielsweise einer sehr grossen Zahl seiner eigenen Staatsangehörigen
die Rückkehr in die Heimat verweigert, wie dies die serbischen Regierung
gegenüber ihren Staatsbürgern aus Kosowo derzeit tut und damit elementarste
Regeln des Völkerrechts verletzt, so muss ernsthaft geprüft werden, ob hier
Solidarität, die über den Bereich der Katastrophenhilfe oder dringender
humanitärer Hilfe hinausgeht, den Staaten billigerweise noch zumutbar ist.
Finanzielle Unterstützung oder gar die Aufnahme von sich dermassen
rechtsbrecherisch verhaltenden Staaten in Organisationen, wie die Weltbank,
müssen, wenn unser Volk nicht irre werden soll, von der Einhaltung des
Völkerrechts auch auf dem Gebiet des Asylwesens abhängig gemacht werden.

Die Solidarität steht - national und international - immer mehr in nicht
übersehbarem Gegensatz zum wachsenden Einfluss, den der globale
Standort-Wettbewerb auf praktisch alle Volkswirtschaften ausübt. Es ist müssig,
hier über die schwindende Macht der Staaten zu jammern. Immerhin sei
festgestellt, dass die weltweite Entfesselung der Marktkräfte durch
Globalisierung und Liberalisierung weder unerwartet noch unerwünscht, dafür
aber rascher und heftiger eingetreten ist, als erwartet. Dass die
Wettbewerbsfähigkeit eines Angebots stark mitbestimmt wird von den
Rahmenbedingungen des Produktionsstandorts ist offensichtlich. Dabei geht es
nicht nur um Löhne und Lohnnebenkosten, Bildungsniveau, Infrastruktur und
rechtliche Rahmenbedingungen, sondern in zunehmendem Masse auch um die
vorherrschenden Grundwerte und Anschauungen. Ob eine Regierung Kinderarbeit
toleriert oder ächtet, ob in ihrem Rechtssystem die individuellen
Menschenrechte zuoberst oder in der Mitte einer Werteskala angesiedelt sind, ob
das Eigentum breit gestreut oder einer kleinen Oberschicht vorbehalten bleibt,
ob für die Produktion strenge oder gar keine Auflagen zum Schutze der Umwelt
gemacht werden, ob politische Stabilität oder Labilität herrscht, wirkt sich
auf die Kostenstruktur und besonders die Investitionsentscheide der Unternehmen
aus. Ich bin aber sicher, dass beim Standortwettbewerb längerfristig die
Grundwerte von Staat und Gesellschaft an Bedeutung gewinnen werden.

In unserer Ordnung der sozialen Marktwirtschaft kommt liberal
marktwirtschaftlichem Denken und dem sozialen Ausgleich ein gleichermassen
hoher Stellenwert zu. Unser sozialer Acquis hat mit der unguten Utopie eines
Versorgungsstaats ebensowenig zu tun wie unser Verständnis von
Eigenverantwortung, Leistung und Marktwirtschaft mit dem
Manchester-Liberalismus. Unter dem Druck des intensivierten Wettbewerbs könnte
aber auch bei uns die Versuchung steigen, den "jenseits des Marktes" stehenden
Interessenausgleich, der, wie schon RÖPKE sagt, "Schwache schützt und Zügellose
im Zaum hält", aufzugeben.

Vor solchem Denken ist trotz zunehmendem Wettbewerbsdruck entschieden zu
warnen. Unsere eigenen Grundwerte aufzugeben, weil sie sich im Wettbewerb mit
anderen als hinderlich erweisen, kann längerfristig nicht zum Wohl unserer
Volkswirtschaft sein. Der Wettlauf um vorteilhafte wirtschaftliche
Rahmenbedingungen darf nicht zu einer Ausplünderung des westlichen Wertesystems
führen. Wir sind überzeugte Anhänger eines Wertepluralismus, nicht eines
eindimensionalen Oekonomismus, der menschliche Werte wie Menschenwürde und
Solidarität opfert. Der Markt ist Mittel, nicht Zweck. Ohne égalité und
fratérnité hätte die liberté nie ihren unwiderstehlichen Siegeszug um die ganze
Welt antreten können. Die Leistungsfähigkeit eines freiheitlichen
demokratischen Systems bemisst sich nämlich nicht allein an seiner Effizienz,
sondern ebenso an seiner Legitimität. Gewiss: leidet die Effizienz, krankt die
Legitimität. Fehlt es aber an Legitimität, scheitert die Effizienz. Dies sind
die Leitplanken für die Reform unseres politischen Systems.

Aus solch ganzheitlicher Sicht wird auch klar, dass nicht nur die Wirtschaft,
sondern auch der Staat dringend der Reform bedarf. Eine der Fragen, die für die
Zukunft unseres Landes entscheidend sein werden, ist daher die Reform der
Bundesverfassung. Auch die Schweizerische Nationalbank pflichtet in
verschiedenen substantiellen Stellungnahmen, vor wenigen Tagen in einem
vielbeachteten Vortrag des scheidenden Nationalbankpräsidenten Markus Lusser,
dieser Auffassung bei.

