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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Sperrfrist: Samstag, 23. September 1995, 10.00 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort

Sperrfrist: Samstag, 23. September 1995, 10.00 Uhr

WIR SCHMIEDEN DIE ZUKUNFT

Eröffnungsansprache
von Bundesrat Arnold Koller
anlässlich des Parteikongresses
der CVP Schweiz

vom 23. September 1995 in Olten
Alte Giesserei der von Roll AG

*******

Anrede

Wir schmieden die Zukunft! Dies ist eine gute Devise für eine selbstbewusste
Partei, die in die Wahlen steigt. Es ist auch eine gute Devise für die
Erneuerung unserer Bundesverfassung, die der Bundesrat diesen Sommer der
Öffentlichkeit vorgestellt hat. Und es ist gut, dass sich die CVP als erste
Bundesratspartei intensiv mit diesem anspruchsvollen Projekt Verfassungsreform
befasst. Während andere Bundesratsparteien immer mehr auseinandertriften,
bemüht sich die CVP, unser Volk über die Verfassungsreform wieder mehr
zusammenzuführen. Unser Land braucht diese Grundsatzdebatte über die uns
zusammenhaltenden gemeinsamen Werte. Und wir brauchen an der Schwelle eines
neuen Jahrhunderts unbedingt diesen Blick nach vorn.

Vorerst darf ich sicher meiner Freude und Genugtuung Ausdruck geben, dass das
Projekt gut gestartet ist: weit mehr Bürgerinnen und Bürger als wir erwarten
durften haben sich aus eigenem Antrieb für den Verfassungsentwurf und die
Unterlagen interessiert: Über 35000 Bestellungen von Einzelpersonen und
Organisationen sind eingegangen. Inzwischen sind 75000 Verfassungsentwürfe
versandt worden: ein echter Bestseller aus dem Bundeshaus.

Wir machen nun allerdings keine Illusionen: eine Grundwelle im Volke für eine
Verfassungsrevision bedeutet dies nicht. Es braucht sie auch nicht, hat es im
übrigen selbst im letzten Jahrhundert nicht gegeben. Grundwellen für
Verfassungsreformen gibt es nur in Staatskrisen und revolutionären Zeiten und
die haben wir gottlob nicht. Im Gegenteil, diese möchten wir gerade
vorausschauend verhindern. Unsere bald 150jährige Verfassung ist im Kern nach
wie vor gesund. Unsere Verfassung gehört nicht zum alten Eisen. Aber sie hat
sich verformt und muss daher unbedingt neu geschmiedet werden, sonst läuft sie
in der Tat Gefahr, eines Tage zum alten Eisen geworfen zu werden.

Unsere Verfassung ist das Grund-Gesetz, auf dem unser Bundesstaat und die
gesamte Rechtsordnung gebaut sind. In ihr wird der Staat - die Behörden, die
Rechte des Volkes, die Grundrechte, die Aufgabenteilung zwischen Bund-Kantonen
- konstitutiert. Die Verfassung verschafft Macht zum Handeln, begrenzt sie aber
auch. Die Verfassung legt mit andern Worten die Spielregeln und die
Rahmenbedingungen für das staatliche Handeln fest; sie steuert das staatliche
Handeln. Die Amerikaner bezeichnen denn auch die Verfassung als framework for
Government.

Was ist denn heute revisionsbedürftig an diesen Spielregeln? Warum brauchen wir
eine Verfassungsrevision?

Spielregeln können nur zum Tragen kommen, wenn man sie kennt. Unsere
Bürgerinnen und Bürger kennen die Verfassung nicht mehr. Wen wunderts. 136
Teilrevisionen haben sie zu einem unlesbaren, ja teilweise unverständlichen
Flickwerk gemacht. Bald finden sich dort nur noch die Experten zurecht. Zwar
ist es mit Teilrevisionen gelungen, jeweils notwendige politische Änderungen
einzubauen: das Proporzwahlrecht, das Staatsvertagsreferendum, die
Sozialversicherungen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die
Mehrwertsteuer. Aber die Proportionen stimmen längst nicht mehr. Wenn Sie die
heutige Verfassung lesen, gewinnen Sie den Eindruck, wir seien ein Volk von
Alkoholikern und Militaristen und unsere Wirtschaft sei weitestgehend vom Staat
dirigiert.
Ganze 2 Seiten sind heute dem Alkohol gewidmet. Wir reduzieren sie auf 2
Zeilen.
11 Artikel sind dem Militär gewidmet. Neu sind es noch 4 Bestimmungen. Völlig
unübersichtlich sind die Bestimmungen über Steuern und Abgaben, die eigentlich
dem Bürger die Sicherheit geben sollten, dass der Staat nicht ungerechtfertigte
Steuern erhebt. Hier unterbreiten wir eine kurze, klare und verständliche
Zusammenstellung der Steuern und Abgaben.

