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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Der Beitrag der Städte zur Lösung

Es gilt das gesprochene Wort

Der Beitrag der Städte zur Lösung
nationaler Probleme

Vortrag von Bundesrat Arnold Koller am
Städtetag vom 15. September 1995 in Sion

Anrede

Sion, eine Stadt gelegen in einer herrlichen Landschaft, umgeben von Drei- und
Viertausendern geeignet, uns etwas der Alltagssorgen zu entrücken. Ein etwas
unwirklicher Rahmen aber auch, um über Stadtprobleme wie Drogen,
Agglomerationsverkehr, Luftbelastung und Kriminalität zu reden. Doch der Wandel
der Städte hin zur Agglomeration ist auch im Wallis sichtbar, beginnt sich doch
ein Siedlungsband von Brig durch das ganze Tal hinunter zu erstrecken. Auch der
Spannungsbogen zwischen Stadt und Land ist hier - in Form einer imposanten
Kulisse zwischen Rhônetal und Seitentälern - besonders deutlich aufgerollt. Und
auch der dritte Schwerpunkt meiner Ausführungen, die Frage nach der Stellung
der Stadt im Bundesstaat ist hier so aktuell wie anderswo.

Von der Stadt zur Kernstadt
Was ist die Schweizer Stadt heute? Aus der Vogelperspektive gesehen eine
Ansammlung von Gebäuden und Strassen, allenfalls noch durchsetzt mit
Grünflächen. Statistisch wird eine Stadt heute als Ortschaft mit mehr als
10'000 Einwohnern definiert. Doch die Stadt ist mehr als nur eine statistische
Grösse. Sie ist ein verdichteter Lebensraum. Ein Lebensraum, in welchem
Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Stellung, unterschiedlicher
Berufe und Lebenssituationen nahe beieinander arbeiten und leben. Nach Hugo
Lötscher ist die Stadt die grösstmögliche Gleichzeitigkeit aller Möglichkeiten.
Sie ist geprägt durch eine Vielfalt der Lebensformen und der Lebensstile. Dazu
gehören eine urbane Kultur und ein urbanes Lebensgefühl. Städtische Räume
ermöglichen Öffentlichkeit. Es ist kein Zufall, dass Städte die Wiege der
Demokratie sind. Stadtluft macht frei, hiess es im Mittelalter. Ein Teil dieser
Qualität hat sich bis heute erhalten können.

Die Stadtluft enthält aber noch andere Partikel. Das Zusammenleben vieler
Menschen auf kleinem Raum hatte immer schon auch seine Schattenseiten. Lärm,
Gestank, Enge, Anonymität, Kriminalität gehören seit je auch zum städtischen
Leben. Städte sind, um den Begriff von Alexander Mitscherlich aufzunehmen,
zuweilen durchaus auch unwirtliche Orte. Die Vorteile der Stadt waren und sind
nicht gratis zu haben.

Freilich müssen wir uns fragen, ob es die Stadt als geschlossenen und
umgrenzten Lebensraum heute noch gibt. Die Aktualität des Themas "Stadt" könnte
durchaus damit zu tun haben, dass sie sich zu etwas völlig Neuem gewandelt hat.

Die Wurzeln dieses Wandels liegen im letzten Jahrhundert. Damals standen die
Städte im Verhältnis zu ihrem Umland vor einer ähnlichen Situation wie heute
die Schweiz im europäischen Umfeld. Die meisten Städte entschieden sich zur
Öffnung. Sie haben ihre Mauern geschleift, weil sie gemerkt haben, dass der
Schutz, den sie gegen andere errichtet haben, sie selbst eingeengt hat. Um sich
zu entwickeln, mussten sie in einem praktischen und zugleich symbolischen Akt
ihre Fesseln sprengen. Wir bedauern heute, dass dadurch städtebauliche Substanz
verloren ging. Ich denke, dieses Aufbrechen der Ringmauern war nötig, damit die
Städte sich aus der selbstgeschaffenen Enge befreien konnten.

Das änderte sich in der Nachkriegszeit. Die Städte wuchsen über die
Gemeindegrenzen hinaus. Der Agglomerationsgürtel um die Städte wird immer
breiter. Er ist mancherorts bevölkerungsmässig grösser als die Kernstadt. Mehr
als 2/3 der Bevölkerung der Schweiz leben heute in Agglomerationsgebieten.