Unter "Verfassung" verstehen wir sowohl den gedruckten, jedermann zugänglich
Text als auch das Gesamt des geltenden Verfassungsrechts. Verfassung ist zudem
jenes Recht, das in Geltung steht und so wichtig ist, dass es zum Grundgesetz
gehört. Leider fallen formelles und materielles Verfassungsrecht in der Schweiz
immer mehr auseinander. Im Verfassungstext finden sich Bestimmungen, die im
Laufe der Zeit irrelevant geworden sind, und solche, die zwar in Kraft sind,
aber keineswegs zu den wesentlichen und grundlegenden Normen gehören, die also
in einem Gesetz viel sinnvoller untergebracht wären als in der Verfassung.
Andererseits sind zentrale Elemente des Verfassungsrechts in der gedruckten
Bundesverfassung nicht zu finden. Sie sind durch Entscheidungen des
Bundesgerichtes, durch schöpferische Auslegung vorhandener Verfassungsartikel,
durch die Praxis der Behörden oder durch den Abschluss völkerrechtlicher
Verträge als gültiges Recht eingeführt beziehungsweise festgestellt worden.

Eine gute Illustration für die Kluft zwischen geschriebener und gelebter
Verfassungsordnung sind die Bestimmungen über die Goldeinlösungs- und
-deckungspflicht der Banknoten in Artikel 39 Absatz 6 der Bundesverfassung. Der
Verfassungsgeber geht von einer Goldumlaufswährung aus und untersagt es dem
Bund ausdrücklich, die Einlösungspflicht der Nationalbank für Banknoten
aufzuheben, ausgenommen  in Kriegszeiten oder in Zeiten gestörter
Währungsverhältnisse. Dies zwingt uns spätestens seit Aufhebung der
Goldkonvertibilität des Dollars durch Präsident Nixon am 15. August 1971 zur
Annahme, wir lebten "in Zeiten gestörter Währungsverhältnisse". Hinzu kommt,
dass die vom Souverän durch die Beitrittsabstimmung sanktionierten IWF-Statuten
die Bindung der Währung zur Bestimmung der Wechselkurse ans Gold verbieten. Der
in der Verfassung vorgegebenen Goldparität verbleibt somit als letzte Funktion
jene der Bilanzierung der Goldvorräte der Nationalbank, worauf problemlos
verzichtet werden könnte.

Die beschriebene Situation ist nicht nur unschön, sie ist bedenklich. Die
Verfassungsreform will sie unter dem Leitgedanken der "living constitution"
beseitigen. Der Verfassungstext soll das tatsächlich geltende Verfassungsrecht
in überschaubarer Weise und in einer heutigen Sprache darstellen. Wenn wir uns
dabei an der "gelebten Verfassungswirklichkeit" orientieren, so bedeutet dies,
dass die Kluft zwischen Realität und Norm beseitigt werden soll. Damit ist
nicht gemeint, dass wir vor der "normativen Kraft des Faktischen" kapitulieren.
Eine Verfassung muss in fruchtbarer Distanz zu den tatsächlichen Verhältnissen
stehen. Es gibt einen normativen Vorsprung der Verfassung gegenüber der platten
Realität, und es muss ihn auch weiterhin geben. Aber das tatsächlich geltende
Recht muss erkennbar sein, und zwar ohne interpretatorische Kunstgriffe. Nur so
kann die Verfassung ihre Aufgaben erfüllen.

Das Grundgesetz muss dem Bürger und der Bürgerin darüber Auskunft geben, was
die Schweiz eigentlich ist. Die grundlegenden Werte und Entscheidungen müssen
wieder sichtbar gemacht werden, damit klar wird, was gilt. Kurt Eichenberger,
der Basler Staatsrechtler, hat es so gesagt: "Der zeitgemässe Staat muss
zeigen, was er ist und was er zu werden beabsichtigt. Er hat es nach innen und
aussen zu tun: Das Volk und die Staatsorgane sollen zuverlässig erfahren, in
welchem politische Gefüge sie leben und eingebunden sind."

Eine solche Verfassung, die verbindlich, aber ohne starre Fixierung, den
politischen Konsens über Erreichtes und Anzustrebendes festhielte, vermöchte
dem Land unschätzbare Dienste zu erweisen. Denn bewusste Identität und
reflektierte Orientierung sind Ressourcen, derer die Gesellschaft jederzeit
bedarf, in erhöhtem Masse aber in Zeiten der beschleunigten Veränderung wie wir
sie heute erleben.

Doch zurück zu den besonderen Bestimmungen der Geldverfassung.