Andererseits fehlt vieles, was wir in der Verfassung gerne finden würden. So
fehlt vor allem ein umfassender Grundrechtskatalog. Unsere geschriebene
Verfassung sagt nichts zur Menschenwürde, zum Willkürverbot, zu Treu und
Glauben, zum Recht auf Leben, zum Schutz des Familien- und Privatlebens, zur
Meinungsäuserungs- und Informationsfreiheit, zur Versammlungsfreiheit, zur
Kunstfreiheit, zum Datenschutz oder zu den Schutz- und Verfahrensgarantien, wie
sie die EMRK enthält. Sie suchen vergebens ein Bekenntnis zu Marktwirtschaft
und Wettbewerb oder eine Bundeskompetenz zur Aussenpolitik. Dafür ist die Rede
von den "Auswanderungsagenturen", von der "Verwendung der Kinder in den
Fabriken" (!), von Brauteinzugsgebühren, von Zugs- und Abzugsrechten, vom
freien Durchmarschrecht der eidgenössischen Truppen und - trotz neuem Kindes-
und Eherecht - hält es die Verfassung immer noch mit der "väterlichen Gewalt".

Das sind ein paar wenige Beispiele, die Ihnen zeigen, dass unsere Verfassung
durch die Jahrzehnte in eine Schieflage gekommen ist: Sie atmet den Geist und
die Sprache des letzten Jahrhunderts und hat damit weitgehend ihre
Orientierungs- und Steuerkraft für das staatliche Handeln verloren. Nun stehen
wir aber vor dem 3. Jahrtausend und unsere Aufgabe ist es, die Verfassung so zu
gestalten, dass sie in Zukunft wieder lebendiges Grund-Gesetz zu sein vermag.

Grundlage einer solchen Erneuerung der Verfassung ist der Auftrag der
Bundesversammlung aus dem Jahre 1987, wonach die neue Verfassung das
geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht nachführen, verständlich
darstellen, systematisch ordnen und in Dichte und Sprache vereinheitlichen
soll. Dieser Auftrag, das geltende Verfassungsrecht nachzuführen, die
Staatswirklichkeit also so darzustellen, wie sie wirklich ist, ist  keineswegs
eine geringe, juristisch-technische, sondern eine notwendige, eminent
politische Aufgabe.  Denn sie verschafft dem vielen, nicht leicht auffindbaren
ungeschriebenen Verfassungsrecht eine neue demokratische Legitimation. Auf
diese nachgeführte Verfassung - ich fordere Sie wirklich auf, einmal einen
Blick hineinzuwerfen -, dürfen wir durchaus stolz sein, weil sie in der Sprache
unserer Zeit das Wesen unseres Staates, unsern nationalen Konsens, das was
unsern Bundesstaat Schweiz ausmacht, zum Ausdruck bringt. Das ist schon viel!
Das fördert in einer Zeit, wo vieles auseinanderstrebt, unsern nationalen
Zusammenhalt.

Nachführung unseres Verfassungsrechts allein genügt aber nicht. Denn es gibt
zweifellos auch grösseren systematischen Reformbedarf auf manchen Gebieten. Um
die Handlungsfähigkeit und Berechenbarkeit unseres Staates auch in Zukunft zu
sichern, erachte ich eine Erneuerung der Volksrechte und der Justiz für
besonders dringlich. Unser Land ist geprägt von der direkten Demokratie.  Wir
sind zurecht stolz auf unsere demokratischen Mitwirkungsrechte. Die Volksrechte
haben den Sinn, die wichtigen politischen Entscheide durch die Stimmbürger
treffen zu lassen. Dieser Urgrund der Volksrechte kommt heute -  nüchtern
betrachtet - leider zum Teil nicht mehr zur Geltung. Wir stimmen zuviel ab, wir
stimmen nicht immer über das Wichtige ab.  Das hat mit dem Wandel der Zeiten zu
tun: im letzten Jahrhundert gab es keine Kernkraftwerke, Nationalstrassen oder
miliardenschwere Flugzeugbeschaffungen. Es bestand deshalb auch kein Bedürfnis
nach einem Finanz- oder Verwaltungsreferendum. Heute fordern viele Bürgerinnen
und Bürger hier zurecht eine konkrete Mitsprache. Im letzten Jahrhundert betraf
die Aussenpolitik fast ausschliesslich die Beziehungen zwischen den Staaten.
Heute betrifft die Aussenpolitik direkt unsere Bürgerinnen und Bürger, weil
sehr viel Recht, das wir setzen, durch internationale Verträge bedingt ist.
Unsere Volksrechte tragen dem aber nicht genügend Rechnung. So hatte unser Volk
zur Rassismuskonvention nichts zu sagen, wohl aber zu einem dadurch bedingten
neuen Artikel im Strafgesetzbuch. Und es wäre wohl auch besser gewesen, wenn
unser Volk bereits zum Alpentransitvertrag mit der EU (zwei
Tunnelverpflichtung) etwas zu sagen gesagt hätte. Unser Recht sieht das aber
nicht vor.