Gibt es die Stadt heute noch? Als klar umgrenzter Lebensraum ist sie selten
geworden. Wachstum und allumfassende Mobilität haben ihre Grenzen gesprengt.
Sie ist in der Agglomeration aufgegangen. Die einstige Stadt ist zur
"Kernstadt" oder modernistisch zur "city" geworden. Sie ist nurmehr Teil eines
grösseren Ganzen. Stadt und Land haben es nicht einfach, sich in der neuen
Rolle zurechtzufinden.

Öffnet sich ein neuer Graben zwischen Stadt und Land?
Das Wachstum und Ausufern der Agglomerationen wird von den Kernstädten
zunehmend als Belastung empfunden. Familien suchen Wohnungen abseits der
Verkehrsbelastungen und mit Grünflächen. Die guten Steuerzahler wandern ab in
die Vorortsgemeinden, benützen aber weiterhin die Plätze, Museen, Theater,
Schwimmbäder und Parkflächen der Kernstädte. Letztere bleiben attraktiv für
Ungebundene, Kulturliebende, Stadtverbundene. Weniger positiv ausgedrückt: Mehr
und mehr wird die Kernstadt von den drei A geprägt, den Armen, den Alten und
den Ausländern. Sie leidet unter der Last ihrer Zentrumsaufgaben.

Freilich verkennt man in den Städten häufig, dass die Agglomerationsbildung
auch auf dem Land als bedrohend empfunden wird. Entvölkerung der Stadt und
Verstädterung der Landschaft sind ja die zwei Seiten derselben Münze. Auch die
ländliche Identität ist nicht mehr intakt.

Je enger Kernstadt und Agglomerationsgemeinden siedlungsmässig zusammenwachsen,
desto stärker akzentuieren sich die Interessenkonflikte. Innerhalb des eigenen
Kantons wird die Stadtbevölkerung oft vom Land überstimmt. Auch bei
eidgenössischen Abstimmungen ist ein Stadt-Land-Graben festzustellen, der
beispielsweise bei der EWR-Abstimmung und bei der Kleinbauerninitiative
zugunsten der ländlichen Gebiete, beim Zuckerbeschluss und beim Eherecht
zugunsten der städtischen Gebiete entschieden worden ist.

Die Schwierigkeiten, Gehör und Aufmerksamkeit für ihre Probleme zu finden,
hinterlassen bei vielen Städtevertretern Frustration. Die Städte fühlen sich
zunehmend allein gelassen und isoliert in einer Schweiz, die scheinbar die
städtische Wirklichkeit verleugnet.

Damit taucht der älteste eidgenössische Graben, der Stadt-Land-Konflikt, in
neuer, überraschender Konstellation wieder auf. Ja, die Situation von 1847 wird
in Erinnerung gerufen - diesmal aber unter umgekehrten Vorzeichen. Damals
fürchteten die katholischen Landgebiete, in einem Zentralstaat von den Städten
dominiert zu werden. Heute fürchten die Städte, innerhalb des Kantons von den
Landgemeinden und auf eidgenössischer Ebene von den durch das Ständemehr
privilegierten Berg- und Landwirtschaftskantonen dominiert zu werden. Stehen
wir vor einer neuen Runde im Stadt-Land Konflikt?

Stadt und Land: Ein nur scheinbarer Gegensatz
Ich hoffe und glaube es nicht. In der Vergangenheit war ja das Verbindende
zwischen Stadt und Land stets stärker als das Trennende. Auch heute gibt es
zwischen Stadt und Land starke gemeinsame Interessen. Die Kernstädte bieten
eine reiche Palette von Erwerbsmöglichkeiten und ermöglichen den Zugang zu
Bildungs- und Kultureinrichtungen, zu Vergnügen und Erlebnis. Die Landgemeinden
haben alles Interesse daran, dass die entsprechenden Einrichtungen und
Dienstleistungen erhalten bleiben, dass die Verkehrsprobleme der Agglomeration
flächensparend und umweltschonend angegangen und die sozialen Probleme
bewältigt werden. Umgekehrt bildet die Landschaft die grüne Lunge, ermöglicht
sie Erholung, Entspannung und Abwechslung. Kernstadt und umliegende Gemeinden
haben beide ein Interesse daran, dass das Wohnumfeld der Städte intakt bleibt
oder revitalisiert wird, um eine überbordende Siedlungsentwicklung im äusseren
Agglomerationsgürtel zu vermeiden. Weder für die Stadt noch für das Land lohnt
sich deshalb der Alleingang.

