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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Sperrfrist: Dienstag, 31.10.1995, 10.00 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort

Sperrfrist: Dienstag, 31.10.1995, 10.00 Uhr

Reform der Bundesverfassung

Ziele und Stossrichtung
der Verfassungsreform

*****

Referat
von Bundesrat Koller,
Vorsteher des Eidg. Justiz- und Polizeidepartementes

an der

 HSG - Perplex - Fachtagung
vom
31. Oktober 1995

Anrede

1)	Einleitung

Unser Staat beruht auf drei Ideen - drei Ideen, die sein Wesen ausmachen, ohne
die die Schweiz kaum das geworden wäre, was sie heute ist: Erstens die Idee der
direkten Demokratie, die dem Volk Mitwirkungsrechte in allen wesentlichen
politischen Entscheiden zugesteht. Zweitens die Idee des Föderalismus: durch
die bundesstaatliche Gliederung soll die Macht des Staates geteilt und der
Molochstaat bürgernah gemacht werden. Drittens schliesslich die Idee des
Schutzes der Minderheiten und des gerechten Ausgleichs der verschiedenen Kräfte
und Interessen im Land.

Aus diesen drei staatsleitenden Grundsätzen ist eine politische Kultur
entstanden, die ganz entscheidend zur Identität unserer Willensnation
beigetragen hat. So hat sich die Schweiz zu einem der wenigen wirklich
erfolgreichen, demokratischen Vielvölkerstaaten entwickeln können. Der
international anerkannte Politologe Prof. Deutsch hat dies wie folgt
formuliert: In der Schweiz ist etwas geleistet worden durch Entscheidungen,
durch eine Geschichte, die Menschen gemacht haben, die zeigt, dass es möglich
ist, in einer langen gemeinsamen Zeit grosse Leistungen ganz verschiedener
Regionen und Sprachgemeinschaften zusammenzuhalten und im Laufe der Zeit einen
gemeinsamen Volkscharakter zu schaffen, eine gemeinsame politische Kultur, ein
zusammenhaltendes Volk, das vier Sprachen spricht. (Hört sich das übrigens
nicht an, wie ein Versprechen und ein Leistungsauftrag für Europa?). Dieses
staatspolitische Ideal der Schweiz gilt es auch in einem veränderten
internationalen und nationalen Umfeld zu erhalten, damit die Schweiz auch
künftigen Herausforderungen gewachsen sei.

Die geltende Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft stammt aus
dem Jahre 1874. Obschon sie damit eine der ältesten in Kraft stehenden
Verfassungen der Welt ist, wird kaum bestritten, dass sie als Fundament der
Eidgenossenschaft nach wie vor tragfähig, in wichtigen Pfeilern, wie der
demokratischen und föderativen Ausgestaltung, sogar durchaus aktuell und
zukunftsweisend ist. Die im Sommer der Öffentlichkeit zur Diskussion
unterbreitete Verfassungsreform zielt deshalb nicht auf eine radikale
Umgestaltung unseres Staatsgebäudes. Ziel ist vielmehr eine Erneuerung der
Substanz der schweizerischen Verfassung, um den Kern der schweizerischen
Staatsidee auch für die Zukunft lebendig zu erhalten. Das Verfassungshaus
Schweiz soll so renoviert werden, dass wir es auch nach abgeschlossener
Renovation als Elternhaus wiedererkennen. Wir sollen aber auch überzeugt sein,
dass dieses Verfassungshaus für die Bedürfnisse unserer Zeit und der Zukunft
gestaltet und eingerichtet ist. Daher haben wir als Motto der laufenden Reform
der Bundesverfassung gewählt: Bewährtes erhalten - Zukunft gestalten - Schweiz
stärken.

Kommen wir gleich zur spontanen, oft geäusserten Frage und zum gefühlsmässigen
Einwand: Gibt es denn eine Grundwelle für eine Verfassungsreform? Nein, dies
gibt es nicht. Gab es auch in den Kantonen nicht. Gab es, wie uns die
Verfassungshistoriker berichten, auch in der Zeit der Schaffung des
Bundesstaates im letzten Jahrhundert nicht. Es braucht sie auch nicht.