Ich habe mich darüber gefreut, dass Herr Präsident Lusser in seinem erwähnten
Vortrag der in Vernehmlassung gegebenen Währungsverfassung insgesamt ein gutes
Zeugnis ausstellt. Artikel 79 den Entwurfs benennt ja kurz und klar die
staatliche Geld- und Währungshoheit, die Unabhängigkeit der Nationalbank und
deren Grundauftrag. Dieser Auftrag sollte nun, so die Forderung des Referates,
ergänzt werden um das Ziel der Geldwertstabilität und die Pflicht zur Sicherung
ausreichender Währungsreserven.

Damit würde die Geldverfassung durch drei Elemente charakterisiert: Erstens:
Die staatliche Geld- und Währungshoheit, worüber ich mich schon geäussert habe.
Zweitens den Auftrag an die Nationalbank, welcher explicite das Ziel der
Geldwertstabilität aufführen soll. Und drittens Massnahmen, die das Vertrauen
in das staatliche Geld fördern, dies insbesondere durch die Äufnung von
Währungsreserven.

Der in Vernehmlassung gegebene Verfassungsentwurf umschreibt den Auftrag der
Nationalbank, die als unabhängige Zentralbank zuständig (ist) für eine Geld-
und Währungspolitik, die dem Gesamtinteresse des Landes dient.  Das Ziel der
Geldwertstabilität wird allerdings nicht genannt. Wir kamen bei der Redaktion
des Entwurfs zum vorläufigen Schluss, dass die Geldwertstabilität nur eines von
mehreren wirtschaftspolitischen Zielen sei. Ein zweites Element, das bei allen
"magischen" Vielecken vorkommt, ist die Vollbeschäftigung. Nun ist die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gewiss nicht Sache der Nationalbank, sondern
der politischen Behörden  soweit politischer Einfluss auf diese
volkswirtschaftliche Grösse überhaupt möglich ist. Darf man aber ein
wirtschaftspolitisches Ziel, selbst wen es sich dabei um die
Teuerungsbekämpfung, also tatsächlich um das zentrale Element der Geldpolitik
handelt, durch die Aufnahme in eine nachgeführte Geldverfassung privilegieren?
Oder ist der in Vernehmlassung gegebene Verfassungstext, der der SNB eine Geld-
und Währungspolitik aufträgt, "die dem Gesamtinteresse des Landes dient", doch
vorzuziehen? Diese Fragen sind noch zu diskutieren. Dabei wird vor allem zu
prüfen sein, ob der von der Nationalbank unterbreitete Vorschlag dem
Nachführungsauftrag des Parlamentes noch entspricht, oder ob er darüber hinaus
geht, und daher in Form einer Variante präsentiert werden müsste.

Das dritte Element im Vorschlag der Nationalbank betrifft vertrauensbildende
Massnahmen. Diese sind von grösster Bedeutung, denn der Markt zeigt täglich,
wie sinkendes Vertrauen Werte vernichtet und wie wachsendes Vertrauen die
Schaffung von Werten begünstigt. Zweifellos kommt der Nationalbank die Aufgabe
zu, das Vertrauen in den Franken zu stärken, auch wenn dies zur Zeit kaum das
vorderdringlichste Problem darstellt. Die geltende Bundesverfassung enthält in
Art. 39 Abs. 7 mit der veralteten Golddeckungsvorschrift heute schon
vertrauensbildende Massnahmen. Ob die von der Nationalbank vorgeschlagene
Äufnung der Währungsreserven im Sinne einer modernisierten Fortsetzung
bestehenden Rechts und einer offenen Darstellung aktueller Praxis noch als
Nachführung bezeichnet werden kann, bedarf ebenfalls noch vertiefter Prüfung.

Gerade diese Beispiele der Geldverfassung zeigen drastisch, dass die vom
Parlament im Jahre 1987 verlangte Nachführung oder besser mise à jour
keineswegs nur eine juristisch-technische, sondern auch eine eminent politische
Seite hat, über die man in guten Treuen fechten kann. Entscheidend ist dabei
für den Bundesrat, dass die Nachführung inhaltlich völlig transparent gemacht
wird.

Lassen Sie mich zum Anfang zurückkehren. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass
die Konferenz der Kantonsregierungen im Rahmen der Verfassungsreform
vorschlägt, den Grundsatz der Solidarität im Verhältnis Bund-Kantone und unter
den Kantonen in der Verfassung zu verankern. Dass die Schweizerische
Nationalbank aus Anlass ihres 75jährigen Jubiläums mit der Stiftung Gerzensee
ein derart bedeutendes Beispiel internationaler Solidarität gegeben hat, ist
ihr hoch anzurechnen. Sorgen wir dafür, dass auch die innerstaatliche
Solidarität zwischen den Landesteilen, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich,
ob der vielen neuen wirtschaftlichen Zwänge nicht verloren geht, denn sonst
verlöre die Schweiz nicht nur ihren innern Zusammenhalt, sie verlöre auch ihre
eigentliche Berufung.