Die Städte als Motoren und Bremser des Fortschritts
Die Städte tun gut daran zu erinnern, dass sie einen massgeblichen Beitrag an
das, was die Schweiz heute ist, geleistet haben. In den Städten wurde durch
solides Handwerk und die Vermittlung der Künste und Wissenschaften die
Grundlage für die Industrialisierung der Schweiz gelegt. In den Städten mit
ihren Banken, Versicherungen und Gewerbebetrieben wurde die Entwicklung zur
modernen Dienstleistungsgesellschaft vorbereitet. Auf dem Weg ins
Informationszeitalter sind die Städte die Katalysatoren. Sie sind die Synapsen
einer sich zunehmend stärker vernetzenden Welt.

Freilich waren die Städte in der Vergangenheit nicht nur Motoren, sondern auch
Bremser des Fortschritts. Sie haben lange Zeit die umliegende Landschaft
unterdrückt und deren Bevölkerung demokratische Selbstbestimmung vorenthalten.
Ihr lebendiges Handwerk hat sich in den Zünften zu Kartellen abgegrenzt, welche
Neuzuzüger verhinderten und Märkte abschotteten.

Der Fortschritt lässt sich indessen durch Verkrustungen nicht aufhalten,
sondern organisiert sich darum herum. Die Industrialisierung erfolgte in der
Schweiz nicht ausschliesslich in den Städten, sondern oft in deren grösserem
Umfeld, beispielsweise im Zürcher Oberland. Der "arc jurassien" war im 19.
Jahrhundert das "Silicon valley" der damaligen Uhrenindustrie, und ähnliches
gilt für die Textilindustrie und die Ostschweiz.

Die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft und die wachsende Bedeutung der
Informatik scheinen in neuerer Zeit den Zentren wiederum Standortvorteile zu
verschaffen. Finanzplätze und Versicherungen, Kommunikationsberatung und
Marketing, Sortwareentwicklung und Design sind Tätigkeiten, die stark vom
Fermentierungsprozess in den Kernstädten profitieren. Doch herrscht auch
weltweit ein grosser Standortwettbewerb, und die nicht genutzten Chancen von
heute können die Ursache des Niedergangs von morgen sein. Und zum andern stehen
die Kernstädte mit den umliegenden Gemeinden in Konkurrenz um die Standortgunst
der Firmen.

Die Städte im Test
Kein Zweifel: die Städte sind heute einem harten Test unterworfen. Zu den
Problemen der Vergangenheit sind in den letzten 10-20 Jahren ganz neue
Herausforderungen getreten. Einige Stichworte mögen genügen:

*	Der hohe Anteil von Rentnerinnen und Rentnern erfordert den Aufbau
spital- und altersheimexterner Betreuungsnetze;
*	Während gesamtschweizerisch an den Schulen 22 Prozent Ausländer sind,
gibt es in Grossstädten Schulen mit Anteilen von 50 und mehr Prozent.
*	Brachliegende Industrieflächen rufen nach flexibler Um- und Neunutzung
im Spannungsfeld zwischen Wohn- und Geschäftsinteressen.
*	Vandalismus, Sprayereien oder die illegale Entsorgung von Abfällen
deuten auf einen Zerfall an Gemeinsinn hin, der vor allem die Städte trifft.

Diese Auswahl von Problemen ist nicht abschliessend. Neu ist zusätzlich die
Finanzknappheit der öffentlichen Hand. Zwischen den zu erfüllenden Aufgaben und
den von den Stimmbürgern gutgeheissenen Mitteln öffnet sich eine Schere.

