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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Schweiz am Wendepunkt?

Schweiz am Wendepunkt ?
Rede von Bundesrat Arnold Koller
an der Eröffnung der Mustermesse, Basel, 8. März 1995
[Anrede]
Die Mustermesse ist allen Schweizerinnen und Schweizern, selbst jenen, die sie
noch nie besucht haben, ein Begriff. Sie gehört zur Schweiz wie unsere Banken
und unsere Industrie und - seien wir grosszügig - das Sechseläuten der Zürcher.
Ich freue mich daher, Ihnen allen die besten Grüsse und Wünsche des Bundesrates
zu überbringen, und hoffe, dass sich am Ende der MUBA  die Organisatoren und
Aussteller  auch über Erfolge und eine grosse Besucherzahl freuen können. Die
Grüsse und Wünsche des Bundesrates gehen insbesondere an die Adresse der 15
ausländischen Handelspartner, deren Präsenz und Interesse uns freut und ehrt.
Mit der heutigen schwungvoll-musikalischen Eröffnung setzt die Direktion der
Mustermesse einmal mehr neue  Akzente. Ich bin beeindruckt und hoffe nur, dass
die Aussteller nachts nicht  von irgendwelchen Phantomen heimgesucht  werden .
Auch in der Schweizer Wirtschaft geht ein Phantom um. Es heisst Globalisierung
der Märkte und hinterlässt in unserer Wirtschaft neben Chancen auch Aengste.
Unsere Ausfuhren haben im letzten Jahr nur um 1,8% zugenommen, obgleich die
Nachfrage auf den wichtigsten Exportmärkten um 10 Prozent gewachsen ist. Andere
OECD Länder, die ihre Exporte um durchschnittlich 9% steigerten, verstanden die
sich bietenden Chancen offenbar besser zu nutzen. Das Wachstum unserer
Wirtschaft war im internationalen Vergleich schwach. Der Befund, dass unser
Standort im Vergleich zu anderen Ländern an Attraktivität eingebüsst hat,
erhärtet sich somit zunehmend. Zudem ist die nur zögernd aufflackernde
Konjunktur durch den stählernen Franken gebremst worden. Es wäre jedoch
gefährlich, und volkswirtschaftlich mittelfristig sogar schädlich, den
anhaltend hohen Frankenkurs durch expansive Experimente an der Währungsfront
korrigieren zu wollen. Zumal unser Land im internationalen Wettbewerb nach wie
vor auch über wichtige Trümpfe wie tiefe Zinsen, praktisch keiner  Teuerung und
wenigstens im internationalen Vergleich geringe Arbeitslosigkeit verfügt.
Das Bruttoinlandprodukt ist im vergangenen Jahr real aber lediglich um etwa 0,7
% gewachsen. Langfristig wird solch bescheidenes Wachstum nicht ausreichen, um
für unsere Arbeitslosen 150'000 neue Stellen zu schaffen, um unsere Sozialwerke
zu sichern, um den unerlässlichen Ausgleich unseres Staatshaushaltes
verkraftbar zu bewerkstelligen und um den Anliegen des Umweltschutzes besser
Rechnung zu tragen.
Weil es hiefür eindeutig mehr Wachstum braucht, sieht  sich die
Wirtschaftspolitik vor neuartige Herausforderungen gestellt.
Die weltweit breit abgestützte Liberalisierungswelle hat den Unternehmungen
neue Märkte geöffnet, aber auch zahlreiche neue und ernstzunehmende
Konkurrenten gebracht. Multinationale Firmen investieren angesichts der
zunehmend vernetzten Weltwirtschaft vor allem in jenen Ländern, wo die
benötigten Produktionsfaktoren am kostengünstigsten angeboten werden. Das
Investitionsverhalten der Multis ist von grösster Bedeutung, weil nach
Schätzungen der UNCTAD heute rund 30% der weltweit aktiven Erwerbsbevölkerung
in irgendeiner Art vom Beschäftigungseffekt transnationaler Konzerne abhängt.
Die wachsende Konkurrenz zwingt die Unternehmen, ihre Produktivität zu
steigern. Die damit verbundene Verringerung der Fertigungstiefe bewirkt eine
horizontale Vernetzung von Produzenten und Zulieferern und führt dazu, dass
Umsatzschwankungen der Exportbetriebe sich sehr rasch auf die miteinbezogenen
Klein- und Mittelbetriebe auswirken. Ein wachsender Anteil der
Wertschöpfungskette und damit auch des Wettbewerbsdrucks geht an die
Zulieferer. Die Globalisierung hat damit auch für die mittelständischen
Unternehmen, die drei Viertel der Erwerbstätigen unseres Landes beschäftigen,
klare, wenn auch noch schwer quantifizierbare Konsequenzen.