Sicher: es braucht die Einsicht einer breiten politischen Öffentlichkeit in die
Notwendigkeit der Verfassungsreform. Es braucht auch die innere Bereitschaft,
die sichtbaren Mängel am Verfassungshaus Schweiz lieber rechtzeitig zu sanieren
als aus Angst vor der Veränderung das Haus zerfallen zu lassen. Sie haben den
Medien entnehmen können, dass inzwischen über 110000 Verfassungsentwürfe
versandt worden sind; der grosse Teil auf Bestellung. Auch das belegt noch
keine Grundwelle, aber doch ein Interesse breiter Bevölkerungsschichten, über
den Zustand und die Zukunft der Schweizerischen Eidgenossenschaft, unseres
Staates nachzudenken und zu diskutieren. Diese Zeichen gilt es konstruktiv im
breiten Sinne des Wortes aufzunehmen. Es geht darum, gerade vorausschauend
Reformen in die Wege zu leiten, dass auch der Verfassungsstaat Schweiz auf der
Höhe der Zeit bleibt.

2)	Zum Revisionsbedarf

Die Verfassung als rechtliche Grundordnung eines Staatswesens hat eine doppelte
Aufgabe zu erfüllen. Sie ist gleichermassen darauf angelegt, öffentliche Gewalt
zu begründen und sie zu begrenzen: Auf der einen Seite legt die Verfassung
staatliche Handlungsbefugnisse fest und überträgt dem Staat Verantwortung für
das Wohl der Allgemeinheit und der Benachteiligten. Auf der anderen Seite zieht
sie dem staatlichen Handeln im Interesse der Freiheit und der Rechte des
Individuums Schranken.

Es liegt in der Natur der Sache, dass diese beiden Grundfunktionen der
Verfassung nicht harmonisch nebeneinander stehen. Es ergeben sich zwangsläufig
Spannungen. Die in der Verfassung verankerten sozial-, umwelt- und
wirtschaftspolitischen Aufgaben des modernen Staates treten in Konflikt mit den
Freiheiten des Unternehmers und dem Grundsatz einer freiheitlichen,
marktwirtschaftlichen Ordnung.

Die Verfassung kann die fundamentalen Spannungen, die im modernen Staat zutage
treten, nicht beseitigen. Wer anderes erwartet, überfordert das
Verfassungsrecht. Staatliche Aufgaben und private Freiheiten zu einem gegebenen
Zeitpunkt miteinander in Einklang zu bringen, ist im wesentlichen eine Sache
der Gesetzgebung, ist Sache des im politischen Entscheidungsprozess zu
findenden Konsenses.

Beim Blick auf unsere heutige Bundesverfassung begegnen uns allerdings neben
diesen letztlich unauflöslichen, immanenten Grundspannungen auch andere,
sozusagen hausgemachte Spannungen. Die Bundesverfassung ist Spiegelbild des
wirtschaftlichen und sozialen Wandels der Eidgenossenschaft vom vorwiegend
agrarisch geprägten Land zum modernen Hochleistungsstaat einer komplexen,
international vernetzten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Insgesamt
136 Teilrevisionen - viele davon im Wirtschaftsbereich - sowie die Anerkennung
ungeschriebenen Verfassungsrechts haben es mit sich gebracht, dass die
Bundesverfassung sich heute als unübersichtliches Flickwerk präsentiert, das
den Anforderungen an ein klares, zeitgemässes Grundgesetz nicht mehr zu genügen
vermag. Oft findet sich darin nicht einmal mehr der erfahrene Verfassungsjurist
ohne Mühe zurecht. Die unübersichtliche Verfassung wird zum Nährboden für das
unerfreuliche Phänomen eines rein rhethorisch-politischen Verfassungsgebrauchs.
Man erinnert sich der Verfassung besonders dann, wenn sie einem nützt.

Die Verfassung legt die Spielregeln und die Rahmenbedingungen für das
staatliche Handeln fest; sie steuert das staatliche Handeln. Die Amerikaner
bezeichnen denn auch die Verfassung als framework for Government.