Die Städte werden damit zu eigentlichen Laboratorien für die Stadterneuerung
und ein bürgernahes und effizientes Management. Eine zuweilen hektische Suche
nach neuen Management- und Organisationsformen hat eingesetzt. Getestet werden
neue Konzepte und Ideen wie Controlling, New Public Management und Evaluation.

Im Kampf um ein besseres Problemmanagement sind die Städte Konkurrenten und
Partner. Konkurrenten deshalb, weil sie sich um die gleichen Wohn- und
Arbeitsplätze bewerben. Zwischen den Städten gibt es bekanntlich seit alter
Zeit Rivalitäten, (nicht nur während der Basler Fasnacht).

Mehr noch als Konkurrenten sind die Städte aber Partner. Davon legt der
Städteverband und die durch ihn begründete Zusammenarbeit beredt Zeugnis ab. In
zäher und zielstrebiger Arbeit ist es dem Städteverband gelungen, ein
Bewusstsein für die städtischen Probleme zu schaffen und das Verständnis für
die Anliegen der Stadtgebiete zu erhöhen.

Mehr und mehr können Schweizer Städte aber auch vom Ausland lernen. Die
Liverpooler Drogenpolitik, das Road pricing der Stadt Bergen, das Management
der Stadt Tilburg oder die an private Institutionen vergebene Altershilfe der
Stadt Malmö sind Beispiele für Lösungen, die auch in der Schweiz auf ihre
Tauglichkeit geprüft wurden und werden.

Die Städte und ihr Umfeld: Unterwegs zu einer neuen Partnerschaft
Die Städte sind indessen noch an einer weiteren Front herausgefordert, nämlich
in ihrer Aussenpolitik. Die rasanten Veränderungen in ihrem Umfeld haben zur
Folge, dass die Lebensbezüge der Menschen und die Gemeindegrenzen je länger je
weniger übereinstimmen. Die Städte spüren die neuen soziologischen und
siedlungsmässigen Gegebenheiten zuallererst beim Portemonnaie, d.h. bei den
Gemeindefinanzen. Dort drückt ihnen vor allem, aber nicht ausschliesslich der
Schuh. Sie möchten die umliegenden Gemeinden dazu bewegen, ihre Zentrumlasten
mitzutragen. Sie versuchen, ihre verkehrsbedingten Umweltprobleme durch
Einschränkungen des Privatverkehrs zu vermindern und stossen dabei nicht selten
auf Probleme des kantonalen Bau- und des eidgenössischen Verkehrsrechts. Kurz:
die Städte müssen sich notgedrungen mit ihren übergeordneten politischen
Rahmenbedingungen auseinandersetzen.

Wenn ich vorher vom Laboratorium "Städte" sprach, dann trifft das sehr stark
auf die institutionelle Zusammenarbeit zu. Hier gilt: viele Wege führen nach
Rom. Rechtlich und organisatorisch-betriebswirtschaftlich gibt es eine breite
Palette von Lösungen. Ich möchte einige Beispiele aufführen: Basel-Stadt und
Basel-Landschaft haben die Finanzierung und Führung der Universität mit einem
bilateralen Vertrag geregelt. Stadt und Kanton Luzern führen gemeinsam mit den
umliegenden Gemeinden das Stadttheater. Am weitesten sind die Bestrebungen zur
Zusammenarbeit wohl im Kanton Freiburg gediehen. Die Agglomerationen des
Kantons sollten den Rahmen für eine eigene, umfassende rechtliche Struktur mit
demokratischer Legitimation erhalten. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass gerade
der aufstrebende Dienstleistungs- und Industriekanton Freiburg, der historisch
kaum durch Probleme zwischen Stadt und Land belastet ist, als erster
institutionelles Neuland betreten hat.

Bund und Städte: Auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht
Die Aussenbeziehungen der Städte betreffen neben ihrem unmittelbaren Umfeld und
dem Kanton aber noch einen weiteren Partner, den Bund. Die Städte bemängeln ihr
gegenwärtiges Statut. In der Bundesverfassung findet sich tatsächlich keine
Erwähnung der Städte. Dieses verfassungsrechtliche Schweigen kontrastiert
eigenartig mit der Machtfülle der Hauptorte im "Ancien régime".