Es liegt deshalb im Sinne einer Verwesentlichung unserer direkten Demokratie,
wenn wir das Staatsvertragsreferendum ausdehnen, dafür aber die notwendige
Anpassung der nationalen Gesetzgebung vom Referendum ausnehmen.
Und schliesslich können wir die Augen auch nicht davor verschliessen, dass es
im letzten Jahrhundert 10% der Stimmberechtigten brauchte, um eine
Volksinitiative einzureichen; heute sind es, nach Einführung des
Frauenstimmrechts und des Stimmrechts 18, noch 2,2%. Das hat denn auch dazu
geführt, dass sich in den letzten 20 Jahren der Rhytmus von Initiativ- und
Referendumsabstimmungen fast verdreifacht hat. Viele Stimmbürger fühlen sich
heute von der Kadenz der Volksabstimmungen überfordert und gelegentlich auch
missbraucht, da
bestimmte Kreise die Volksinitiative lediglich als Versuchskaninchen benutzen,
um politische Stimmung zu machen. Es ist meines Erachtens ein Gebot der
Verhältnismässigkeit, dass sich Referenden und Volksinitiativen auf ein
angemessen breites Interesse in der Bevölkerung stützten können. Angesichts von
4,6 Millionen Stimmbürgerinnen und -bürger sind 200000 Unterschriften für die
Verfassungsinitiative und 100000 Unterschriften für das Referendum wirklich
nicht prohibitiv. Es zeugt deshalb nicht gerade von einem Sinn für
Sachlichkeit, wenn das in sich doch gut ausgewogene Paket von Erweiterungen,
Verfeinerungen und Erschwerungen an Mitwirkungsrechten von Bremsen und Turbos
einer Erneuerung der Schweiz als Abbau der Volksrechte abqualifiziert wird.

Wir arbeiten nun seit 30 Jahren an der Totalrevision der Bundesverfassung.
Vertreter unserer Partei haben an diesen Reformbemühungen massgeblichen Anteil.
Ich erinnere nur an Kurt Furgler, dessen Verfassungsentwurf in den 70er Jahren
Massstäbe gesetzt hat, oder an Ständerätin Josi Meier, deren erfolgreiche
Motion Bundesrat und Parlament verpflichtet, die Verfassungsreform so an die
Hand zu nehmen, dass sie im Jubiläumsjahr 1998 verabschiedet werden kann. Nun
ist es Zeit zum Handeln. Dies kann uns aber nur gelingen, wenn wir die
Zukunftsgestaltung realistisch und politisch klug angehen. Das bedeutet vor
allem, dass wir nicht alles auf einmal wollen. Es braucht ein Vorgehen in
überblickbaren Schritten. Deshalb betrachtet der Bundesrat die
Verfassungsreform als offenen Prozess, der sich nicht in einer einmaligen
Volksabstimmung erschöpft. Die nachgeführte Verfassung ist dabei die erneuerte
sichere Startbasis für systematische Reformen, die getrennt zur Abstimmung
kommen müssen.

Schülerinnen und Schüler von der Kanti Olten und Solothurn haben mir vor kurzem
anlässlich einer Diskussion über die Verfassungsreform die Frage gestellt: Wo
bleiben die Visionen, Herr Bundesrat?
Ich bin froh, dass unsere jungen Leute solche Fragen stellen. Denn ich habe
eine Vision, sogar eine doppelte: Die eine ist, in einer Zeit, da in unserem
Volk vieles auseinanderläuft, denn "contrat social", das was uns an gemeinsamen
Werten zusammenhält, zu erneuern. Die andere ist, unsere direkte Demokratie,
die unser Land wie nichts anderes prägt, den veränderten Verhältnissen so
anzupassen, dass unser Staat auch im nächsten Jahrhundert handlungsfähig und
berechenbar bleibt.

Wir können dies nur, wenn wir uns den Herausforderungen unserer Zeit stellen,
und wenn wir den Mut und die Energie aufbringen, die notwendigen
Verfassungsreformen rechtzeitig an die Hand zu nehmen. So schmieden wir die
Zukunft!