Spielregeln können nur zum Tragen kommen, wenn man sie kennt. Unsere
Bürgerinnen und Bürger kennen die Verfassung nicht mehr. Zwar ist es mit
Teilrevisionen gelungen, jeweils notwendige politische Änderungen einzubauen:
das Proporzwahlrecht, das Staatsvertagsreferendum, die Sozialversicherungen,
die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Mehrwertsteuer. Aber die
Proportionen stimmen längst nicht mehr. Wenn Sie die heutige Verfassung lesen,
gewinnen Sie den Eindruck, wir seien ein Volk von Alkoholikern und Militaristen
und unsere Wirtschaft sei weitestgehend vom Staat dirigiert.

Ganze 2 Seiten sind heute dem Alkohol gewidmet. Wir reduzieren sie auf 2
Zeilen. 11 Artikel sind dem Militär gewidmet. Neu sind es noch 4 Bestimmungen.

Andererseits fehlt vieles, was wir in der Verfassung gerne finden würden. So
fehlt vor allem ein umfassender Grundrechtskatalog. Unsere geschriebene
Verfassung sagt beispielsweise nichts zur Menschenwürde, zum Willkürverbot, zu
Treu und Glauben, zum Recht auf Leben, zum Schutz des Familien- und
Privatlebens, zur Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit, zur
Versammlungsfreiheit, zur Kunstfreiheit, zum Datenschutz oder zu den Schutz-
und Verfahrensgarantien, wie sie die EMRK enthält. Sie suchen vergebens ein
Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Wettbewerb oder eine Bundeskompetenz zur
Aussenpolitik. Dafür ist die Rede von Militärkapitulationen, von den
"Auswanderungsagenturen", von der "Verwendung der Kinder in den Fabriken" (!),
von Brauteinzugsgebühren, von Zugs- und Abzugsrechten, vom freien
Durchmarschrecht der eidgenössischen Truppen und - trotz neuem Kindes- und
Eherecht - hält es die Verfassung immer noch mit der "väterlichen Gewalt".

Das sind ein paar wenige, an sich formelle Beispiele, die Ihnen aber zeigen,
dass unsere Verfassung durch die Jahrzehnte in eine innere Schieflage gekommen
ist: Sie atmet den Geist und die Sprache des letzten Jahrhunderts. Die
Verfassung ist den aktuellen Herausforderungen kaum mehr gewachsen; sie vermag
das tägliche staatliche Handeln nicht mehr ausreichend zu lenken. Sie hat damit
an Wert und Wertschätzung verloren. Die innere Kohärenz fehlt und damit ihre
Ueberzeugungkraft. Der grosse Verfassungsrechtler Walter Burckhardt schrieb
schon 1931 in das Vorwort seines Kommentars zur Bundesverfassung: "Seit 1871
sind die Revisionen nicht nur auf einen besonderen Gegenstand begrenzt
geblieben; sie sind auch, und stets mehr, aus einer begrenzten Betrachtung
heraus geboren worden. Man hat den Zusammenhang mit dem Ganzen, das eine
Verfassung ist, übersehen, dagegen das einzelne, das gerade zu regeln war, mit
beschränkter Aengstlichkeit ausgestaltet; man überbot sich in Einschränkungen
und Vorbehalten und hatte nicht mehr den Mut, einen Gedanken ganz
durchzuführen."

Nun stehen wir aber vor dem 3. Jahrtausend und unsere Aufgabe ist es, die
Verfassung so zu gestalten, dass sie in Zukunft wieder lebendiges Grund-Gesetz
zu sein vermag. Eine neue, in sich konsistente Verfassung tut daher not.

3)	Der Nachführungsauftrag

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Seit Mitte der 60er Jahre steht die
Totalrevision der Bundesverfassung auf der politischen Traktandenliste. Die
umfangreichen Vorarbeiten, insbesondere Bericht und Verfassungsentwurf der
"Expertenkommission Furgler", sind Ihnen bekannt.