Vergleicht man die Situation, welche die Städte 1798 hatten, mit ihrer Stellung
in der Bundesverfassung von 1848, so muss in Bezug auf ihre Situation von einer
wahren Revolution gesprochen werden. Die Hauptorte wurden aus ihrer
Vormachtsstellung gestürzt. Diese Änderung hat natürlich sehr viel mit der
inzwischen eingeführten Gleichheit des Stimmrechts zu tun. Das Ende der
Privilegien der Städte hat ihre weitere Entwicklung aber nicht behindert.
Erstaunlicherweise ist gerade das Gegenteil eingetreten, eine Erfahrung, die
uns auch im Zusammenhang mit der Deregulierungsdiskussion zu denken geben
müsste. Die von der Bundesverfassung garantierte Niederlassungsfreiheit
sicherte den Städten nämlich den Zustrom talentierter Handwerker und Arbeiter
und führte zusammen mit dem Eisenbahnbau zu ihrer Blüte.

Die Revolution im Statut der Städte hatte Folgen, welche noch heute spürbar
sind. Wurde vor 1798 der Kanton durch den Hauptort mediatisiert, so war ab 1848
die Lage umgekehrt: Der Grad ihrer Autonomie wurde völlig von der Gnade des
Kantons abhängig.

Allerdings war ihre tatsächliche Situation um vieles besser, als diese
drastische Schilderung denken liesse. Denn infolge ihres Bevölkerungsgewichts
hatten die Städte viele Vertreter aus den eigenen Reihen im Kantonsrat, in der
Kantonsregierung und auch in den eidgenössischen Räten. Über die
Stadtexekutiven führte die politische Karriere ab und zu bis in den Bundesrat.
Über die demokratische Vertretung konnten und können die Städte auch ihre
Interessen wahrnehmen.

Hier ist aber eine eigentliche Trendwende auszumachen. Seit den siebziger
Jahren sinkt die Bevölkerung der meisten grossen und grösseren Städte.
Ausnahmen wie Sion, Köniz oder Emmen bestätigen die Regel. Ausserdem wird die
Vertretung der Stadtexekutiven in den eidgenössischen Räten aufgrund der hohen
Arbeitsbelastung und des Verbots von Doppelmandaten zunehmend seltener. Während
die Städte heute ihren Anteil an der schweizerischen Geschichte und Gegenwart
einfordern, ist paradoxerweise das demographische und vor allem das politische
Gewicht der grösseren Städte am Sinken.

Ich wage aber zu behaupten, dass die Bedeutung der Städte und namentlich der
Kernstädte für unser Land grösser ist als ihre Bevölkerung und Stimmkraft. Die
Städte finden dann auch steigendes Gehör, nicht nur in den Medien, sondern auch
beim Bund. In verschiedenen Bundesgesetzen wird direkt auf die Gemeinden Bezug
genommen. Zwischen Bund und Städten hat sich eine pragmatische Zusammenarbeit
angebahnt. Mein Justiz- und Polizeidepartement hat im Frühjahr bei allen
Departementen eine Umfrage zu den Direktbeziehungen Bund-Gemeinden sowie den
Perspektiven der Zusammenarbeit durchgeführt. Zahlreiche Ämter haben auf
intensive Direktkontakte zu den Städten hingewiesen. Erwähnt wurden sie
beispielsweise in den Bereichen Kultur, Umweltschutz, Drogenpolitik, Statistik,
Sport, Personal, Verkehr, Energie, Ausländerpolitik, Wohnbauförderung und
Raumplanung. Im Rahmen der Zusammenarbeit werden etwa Städtevertreter bei der
Vorbereitung von Erlassen einbezogen, oder gibt es intensive Kontakte beim
Vollzug von Massnahmen, so zum Beispiel beim Zivilschutz.

Paradefall einer intensiven Zusammenarbeit über drei Ebenen ist die
Projektorganisation "Aktuelle Drogenfragen", die im Zusammenhang mit der
Schliessung des Zürcher Letten ins Leben gerufen worden ist. In die
Zusammenarbeit einbezogen werden auf strategischer Ebene die Exekutiven der
Stadt und des Kantons Zürich sowie die dreiköpfige Drogendelegation des
Bundesrats. Die Projektorganisation kann vor allem die kontinuierliche
drogenpolitische Diskussion gewährleisten und die Öffentlichkeit über deren
Ergebnisse auf dem Laufenden halten. Sie hat zu einer besseren Konzertierung
aller drei Ebenen geführt, ist aber auch - das darf hier nicht verschwiegen
werden - für alle Beteiligten sehr aufwendig.