Damit sind wir alle unmittelbar vom Phänomen der Globalisierung betroffen.  Die
Standortkonkurrenz bewirkte, dass die Investoren aus EG-Ländern in den Jahren
1992 und 1993 insgesamt Kapital aus der Schweiz abzogen; der ungute Trend hat
sich 1994 wieder gewendet. Wir wollen uns vom weltweiten Wettbewerb nicht
abkoppeln oder abschotten. Die Schweiz darf nicht zum Schrebergarten der
Weltwirtschaft werden.
Die traditionelle Aussenwirtschaftspolitik, die das Ziel der gleichlangen
Spiesse für alle Exporteure verfolgt, genügt nicht mehr, um den von der
Globalisierung geschaffenen Realitäten Rechnung zu tragen. Gewiss muss der
Zugang von Schweizer Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapitalien auf der
Grundlage der Gegenseitigkeit  zum europäischen Binnenmarkt verbessert werden.
Gewiss ist das Netz unserer Präferenzabkommen auszudehnen. Die Hemmnisse an der
Grenze sind jedoch nicht mehr so bedeutend, dass sie die Wettbewerbskraft
unserer Industrie generell in Frage stellen. Weil der EWR und der damit
verbundene Liberalisierungsschub von Volk und Ständen abgelehnt wurde, galt es
umso mehr, die binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf andere Weise zu
verbessern. Bundesrat und Parlament haben inzwischen wichtige Weichenstellungen
vorgenommen, deren positive Wirkung auf unsere Volkswirtschaft sich
mittelfristig sicher zeigen werden: Mit Swisslex haben wir in eigener
Anstrengung juristische Hürden gegenüber der EU abgebaut und mit dem
revidierten Kartellgesetz, dem  Binnenmarktgesetz und dem  Gesetz über
technische Handelshemmnisse innerstaatliche Wettbewerbsbehinderungen beseitigt.
Die Liberalisierung des Versicherungsmarktes, die Beschleunigung und
Vereinfachung von Baubewilligungsverfahren, der Abbau technischer
Handelshemmnisse beim Import von Motorfahrzeugen, aber auch die Neuausrichtung
unserer Landwirtschaftspolitik sind weitere Beispiele im Rahmen des Programms
marktwirtschaftlicher Erneuerung . Der damit verbundene beschleunigte
Strukturwandel ist für die vielen betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
allerdings kein Honiglecken, aber dringende volkswirtschaftliche Notwendigkeit.
Dies sind zweifellos beachtliche  Erfolge bei der Erneuerung der
Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft. Und wer wie der Sprechende hautnah erlebt
hat, wie all diese begrüssenwerten Neuerungen vor zehn Jahren politisch noch
keine Chance hatten, weiss ihren Wert umso mehr zu schätzen und hat allen
Grund, sogar an die Lernfähigkeit der Politik zu glauben. Dies darf uns
allerdings nicht dazu verleiten, nun die Hände befriedigt in den Schoss zu
legen und zu meinen, der Standortpflege sei genug getan. Die Optimierung der
Rahmenbedingungen der Wirtschaft ist ein ständiger Prozess, eine anspruchsvolle
Daueraufgabe des Staates und keineswegs ein einmaliges, erfolgreich
abgeschlossenes Vorhaben. Wir alle, Wirtschaft und Politik, Arbeitgeber und
Arbeitnehmer, Produzenten und Konsumenten bleiben gefordert.
Was ist zu tun ?
Erstens muss der Staat für ausgeglichene Finanzen sorgen. Tut er es nicht, so
verpufft ein unverhältnismässig grosser Anteil an Steuergeldern für die
Finanzierung von Zinsausgaben und damit für konsumptive Zwecke anstatt für
Investitionen. Der Bundesrat hat daher ein finanzpolitisches Gesamtkonzept
ausgearbeitet, welches die Sanierung des Bundeshaushalts bis zum Jahr 2001,
also bis zur Mitte der nächsten Legislatur, vorsieht. Zunächst soll mehr
gespart werden. Das durchschnittliche Ausgabenwachstum soll in der
Planungsperiode 1996 - 2000 auf 1,5 % beschränkt (7% 91-94) werden, für eine
begrenzte Zeit soll ein Moratorium für neue nicht finanzierte Staatsaufgaben
beachtet, und eine kostensparende Verwaltungsreform realisiert werden. Dabei
werden wir uns nicht zu Tode sparen und vermeiden, dass das zarte Flämmchen der
Konjunktur vollends erstickt. Neeue Einnahmen sollen nur für die Finanzierung
des öffentlichen Verkehrs, besonders der NEAT, und für die Sicherung der AHV
bewilligt werden. Und letztlich soll als  Damoklesschwert ein Sanierungsartikel
in der Bundesverfassung verankert werden, der bei Verfehlen der Zielvorgabe
zwingend Sparmassnahmen im Transfer- und Eigenbereich vorsieht.