Im Jahre 1987 haben die Eidgenössischen Räte förmlich beschlossen, die
Totalrevision einzuleiten. Gemäss dem Auftrag der Bundesversammlung soll die
neue Verfassung das geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht
nachführen, verständlich darstellen, systematisch ordnen und in Dichte und
Sprache vereinheitlichen. Dieser Auftrag, das geltende Verfassungsrecht
nachzuführen, die Staatswirklichkeit also so darzustellen, wie sie wirklich
ist, ist  keineswegs eine geringe, juristisch-technische, sondern eine
notwendige, eminent politische Aufgabe. Denn sie verschafft dem vielen, nicht
leicht auffindbaren ungeschriebenen Verfassungsrecht eine neue demokratische
Legitimation. Auf diese nachgeführte Verfassung - sie liegt nun im Entwurf vor,
ich fordere Sie wirklich auf, einmal einen Blick hineinzuwerfen -, auf diese
nachgeführte Verfassung dürfen wir durchaus stolz sein, weil sie in der Sprache
unserer Zeit das Wesen unseres Staates, unsern nationalen Konsens, das was
unsern Bundesstaat Schweiz ausmacht, zum Ausdruck bringt. Das ist schon viel!
Das fördert in einer Zeit, wo vieles auseinanderstrebt, unsern nationalen
Zusammenhalt.

4)	Nicht alles auf einmal: Verfassungsreform als offener Prozess

Dennoch: die politische Öffentlichkeit würde heute nicht verstehen, wenn eine -
auch nur nachgeführte - neue Verfassung nicht auch Antworten enthielte auf
dringende Reformanliegen, die mit der Verfassung selbst unmittelbar in
Beziehung stehen. Es galt aus diesen Gründen, ein Verfassungsreformkonzept zu
schaffen, das den wichtigen Nachführungsauftrag des Parlamentes mit hängigen
Reformbedürfnissen verbindet. Aus diesem Bedürfnis heraus ist das Konzept der
Verfassungsreform als offener Prozess entstanden. Das neue Konzept nimmt
bewusst Abstand von der Idee, dass alle Probleme gleichsam in einem einzigen
Aufwisch (EICHENBERGER) gelöst werden können und setzt den Schwerpunkt auf das
prozesshafte Vorgehen in Etappen. Die nachgeführte Bundesverfassung bildet
dabei gleichermassen den erneuerten Rahmen, in den - wie im Baukastensystem -
je nach Bedürfnis und Reifegrad - alte Bauteile durch neue ersetzt werden
können. Die Nachführung erhält auf diese Weise einen neuen, zusätzlichen und
besonderen politischen Stellenwert, weil sie günstige systematische, rechtliche
und politische Voraussetzungen schafft für materielle Reformen. Die Nachführung
ist damit nicht mehr Abschluss, sondern Tragfläche und Startbahn der
Verfassungsreform.

Reformbedarf gibt es zweifellos auf verschiedenen Gebieten, vorab im
institutionellen Bereich: Regierungsreform, Parlamentsreform,
Föderalismusreform. Auf all diesen Gebieten sind Arbeitsgruppen am Werk, um den
Reformbedarf zu klären und Reformvorschläge zu erarbeiten. Unter dem Aspekt der
Handlungsfähigkeit des Staates wie auch unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit
und Berechenbarkeit unseres politischen Handelns nach innen und aussen stehen
heute die Reform der Volksrechte und der Justiz im Vordergrund. Volksrechte und
Justiz sind Schlüsselbereiche für das Verständnis der direkten Demokratie. Jede
Reform ist deshalb mit hohem Respekt für die unser Staatswesen prägenden
Eigenheiten und mit Feingespür für die damit verbundenen politischen
Sensibilitäten anzugehen. Das darf uns allerdings nicht dazu verleiten, die
sichtbaren Defizite in diesen Bereichen einfach zu übersehen, weil jeder
Versuch einer Änderung sofort als Abbau an Rechten oder als Politisierung der
Justiz gebrandmarkt werden könnte. Es ist Aufgabe einer Regierung, den
Reformbedarf nicht anstauen zu lassen, sondern jene Reformvorschläge zu
unterbreiten, die sie im Interesse der Erhaltung einer funktionsfähigen und
lebendigen direkten Demokratie für notwendig erachtet. Darüber soll nun die
Diskussion stattfinden.