Flexible und unbürokratische Zusammenarbeit
Dieses Beispiel und die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die Beziehungen
Bund-Kantone-Städte in den letzten zehn Jahren eine neue Qualität erhalten
haben. Kräfte und Tendenzen machen sich bemerkbar, die aus der Privatwirtschaft
durchaus bekannt sind. Enthierarchisierung und Flexibilisierung lauten die
Stichworte. Die Zusammenarbeit verläuft nicht mehr primär entlang den
hierarchischen Linien, wenn sie auch weiterhin darin eingebettet ist, als
vielmehr problem- und projektbezogen. Im Sinne einer variablen Geometrie werden
auch die Städte in die Zusammenarbeit einbezogen. Konturen einer neuen
föderalistischen Partnerschaft sind erkennbar.

Was die Bundesebene angeht, so sind in diese Zusammenarbeit sehr viele Ämter
eingeschlossen. Die Frage ist legitim, ob es zur Fortführung und Intensivierung
dieser Entwicklung nicht eine institutionelle Plattform braucht. Sie könnte als
Gesprächspartner, Informationsdrehscheibe und Katalysator für die
Berücksichtigung der Städteanliegen in der Bundesverwaltung wirken. Von Ihrem
Verband wurde die Ernennung eines Staatssekretärs für Städte vorgeschlagen. Die
Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Einführung dieses neuen Instruments zur
Entlastung des Bundesrats und die Finanzprobleme des Bundes lassen aber noch
die Prüfung weiterer Möglichkeiten für ratsam erscheinen. Denkbar wäre etwa die
Ernennung eines oder einer Delegierten für kommunale und städtische Fragen. Ein
weiteres Forum für den Dialog über Städtefragen auf Bundesebene könnte ein Rat
für die räumliche Entwicklung sein. Das Bundesamt für Raumplanung hat im Rahmen
des Berichts über die "Grundzüge der Raumordnung Schweiz" die Schaffung eines
solchen Rates vorgeschlagen. Er soll den Gedanken- und Informationsaustausch
erleichtern und zu einer vermehrten gegenseitigen Abstimmung raumrelevanter
Entscheide beitragen. In der Vernehmlassung ist dieser Vorschlag von den einen
freudig begrüsst, von den andern mit Skepsis oder Ablehnung aufgenommen worden.

Institutionelle Fragen können leicht zu Prestigefragen werden. Darob droht das
Wichtigste vergessen zu werden. Es braucht nämlich für die Anliegen der Städte
eine neue Sensibilität. Ansätze für eine solche Sensibilität sind deutlich
erkennbar - auch und vor allem bei den Beamten an der Front, und das ist gut
so.

Die Zukunft der Städte in einer Reformperiode
Die Suche der Städte nach ihrer neuen Stellung im bundesstaatlichen Gefüge
fällt in eine Zeit wichtiger Reformvorhaben auf Bundesebene. Im Juni dieses
Jahres hat der Bundesrat die Vernehmlassung über die Verfassungsreform
eröffnet. Darin wird das geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht
verständlich dargestellt, systematisch geordnet und in Dichte und Sprache
vereinheitlicht. Gleichzeitig wurden Reformvorschläge für die Bereiche
"Volksrechte" und "Justiz" vorgelegt. Die Nachführung enthält naturgemäss keine
Bestimmung über die Städte. Als wichtige soziale Realität sind die Städte aus
der Verfassung weitgehend ausgeklammert. Dies ist indirekt die Folge einer
staatsrechtlichen Grundordnung, welche der Erhaltung der kantonalen Autonomie
und Eigenständigkeit sehr grosse Bedeutung beimisst. In der Bundesverfassung
ist weitgehend die Realität des Bundes abgebildet; diejenige der Kantone findet
sich in den 26 Kantonsverfassungen.