Zweitens bedarf es eines verbesserten Dialoges  zwischen den Sozialpartnern.
Die Gefahr der Polarisierung unter ideologischen Vorzeichen hat leider auch in
unserer Wirtschaft zugenommen. Dabei war die Schweiz lange ein Musterbeispiel
der Dialogfähigkeit auch im gesellschaftlichen Bereich. Es mehren sich aber die
Zeichen, dass auch in unserem Land anstelle des  des Eingehens auf Argumente
und Gegenargumente nun das gegenseitige Bewerfen mit Vorurteilen Schule macht.
Die Rahmenbedingungen liegen klar auf der Hand: Weder  darf der Wettbewerb zum
Selbstzweck erhoben werden, noch ist ein Versorgungsstaat zu befürworten.
Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft sind untrennbar mit dem Element
gesellschaftlicher Solidarität verbunden. Und die internationale
Wettbewerbsfähigkeit wird immer  mehr zum massgeblichen Schiedsrichter.
Drittens sind die Ausbildung und die Weiterbildung auf allen Stufen zu
verbessern. Die Qualität der Human Ressources müssen ein Trumpf der Schweiz
bleiben. Unsere künftigen Mitarbeiter, Forscher und Entscheidungsträger sind ja
die wichtigste Ressource unseres rohstoffarmen Landes. In einer Welt wandelnder
Strukturen hat gute Aussichten, wer diese Veränderungen rechtzeitig meistern
kann. In einer Welt des gesteigerten Wettbewerbs braucht es auch mehr
Leistungs- und Durchhaltewillen. Mit dem Fachhochschulgesetz sind wir auf dem
richtigen Weg. Es wäre aber ein für die Zukunft unseres Landes fataler Fehler,
wenn solch begrüssenswerte neue Möglichkeiten des Zugangs zur universitären
Weiterbildung mit einer Senkung des Anforderungsprofils für die Hochschulreife
verbunden würden. Letzteres gilt es vor allem bei der  Durchführung der neuen
Maturitätsverordnung zu beachten.
Neben der Ausbildung steht die Forschung. Unsere Volkswirtschaft kann nur
wachsen, wenn die Schweizer Forschung und Entwicklung zur Weltspitze gehört.
Nach wie vor ist der Forschungs- und Entwicklungsanteil des Privatsektors am
BIP mit etwas über 2 % beachtlich. Wir müssen uns aber gerade im
Forschungsbereich vor gefährlichen Ideologisierungen hüten. Solche drohen vor
allem im zukunftsträchtigen, aber auch risikobehafteten Bereich der Gentechnik.
Wir dürfen den Anschluss an eine der Schlüsseltechnologien der Zukunft nicht
verpassen, müssen aber auch für einen verantwortungsbewussten Umgang mit dieser
neuen Technologie sorgen.
Viertens: Bedarf unser Verhältnis zur Europäischen Union einer baldigen
Klärung. Denn dessen Bedeutung geht über die Frage des ungehinderten Zugangs an
einen Markt von 400 Mio. Konsumenten weit hinaus. Der Bundesrat hat im Gefolge
und in voller Respektierung des EWR-Neins von Volk und Ständen auf bilaterale
Verhandlungen gesetzt. Diese haben die vorhersehbaren Grenzen eines solchen
Vertrages offengelegt. Die Verhandlungen sind schwierig, aber keineswegs
aussichtslos. Wir dürfen jetzt in dieser schwierigen Schlussphase der
bilateralen Verhandlungen vor allem die Nerven nicht verlieren. Denn dafür
haben wir keinen Grund. Im übrigen ist zu hoffen, dass beide Seiten die
anstehenden Abschlussverhandlungen frei von Dogmatismus, d.h.
unerschütterlichen Positionen führen. Denn es wäre in der Tat fatal, wenn nach
dem schweizerischen Nein zum EWR erneut übertriebener Dogmatismus eine
beidseits wünschbare Lösung verhinderte.
Meine Damen und Herren
Globalisierung und Liberalisierung haben die Marktkräfte weltweit entfesselt.
Diese Entwicklung ist weder unerwartet noch unerwünscht - aber sie ist rascher
und heftiger eingetreten als erwartet. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Angebots
wird stark mitbestimmt von den Rahmenbedingungen des Produktionsstandorts.