5)	Die Reform der Volksrechte

Im politischen Brennpunkt steht heute zweifellos die Reform der Volksrechte,
weshalb ich mich nun darauf konzentriere. Unser System der Volksrechte ist oft
kritisiert worden, teils im Zusammenhang mit bestimmten Volksabstimmungen der
letzten Jahre, teils im Zusammenhang mit rückwirkenden oder
völkerrechtswidrigen Volksinitiativen. Denken Sie an die
Rothenthurm-Initiative, die Waffenplatz-Initiative oder die F/A 18-Initiative
oder auch an eine der jüngeren Asylinitiativen. Gerade auch von ökonomischer
Seite werden die Volksrechte in ihrer heutigen Gestalt grundlegend in Frage
gestellt, ja manchmal fast verketzert. Interessanterweise sind aber auch
Stimmen zu vernehmen, die den direkt-demokratischen Institutionen
volkswirtschaftlich gesehen eine recht hohe Effizienz attestieren. Dennoch: Der
Reformbedarf ist offensichtlich und wird in den politisch interessierten
Kreisen weithin anerkannt. Das ist weiter nicht erstaunlich: Unsere Volksrechte
stammen im wesentlichen aus dem letzten Jahrhundert; sie sind auf die damaligen
Bedürfnisse zugeschnitten. In zentralen Punkten werden sie den heutigen
Anforderungen an einen modernen und handlungsfähigen Staat nicht mehr gerecht.

Unser Land ist geprägt von der direkten Demokratie. Wir sind zurecht stolz auf
unsere demokratischen Mitwirkungsrechte. Die Volksrechte haben den Sinn, die
wichtigen politischen Entscheide durch die Stimmbürger treffen zu lassen.
Dieser Urgrund der Volksrechte kommt heute - nüchtern betrachtet - leider zum
Teil nicht mehr zur Geltung. Wir stimmen zuviel ab, wir stimmen nicht immer
über das Wichtige ab. Das hat mit dem Wandel der Zeiten zu tun: im letzten
Jahrhundert gab es keine Kernkraftwerke, Nationalstrassen oder miliardenschwere
Flugzeugbeschaffungen. Es bestand deshalb auch kein Bedürfnis nach einem
Finanz- oder Verwaltungsreferendum. Heute fordern viele Bürgerinnen und Bürger
hier zurecht eine konkrete Mitsprache. Im letzten Jahrhundert betraf die
Aussenpolitik fast ausschliesslich die Beziehungen zwischen den Staaten. Heute
betrifft die Aussenpolitik direkt unsere Bürgerinnen und Bürger, weil sehr viel
Recht, das wir setzen, durch internationale Verträge bedingt ist. Unsere
Volksrechte tragen dem aber nicht genügend Rechnung. So hatte unser Volk zur
Rassismuskonvention nichts zu sagen, wohl aber zu einem dadurch bedingten neuen
Artikel im Strafgesetzbuch. Und es wäre wohl auch besser gewesen, wenn unser
Volk bereits zum Alpentransitvertrag mit der EU (zwei Tunnelverpflichtung)
etwas zu sagen gehabt hätte. Unser Recht sieht das aber nicht vor.

Es liegt deshalb im Sinne einer Substanzerneuerung unserer direkten Demokratie,
wenn wir das Staatsvertragsreferendum ausdehnen, dafür aber die notwendige
Anpassung der nationalen Gesetzgebung vom Referendum ausnehmen.

Und schliesslich können wir die Augen auch nicht davor verschliessen, dass es
im letzten Jahrhundert 10% der Stimmberechtigten brauchte, um eine
Volksinitiative einzureichen; heute sind es, nach Bevölkerungsvermehrung,
Einführung des Frauenstimmrechts und des Stimmrechts 18, noch 2,2%. Das hat
denn auch dazu geführt, dass sich in den letzten 20 Jahren der Rhythmus von
Initiativ- und Referendumsabstimmungen fast verdreifacht hat. Viele Stimmbürger
fühlen sich heute von der Kadenz der Volksabstimmungen überfordert und
gelegentlich auch missbraucht, da bestimmte Kreise die Volksinitiative
lediglich als Versuchskaninchen benutzen, um politische Stimmung zu machen. Es
ist meines Erachtens ein Gebot der Verhältnismässigkeit, dass sich Referenden
und Volksinitiativen auf ein angemessen breites Interesse in der Bevölkerung
stützen können. Angesichts von 4,6 Millionen Stimmbürgerinnen und -bürgern sind
200000 Unterschriften für die Verfassungsinitiative und 100000 Unterschriften
für das Referendum wirklich nicht prohibitiv. Wir präsentieren im Bereich der
Volksrechte ein in sich gut ausgewogenes Paket von Erweiterungen,
Verfeinerungen und Erschwerungen mit dem Ziel, unsere direkte Demokratie auch
in Zukunft funktionsfähig zu erhalten.

Einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit unseres
politischen Systems verspreche ich mir insbesondere von der Einführung der
allgemeinen Volksinitiative. Aufgrund der geringeren Unterschriftenzahl
(100'000) stellt dieses neuartige Instrument eine attraktive Alternative zur
weiterbestehenden (formulierten) Verfassungsinitiative dar. Die allgemeinen
Volksinitiative vereinigt Elemente der Gesetzesinitiative und des
nachträglichen Gesetzesreferendums in sich. Sie ermöglicht es in der Regel,
politische Anliegen auf der dafür angemesseneren Gesetzesstufe zu thematisieren
und rascher zu realisieren, nämlich ohne den zeitraubenden "Umweg" über eine
Verfassungsänderung.

Die Reform der Volksrechte ist von grösster politischer Sensibilität. Sie ist
politisch nur möglich und sinnvoll im Rahmen einer Paketlösung, bei der
Erweiterungen, Verfeinerungen und Erschwerungen der Volksrechte abgewogen und
miteinander verbunden werden. Mit punktuellen Aenderungen lässt sich dieses
neue Gleichgewicht gerade nicht herstellen, weil Partialrevisionen fast
notwendigerweise einseitig erschweren oder einseitig ausbauen. Die
Verfassungsrevision erweist sich deshalb als idealer Rahmen für die
Volksrechtsreform.

6)	Schlussbemerkung

Ich komme zum Schluss.

Wir arbeiten nun seit 30 Jahren an der Totalrevision der Bundesverfassung. Nun
ist es Zeit zum Handeln. Dies kann uns aber nur gelingen, wenn wir die
Zukunftsgestaltung zielbewusst, aber realistisch und politisch klug angehen.
Das bedeutet vor allem, dass wir nicht alles auf einmal wollen. Es braucht ein
Vorgehen in überblickbaren Schritten.

Eine Verfassungsreform beruht auf der Einsicht in die Notwendigkeit einer
Veränderung. Es gibt in unserm Land Kräfte, die verteidigen ängstlich das
Bestehende wie auch Kräfte, die den mutigen Aufbruch zu neuen Ufern, zu Utopien
fordern. Beides bringt uns nicht weiter. Das Ziel der Verfassungsreform besteht
aus meiner Sicht darin, den sichtbaren Funktionsverlust unserer Verfassung wie
auch den Verlust an Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit unserer
demokratischen Institutionen abzubauen und mit geeigneten, realistischen
Vorschlägen einen Weg in die Zukunft unseres Staates zu weisen: eine, wie ich
meine, grosse Herausforderung!

Eine Verfassungsreform, die gelingen will, setzt voraus, dass sie in enger
Tuchfühlung mit dem Volk geschieht. Deshalb sind auch Sie aufgefordert, sich an
dieser Diskussion über die Zukunft unseres Staates zu beteiligen. Denn wäre es
nicht erfreulich, wenn es im Jubiläumsjahr 1998 "150 Jahre Bundesstaat"
gelänge, nicht nur Rückschau zu halten, sondern mit Blick nach vorn den
Gesellschaftsvertrag, der unser Volk zusammenhält, zu erneuern und unsere
direkte Demokratie wieder in eine Form zu bringen, von der wir überzeugt sind,
dass sie Zukunft hat und weiterhin unser berechtigter Stolz sein wird. Denn der
englische Philosoph E. Burke sagte zu Recht: "Ein Staat, dem es an allen
Mitteln zu einer Veränderung fehlt, entbehrt die Mittel zu seiner Erhaltung."