Die Vernehmlassungen, auch die Ihre, werden gegebenenfalls Gelegenheit geben,
die Frage eines Einbezugs der Städte in die Bundesverfassung zu überdenken.
Erfolgsversprechender als eine ausschliessliche Bestimmung über die Städte
könnte eine Regelung über die Gemeinden als Ganzes sein. Ständerat Loretan und
Nationalrat Züger haben eine gleichlautende Motion eingereicht. Sie verlangen
den Einbezug von Bestimmungen in die Bundesverfassung,

*	wonach sich Bund, Kantone und, als Bestandteile der Kantone, die
Gemeinden in die Aufgaben des gesamtstaatlichen Gemeinwesens teilen;
*	wonach der Bund bei der Schaffung von neuen Rechtsgrundlagen und bei
der Planung und Verwirklichung von öffentlichen Werken den möglichen
Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden Rechnung trägt und
*	wonach die Gemeindeautonomie gegenüber Bund und Kantonen gesichert
werden soll.

Die geforderten Änderungen gehen über eine Nachführung der Bundesverfassung
klar hinaus. Namentlich der dritte Punkt, die bundesverfassungsrechtliche
Sicherung der Gemeindeautonomie, wäre eine recht tiefgreifende Neuerung und
würde das Verhältnis aller drei Ebenen verändern. Soweit ich sehe, wollen die
beiden Parlamentarier die Gemeindeautonomie sowohl gegen Eingriffe des Kantons
wie des Bundes schützen. Dies würde gegebenenfalls eine verfassungsrechtliche
Überprüfung von Erlassen des Bundes erfordern. Voraussetzung dafür ist
voraussichtlich die bundesrechtliche Umschreibung eines Kerngehalts an
kommunaler Eigenständigkeit - ein recht weitgehender Eingriff in die kantonale
Organisationsautonomie. Der Vorstoss hat deshalb im Bundesrat zu erheblichen
Diskussionen geführt, und es sind grosse Bedenken gegenüber der Ausdehnung der
verfassungsrechtlich bisher zweigliedrigen auf eine dreigliedrige Staatsordnung
laut geworden. Der Bundesrat ist aber bereit, den Vorstoss in Form eines
Postulats entgegenzunehmen. Sein Inhalt berührt die Reformschwerpunkte "Justiz"
und "Föderalismus". In letzterem Bereich hat die Konferenz der
Kantonsregierungen eine Arbeitsgruppe gebildet, welche Vorschläge unterbreiten
und namentlich auch die Frage des Einbezugs der Städte und Gemeinden prüfen
kann. Soweit die Vorschläge mit Verfassungsänderungen verbunden sind, ist über
deren Einbezug in die Verfassungsreform noch zu diskutieren. Eine separate
Behandlung dürfte aber wahrscheinlicher sein.

Ein zweites wichtiges Reformprojekt mit Bezug zu den Anliegen der Städte ist
die Neuordnung des Finanzausgleichs. Sie wird von den kantonalen
Finanzdirektoren und dem Eidgenössischen Finanzdepartement gemeinsam getragen.
Ziel ist die Entschlackung des Vollzugsföderalismus und die Verstärkung der
Selbstverantwortung und Eigenfinanzierungskraft der Kantone. Als Kriterium für
allfällige Standortnachteile werden erstmals auch Zentrumslasten
berücksichtigt. Damit ist ein wichtiges Anliegen der Städte aufgenommen worden.
Weitere Probleme harren indessen noch einer Lösung. Das Ersetzen
zweckgebundener durch freie Finanzbeiträge wird innerhalb der Kantone die Frage
nach der Gewichtung der städtischen Finanzkraft mit aller Schärfe wieder
aufleben lassen. Ich verstehe, wenn dieses Szenario als Bedrohung empfunden
wird. Die Zuteilung vermehrter freier Mittel an die Städte - verbunden mit
einer Anpassung des kantonalen Finanzausgleichs - könnte indessen auch Chancen
für mehr Spielräume in der städtischen Entwicklung eröffnen.