Dabei geht es nicht nur um Löhne und Lohnnebenkosten, Bildungsniveau,
Infrastruktur und rechtliche Rahmenbedigungen, sondern in zunehmendem Masse
auch um die vorherrschenden Grundwerte und Anschauungen. Ob eine Regierung
Kinderarbeit toleriert oder ächtet, ob in ihrem Rechtssystem die individuellen
Menschenrechte zuoberst oder in der Mitte einer Werteskala angesiedelt sind, ob
das Eigentum breit gestreut oder einer kleinen Oberschicht vorbehalten bleibt,
ob für die Produktion strenge oder gar keine Auflagen zum Schutze der Umwelt
gemacht werden, ob politische Stabilität oder Labilität herrscht, wirkt sich
auf die Kostenstruktur und besonders die Investitionsentscheide der Unternehmen
aus. Ich bin daher sicher, dass beim Standortwettbewerb längerfristig die
Grundwerte von Staat und Gesellschaft an Bedeutung gewinnen werden.
In unserer Ordnung der sozialen Marktwirtschaft kommt liberal
marktwirtschaftlichem Denken und dem sozialen Ausgleich ein gleichermassen
hoher Stellenwert zu. Unser sozialer Acquis hat mit der unguten Utopie eines
Versorgungsstaats ebensowenig zu tun wie unser Verständnis von
Eigenverantwortung, Leistung und Marktwirtschaft mit dem
Manchester-Liberalismus. Unter dem Druck des intensivierten Wettbewerbs könnte
auch bei uns die Versuchung grösser werden, den "jenseits des Marktes"
stehenden Interessenausgleich, der, wie schon RÖPKE sagt,  "Schwache schützt
und Zügellose im Zaum hält" aufzugeben.
Vor solchem Denken ist zu warnen. Unsere eigenen Grundwerte aufzugeben, weil
sie sich im Wettbewerb mit anderen als hinderlich erweisen, kann nicht zum Wohl
unserer Volkswirtschaft sein. Der Wettlauf um vorteilhafte wirtschaftliche
Rahmenbedingungen darf nicht zu einer Ausplünderung des westlichen Wertesystems
führen. Wir sind überzeugte Anhänger eines Wertepluralismus, nicht eines
eindimensionalen Oekonomismus, der menschliche Werte wie Menschenwürde und
Solidarität opfert. Der Markt ist Mittel, nicht Zweck. Ohne égalité und
fratérnité hätte die libertée nie ihren unwiderstehlichen Siegeszug um die
ganze Welt antreten können. Die Leistungsfähigkeit eines freiheitlichen
demokratischen Systems bemisst sich nämlich nicht allein an seiner Effizienz,
sondern ebenso an seiner Legitimität. Gewiss: leidet die Effizienz, krankt die
Legitimität. Fehlt es aber an Legitimität, scheitert die Effizienz. Dies sind
die Leitplanken für die Reform unseres politischen Systems.
Aus solch ganzheitlicher Sicht wird auch klar, dass nicht nur die Wirtschaft,
sondern auch der Staat dringend der Reform bedarf. Einmal bedürfen dringende
Probleme wie die Sanierung der Bundesfinanzen, die Sicherung der Sozialwerke
und unser Verhältnis zur Europäischen Union überzeugender Lösungen. Der
Reformbedarf geht mit Blick auf das nächste Jahrhundert aber eindeutig tiefer.
Reformbedürftig sind auch unsere Institutionen wie die konkrete Ausgestaltung
der direkten Demokratie, die Justiz, das Parlament und die Regierung. Es geht
nicht um radikale Alternativen, sondern, auch im staatlichen Bereich, um eine
notwendige Weiterentwicklung, die aufgrund neuer, vor allem internationaler
Herausforderungen nötig ist. Damit ist die eingeleitete  Verfassungsreform
angesprochen. Sie muss zweierlei leisten. Sie muss in Etappen die notwendigen
institutionellen Reformen bringen. Und sie muss zunächst und als Voraussetzung
hiefür, unserem Volk die zentralen schweizerischen Staatsideen, wie die direkte
Demokratie, den liberalen Rechtsstaat, die soziale Marktwirtschaft, den
Föderalismus, den Minderheitsschutz usw. in übersichtlicher und leicht
zugänglicher Form wieder bewusst machen. Für diese mise à jour unseres
Gesellschaftsvertrages bietet sich das kommende Jubiläum "150 Jahre
Schweizerische Bundesverfassung" in idealer Weise an. Wenn wir wieder wissen
und bekräftigen, was uns alle eint, werden wir auch günstigere Voraussetzungen
haben, um die grossen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der
Zukunft zu meistern.