Es ist sinnvoll und legitim, dass die Städte ihre Vorstellungen in die
aktuellen Reformprojekte einbringen. Andere Staaten mussten in der
Nachkriegszeit - als Folge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, des
nachfolgenden starken Wachstums oder des industriellen Strukturwandels - ihre
Städte mit Sanierungsprogrammen unterstützen. Die Schweizer Städte waren
demgegenüber lange sehr pflegeleicht. Aber der wirtschaftliche Strukturwandel
hat seit den siebziger Jahren auch einzelne Städte wie Biel oder
La-Chaux-de-Fonds hart erfasst. Der Konjunktureinbruch hat sich gerade in den
Städten durch hohe Arbeitslosenzahlen bemerkbar gemacht. Auch in unseren
Grossstädten sind erste Anzeichen von Zerfall erkennbar. Die Belastungen durch
Abgase, Lärm, Abfälle und Flächenverbrauch für den Verkehr machen zu schaffen.

Für einen Föderalismus des inneren Ausgleichs
Es wäre aus meiner Sicht aber der Sache nicht gedient, wenn nun die Städte
gleich den Charakter nationaler Notstandsgebiete erhalten würden.
Glücklicherweise verlangt dies auch niemand. Wenn wir den Blick auf die Chancen
und Entwicklungspotentiale unserer Städte richten, besteht auch kein Grund zum
Jammern, sondern viel eher zum kreativen, aktiven Handeln.

Wir müssen vom Föderalismus der Bittsteller, der unser Land geworden ist, zu
einem Föderalismus des inneren Ausgleichs gelangen. Dies bedeutet, dass
Probleme nicht durch Forderungen an die nächsthöhere Ebene, sondern möglichst
unter den betroffenen Partnern gelöst werden. Die Städte sind aufgerufen, ihre
kreativen Kräfte zu mobilisieren und die umliegenden Gemeinden und Kantone für
ihre Anliegen zu gewinnen. Ich weiss, dass dies ab und zu sehr schwierig ist.
Es wäre indessen gefährlich, wenn der Bund sich dafür einspannen liesse, den
Anliegen der Städte bei den Kantonen mehr Gewicht zu verschaffen. Gelingt es
den Städten, die Kantone und umliegenden Gemeinden davon zu überzeugen, dass
die Bewältigung der urbanen Probleme und Herausforderungen im Interesse aller
liegt, dann werden diese auch Hand zu Lösungen bieten.

Die heutigen Städte und Agglomerationen sind für den Bund aufgrund ihres
historischen Erbes, ihrer bedeutsamen Rolle als urbaner Lebensraum,
Wirtschaftsstandort, als Ort sozialer, gesellschaftlicher und kultureller
Begegnung von nationalem Interesse. Der Bund kann und darf sich nicht im Sinne
eines falsch verstandenen Subsidiaritätsprinzips abseits stellen und warten,
bis die Probleme in den Kernstädten ein unerträgliches Ausmass erreicht haben.
Bei nationalen Problemen sollte der Bund nicht nur "Feuerwehr" spielen. Da
zahlreiche Bundesmassnahmen direkte und indirekte Auswirkungen auf die Städte
haben, wird der Bund seine Verantwortung wahrnehmen. Er wird versuchen,
sorgsam, vorausschauend und in Tuchfühlung mit den Städten und Gemeinden deren
Anliegen möglichst frühzeitig einzubeziehen und bei der Gestaltung der Erlasse
und deren Vollzug zu berücksichtigen. Schneller und kooperativer als bisher
sind neue Ideen der Städte aufzugreifen - ich denke etwa an
Verkehrslenkungsmassnahmen wie das Road pricing -, damit die Grundlagen für
deren Verwirklichung geschaffen werden können. Voraussetzung dafür ist ein
Bewusstsein der Bedeutung, welche die Städte und Agglomerationen heute haben,
und der Gefährdungen, die sich ihnen stellen. Das Umdenken, das hierfür nötig
ist, hat eingesetzt, ist aber noch nicht abgeschlossen.

Ich habe eingangs auf den imposanten Spannungsbogen zwischen der Stadt Sion und
den umgebenden Bergen hingewiesen.

Beide Wirklichkeiten gehören unteilbar zur Schweiz. Unsere gemeinsame Aufgabe
ist es, dafür zu sorgen, dass sich Stadt und Land nicht weiter entfremden,
sondern einander mehr und besser ergänzen.